Leitsatz (amtlich)
Die Ermächtigung zur Rücknahme "rechtskräftiger Bescheide" (SVA 11 Nr 26) ist nicht auf die Fälle der SVD 27 § 14 Abs 2 ("Übergangsfälle") beschränkt; sie erstreckt sich auch auf Bescheide, die nach SVD 27 § 14 Abs 1 "auf Antrag") ergangen sind (Fortführung BSG 1956-09-04 10 RV 70/54 - BSGE 3, 251-263).
Normenkette
SVAnO 11 Nr. 26; SVD 27 § 14 Abs. 1-2
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. Januar 1958 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger erhielt durch Bescheid vom 4. August 1948 nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 wegen "Zustand nach Schußverletzung der Bauchorgane und Narben am linken Arm nach Granatsplitterverletzung" Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v. H.. Im Mai 1950 beantragte er Erhöhung der Rente wegen Verschlimmerung der Bauchbeschwerden. Die Landesversicherungsanstalt Westfalen - Rentenabteilung Münster - zog weitere ärztliche Unterlagen bei und erließ am 15. Januar 1951 einen Bescheid, in dem sie den Bescheid vom 4. August 1948 nach der Ziff. 26 der Sozialversicherungsanordnung (SVA) Nr. 11 aufhob und das Schädigungsleiden nunmehr mit "Stecksplitter am Damm, Zustand nach Bauchoperation wegen Splitterverletzung, Narben am linken Arm nach Granatsplitterverletzung" bezeichnete, die MdE. "nunmehr" mit weniger als 30 v. H. bewertete und die Rente nach § 6 der SVD Nr. 27 in Verbindung mit § 610 der Reichsversicherungsordnung (RVO) mit Ende Februar 1951 entzog. Den Einspruch des Klägers wies der Beschwerdeausschuß am 25. Oktober 1952 zurück, die Berufung (alten Rechts) ging als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Münster über. Das SG. hob durch Urteil vom 15. März 1954 die Bescheide vom 15. Januar 1951/25. Oktober 1952 auf und verurteilte den Beklagten, wegen der in dem Bescheid vom 4. August 1948 anerkannten Schädigungsfolgen weiterhin Rente nach einer MdE. um 30 v. H. zu gewähren: die Ziff. 26 der SVA Nr. 11 sei nach Inkrafttreten des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht mehr anwendbar. Die Berufung des Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 8. Januar 1958 zurück: Der Bescheid vom 15. Januar 1951 sei rechtswidrig; Ziff. 26 der SVA Nr. 11 habe bei Erlaß dieses Bescheides nicht mehr gegolten; diese Vorschrift dürfe auch nur angewandt werden, wenn der zu "berichtigende" Verwaltungsakt nach § 14 Abs. 2 der SVD Nr. 27 ergangen sei, also ohne neuen Antrag unter Übernahme der früheren Entscheidung über den ursächlichen Zusammenhang; im vorliegenden Falle sei der Bescheid vom 4. August 1948 auf den Versorgungsantrag hin ergangen, den der Kläger erstmals nach § 14 Abs. 1 der SVD Nr. 27 gestellt habe, der Kläger sei auch vor Erlaß des Bescheids versorgungsärztlich untersucht worden. Der Bescheid vom 15. Januar 1951 könne auch nicht auf Vorschriften des BVG gestützt werden; sowohl § 62 BVG als auch § 86 Abs. 3 BVG seien nur anwendbar, wenn vorher ein Bescheid über Leistungen nach dem BVG ergangen sei, dies sei hier nicht der Fall. Die Revision ließ das LSG. zu. Das Urteil wurde dem Beklagten am 8. März 1958 zugestellt.
Am 5. April 1958 legte der Beklagte Revision ein, er beantragte,
das Urteil des LSG. Nordrhein-Westfalen vom 8. Januar 1958 und das Urteil des SG. Münster vom 15. März 1954 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Zur Begründung trug er am 30. April 1958 vor, der Bescheid vom 15. Januar 1951 sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG.) zu Recht auf Ziff. 26 der SVA Nr. 11 gestützt worden, diese Vorschrift sei auch auf Bescheide anzuwenden, die nach § 14 Abs. 1 der SVD Nr. 27 ergangen seien; auch die sachlich-rechtlichen Vorschriften für die Anwendung dieser Vorschrift seien gegeben.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden und damit zulässig; sie ist auch begründet.
Der angefochtene Bescheid vom 15. Januar 1951 ist nach dem Inkrafttreten des BVG erlassen worden; durch diesen Bescheid ist der Bescheid vom 4. August 1948, der nach der SVD Nr. 27 ergangen ist, zurückgenommen worden. Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat (BSG. 7 S. 8 ff. (13, 14)), ist die Ziff. 26 der SVA Nr. 11 gemäß § 84 Abs. 3 BVG auch nach dem Inkrafttreten des BVG noch in Kraft gewesen, sie ist nicht durch die Nr. 2 der SVD Nr. 31 vom 22. Dezember 1950 "widerrufen" worden, sie ist erst am 31. Dezember 1952 außer Kraft getreten (vgl. auch BSG. 8 S. 11 ff.; 10 S. 72 ff.); bei Erlaß des Bescheides vom 15. Januar 1951 hat sonach die Ziff. 26 der SVA Nr. 11 noch gegolten. Das BSG. hat auch bereits entschieden (BSG. 3 S. 251 ff.), daß nach dieser Vorschrift nicht nur solche Bescheide haben zurückgenommen werden dürfen, die nach dem Recht erlassen worden sind, das vor der SVD Nr. 27 gegolten hat, sondern auch Bescheide, die - wie im vorliegenden Fall der Bescheid vom 4. August 1948 - während der zeitlichen Geltung der SVD Nr. 27 ergangen sind. Nicht ausdrücklich entschieden hat das BSG. bisher die Frage, ob nach Ziff. 26 der SVA Nr. 11 nur solche Bescheide rücknehmbar gewesen sind, in denen - wie im Fall BSG. 3 S. 251 ff. - die Leistungen nach der SVD Nr. 27 ohne Antrag gewährt worden sind, weil "bereits nach früheren Gesetzen und Verordnungen über Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene Entscheidungen getroffen worden sind" (§ 14 Abs. 2 der SVD Nr. 27), oder ob diese Ermächtigung auch dann gilt, wenn - wie im vorliegenden Falle - die Leistungen nach der SVD Nr. 27 "auf Antrag" (§ 14 Abs. 1 der SVD Nr. 27) bewilligt worden sind und der Bewilligung eine versorgungsärztliche Untersuchung vorausgegangen ist. Die Ermächtigung, die in Ziff. 26 der SVA Nr. 11 den mit der Durchführung der Versorgung beauftragten Stellen erteilt worden ist, ist weder nach ihrem Wortlaut noch nach ihrem Sinn auf die Fälle des § 14 Abs. 2 der SVD Nr. 27 beschränkt; Ziff. 26 der SVA Nr. 11 spricht vorbehaltlos von der Aufhebung "rechtskräftiger Bescheide"; solche Bescheide sind auch Bescheide, die nach § 14 Abs. 1 der SVD Nr. 27 ergangen und rechtsverbindlich geworden sind. Auch aus der Überschrift des Abschnittes VIII der SVA Nr. 11 "Gültigkeit der Entscheidungen nach früherem Recht" und dem Untertitel "zu § 14 Abs. 2 der Direktive" ist nicht zu folgern, daß die Ermächtigung sich nicht auch auf Fälle nach § 14 Abs. 1 der SVD Nr. 27 erstrecken soll. Schon in dem Urteil BSG. 3 S. 251 ff. ist ausgeführt (S. 260/261), daß die Gesetze und Verordnungen, die kurz nach dem Zusammenbruch erlassen worden sind, oft erhebliche Mängel im Aufbau und in der sprachlichen Formulierung enthalten haben und daß deshalb aus den Überschriften allein keine zwingenden Rückschlüsse auf den Inhalt der unter diesen Überschriften zusammengefaßten Vorschriften gezogen werden können. Dies gilt auch für die hier zu entscheidende Frage. Auch nach dem Sinn der Ziff. 26 der SVA Nr. 11 ist nicht anzunehmen, daß die Ermächtigung nur auf die Fälle nach § 14 Abs. 2 der SVD Nr. 27 hat beschränkt werden sollen. Sinn dieser Vorschrift ist es, zu verhindern, daß aus öffentlichen Mitteln Leistungen jedenfalls für die Zukunft weiterhin erbracht werden, obwohl nach ihrer Bewilligung festgestellt worden ist, daß die Voraussetzungen für die Bewilligung der Leistungen nicht vorgelegen haben oder daß nur die Voraussetzungen für niedrigere Leistungen vorliegen; der Bescheid, mit dem Leistungen bewilligt worden sind, soll deshalb jedenfalls insoweit ganz oder teilweise zurückgenommen werden dürfen, als sich seine Wirkung auf die Zukunft bezieht; dies entspricht auch den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts (BSG. 10 S. 74/75). Dieser Grundgedanke hat zu gelten ohne Rücksicht darauf, ob die Leistungen auf Antrag oder ohne einen solchen (wie in den "Übergangsfällen") gewährt worden sind; auch nach Art. 30 Abs. 4 des Bayerischen Gesetzes über Leistungen an Körperbeschädigte und nach den gleichlautenden Vorschriften in den übrigen Ländern der amerikanischen Besatzungszone, denen die Ziff. 26 der SVA Nr. 11 im Wortlaut entspricht, ist die Rücknahme eines Bescheides "zu Ungunsten" des Berechtigten möglich gewesen, wenn die Voraussetzungen der Bescheiderteilung sich als unzutreffend erwiesen haben; es ist nicht darauf angekommen, ob die Leistungen auf Antrag oder (in den "Übergangsfällen") ohne einen solchen gewährt worden sind. Es ist auch nicht entscheidend, ob der Bescheid, der zurückgenommen werden soll, nach einer versorgungsärztlichen Untersuchung oder ohne eine solche ergangen ist; die Ziff. 26 der SVA Nr. 11 macht insoweit keinen Unterschied; die vorherige Untersuchung kann nur insofern von Bedeutung sein, als die Versorgungsverwaltung für die Rechtmäßigkeit des "Rücknahmebescheides" nach Ziff. 26 der SVA Nr. 11 nachweisen muß, daß der Sachverhalt bei der Erteilung des Bewilligungsbescheides in medizinischer Hinsicht unrichtig beurteilt worden ist und daß es zu Lasten der Versorgungsverwaltung geht, wenn dieser Nachweis nicht zu erbringen ist.
Das LSG. ist sonach, ebenso wie das SG., zu Unrecht davon ausgegangen, daß der angefochtene Bescheid vom 15. Januar 1951 schon deshalb rechtswidrig sei, weil es an einer Rechtsgrundlage für diesen Bescheid gefehlt habe. Das Urteil des LSG. beruht darauf, daß es die Ziff. 26 der SVA Nr. 22, die revisibel (§ 164 Abs. 2 SGG) ist, nicht für anwendbar gehalten hat; das Urteil des LSG. ist daher aufzuheben. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden; das LSG. hat nicht die Tatsachen festgestellt, aus denen sich ergibt, ob der Bescheid vom 15. Januar 1951 sachlich richtig ist; die Sache ist daher zu neuer Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen