Orientierungssatz

Rücknahmebescheid - anzuwendende Rechtsnorm - rechtswidriger Zuungunstenbescheid: 1. Ein Rücknahmebescheid ist als Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung nach dem im Zeitpunkt seines Erlasses geltenden Recht zu beurteilen. Die Rücknahme der Leistungsbescheide war daher nur auf Grund des Art 30 Abs 4 KBLG BY möglich, der nach § 84 Abs 3 BVG bis zum Inkrafttreten des KOVVfG fortgalt (vgl BSG 1958-02-12 11/9 RV 948/55 = BSGE 7, 8).

2. Da Art 30 Abs 4 KBLG BY eine Ausnahmevorschrift war, ist sie einschränkend auszulegen und aus diesem Grunde nur anzuwenden, wenn die Anwendung von Rechtsnormen auf die festgestellten Tatsachen zZt der Bescheiderteilung offenbar und ohne jeden Zweifel unzutreffend war (vgl BSG 1955-06-10 10 RV 20/54 = BSGE 1, 56).

3. Lagen aber die Voraussetzungen eines Zuungunstenbescheides nach Art 30 Abs 4 KBLG BY nicht vor, so ist dieser rechtswidrig und unterliegt deshalb der Aufhebung.

 

Normenkette

KBLG BY Art. 30 Abs. 4; BVG § 3 Abs. 1 Buchst. g; KOVVfG §§ 41, 52; BVG § 89 Abs. 3

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 06.12.1955)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. Dezember 1955 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der 1878 geborene und während des Revisionsverfahrens verstorbene Kläger, dessen Ehefrau seinen Rechtsstreit fortführt, wurde vom Arbeitsamt M... als Zivilangestellter zum Wehrbezirkskommando M... vermittelt, dort am 1. Oktober 1937 eingestellt, am 30. Januar 1938 zur Wehrersatzinspektion M... versetzt und am 1. Februar 1938 dem Pferdevormusterungsoffizier in L... zugeteilt. In dessen Referat war er bis zum Kriegsende tätig und erhielt Vergütung nach TOA VI b.

Am 30. November 1948 beantragte der Kläger Versorgung mit der Begründung, sein Sehvermögen auf dem rechten Auge habe sich während dieser Dienstzeit durch ständige Überanstrengung stark vermindert. Der Beklagte erkannte durch Bescheid vom 1. Dezember 1949 nach dem Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (BKBLG) Sehverschlechterung rechts im Sinne der Verschlimmerung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vom Hundert als Leistungsgrund an und gewährte dem Kläger die entsprechende Rente. Leistungsgrund und MdE wurden im Umanerkennungsbescheid vom 22. Januar 1951 übernommen. Auf die Berufung des Klägers gegen diesen Bescheid, mit der er eine höhere Bewertung seiner MdE begehrte, verurteilte das Oberversicherungsamt (OVA) L... den Beklagten am 25. Oktober 1951, dem Kläger ab 1. Dezember 1949 Rente nach einer MdE um 50 vom Hundert zu gewähren. Das OVA führte aus, es habe nicht über die Frage des militärischen oder militärähnlichen Dienstes zu entscheiden gehabt, da nur der Grad der MdE im Streit gewesen sei. Das Urteil wurde rechtskräftig.

Am 11. Dezember 1951 hob das Versorgungsamt durch Bescheid nach § 84 Abs. 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und Art. 30 Abs. 4 BKBLG die Bescheide vom 1. Dezember 1949 und 22. Januar 1951 auf und ordnete den Wegfall der Rente ab 1. Februar 1952 an. Der Kläger sei nicht Mitglied der Pferdebeschaffungskommission, sondern nur als Zivilangestellter bei der Wehrmacht kanzleimäßig beschäftigt gewesen, weshalb seine Tätigkeit keinen Versorgungsschutz genieße. Die Berufung des Klägers gegen diesen Bescheid blieb erfolglos. Das OVA hielt im Urteil vom 26. Februar 1953 den Bescheid vom 11. Dezember 1951 nach Art. 30 Abs. 4 BKBLG für gerechtfertigt, da die Frage des militärischen oder militärähnlichen Dienstes nicht Gegenstand seines Urteils vom 25. Oktober 1951 gewesen und von der Versorgungsverwaltung im Erstbescheid zweifellos unrichtig beurteilt worden sei.

Auf den Rekurs des Klägers, der als Berufung nach dem Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf das Landessozialgericht (LSG) überging, hob das LSG das Urteil des OVA vom 26. Februar 1953 und den angefochtenen Bescheid auf und ließ die Revision zu. Es stellte fest, dem Kläger habe die interne Leitung der Dienststelle der Pferdebeschaffungskommission und die technische Einleitung der von 1939 bis 1945 durchzuführenden Pferdeaushebungen oblegen; er sei zwar nicht Mitglied der Pferdebeschaffungskommission, sondern nur Zivilangestellter der Wehrmacht gewesen. Die Versorgungsverwaltung habe sich jedoch bei Erlaß der Bescheide vom 1. Dezember 1949 und 22. Januar 1951 von einer falschen Vorstellung über Stellung und Funktion des Klägers bei der Pferdebeschaffungskommission leiten lassen. Seien aber derartige unrichtige Vorstellungen bei Erlaß des KB-Leistungs- und des Umanerkennungsbescheides möglich gewesen, so habe es an der zwingenden Voraussetzung für den Erlaß eines Rücknahmebescheides gefehlt, daß die Anwendung einer Rechtsnorm auf eine angenommene Tatsache zur Zeit der Bescheiderteilung offensichtlich und ohne jeden Zweifel unzutreffend gewesen sein müsse.

Mit der Revision rügt der Beklagte die Verletzung der §§ 3 Abs. 1 Buchst. g BVG, 41 und 52 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) sowie des Art. 30 Abs. 4 BKBLG. Er ist der Auffassung, das LSG sei zu Unrecht nicht in eine Prüfung der Voraussetzungen des § 41 VerwVG eingetreten. Diese Vorschrift sei nach § 52 VerwVG rückwirkend auf alle noch nicht rechtskräftig entschiedenen Fälle anzuwenden. Entgegen dem Wortlaut der Bestimmung genüge für den Erlaß eines Zuungunstenbescheides die tatsächliche "oder" rechtliche Unrichtigkeit des zu berichtigenden Bescheides. Wenn die Versorgungsverwaltung bei Bescheiderteilung in Anwendung des § 3 Abs. 1 Buchst. g BVG militärähnlichen Dienst des Klägers angenommen habe, so liege ein offenbarer Verstoß gegen den klaren Wortlaut einer gesetzlichen Bestimmung vor, wie er in BSG 1, 56 für die Erteilung eines Berichtigungsbescheides verlangt werde. Auch das Urteil des OVA vom 25. Oktober 1951 habe dem Zuungunstenbescheid nicht entgegengestanden, da es sich nur mit der Höhe der MdE, nicht aber mit der Anspruchsgrundlage befaßt habe. Die Anwendung des Art. 30 Abs. 4 BKBLG führe zum gleichen Ergebnis wie die des § 41 VerwVG, denn auch hier genüge es, wenn sich die rechtlichen oder tatsächlichen Voraussetzungen des Bescheides als unzutreffend erwiesen hätten. Irrig sei es, den Erlaß eines Zuungunstenbescheides mit dem LSG schon auszuschließen, wenn es möglich oder denkbar sei, daß bei der Versorgungsbehörde falsche Vorstellungen über Stellung und Funktion des Klägers aufkamen, denn unter dieser Voraussetzung wäre der Erlaß eines Berichtigungsbescheides stets ausgeschlossen. Der Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des OVA vom 26. Februar 1953 zurückzuweisen.

Die Ehefrau des am 22. September 1960 verstorbenen Klägers ist kraft Gesetzes als Miterbin zu 1/2 berufen. Sie hat den Rechtsstreit aufgenommen und beantragt,

die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Hilfsantrag wurde damit begründet, daß das LSG nicht geprüft habe, ob der Einsatz des Klägers nicht mit besonderen Gefahren im Sinne des § 3 Abs. 2 BVG verbunden war.

Die durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Revision ist zulässig, sachlich jedoch unbegründet.

Der angefochtene Rücknahmebescheid (Zuungunstenbescheid) vom 11. Dezember 1951 ist rechtswidrig. Dem Erlaß dieses Bescheides stand zwar die Rechtskraft des OVA-Urteils vom 25. Oktober 1951 nicht entgegen, weil darin mit Rücksicht auf die Bindung der Versorgungsverwaltung an den den Kläger begünstigenden Umanerkennungsbescheid nur über die Höhe der MdE entschieden worden war. Streitgegenstand im Sinne des § 141 Abs. 1 SGG war nicht der Grund, sondern nur die Höhe der Versorgungsrente. Indes fehlten die Voraussetzungen für den Erlaß eines Rücknahmebescheides. Als Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung ist er nach dem im Zeitpunkt seines Erlasses geltenden Recht zu beurteilen (BSG 7, 8). Deshalb ist er von der Versorgungsverwaltung an sich zutreffend auf § 84 Abs. 3 BVG und Art. 30 Abs. 4 BKBLG gestützt worden. Entgegen der Auffassung des Beklagten erfaßt § 41 VerwVG den vorliegenden Fall nicht (BSG 6, 288). Bei Erlaß des Bescheides vom 11. Dezember 1951 war die Rücknahme der Leistungsbescheide des Beklagten daher nur auf Grund des Art. 30 Abs. 4 BKBLG möglich, der nach § 84 Abs. 3 BVG bis zum Inkrafttreten des VerwVG fortgalt.

Eine Berichtigung nach Art. 30 Abs. 4 BKBLG war aber nur möglich, wenn sich die Voraussetzungen der Bescheiderteilung als unzutreffend erwiesen. Art. 30 Abs. 4 BKBLG war eine Ausnahmevorschrift zum Recht der Unfallversicherung, das nach Art. 1 Abs. 1 BKBLG und § 84 Abs. 3 BVG bis zum Inkrafttreten des VerwVG für das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung galt. Sie ist deshalb einschränkend auszulegen und aus diesem Grunde nur anzuwenden, wenn die Anwendung von Rechtsnormen auf die festgestellten Tatsachen z.Zt. der Bescheiderteilung offenbar und ohne jeden Zweifel unzutreffend war (BSG 1, 56, 60). Es kommt also auf das Verhältnis des strittigen Bescheides zu der im Zeitpunkt seines Erlasses bestehenden Rechtslage an. Nur wenn der Bescheid sich danach als offenbar und ohne jeden Zweifel unzutreffend erweist, durfte er nach Art. 30 Abs. 4 BKBLG zum Nachteil des Versorgungsberechtigten abgeändert werden.

Diesen Anforderungen genügt der Rücknahmebescheid vom 11. Dezember. 1951 nicht. Die Leistungsbescheide des Beklagten vom 1. Dezember 1949 und 22. Januar 1951 gingen davon aus, daß der Kläger zu dem durch § 4 Abs. 1 Buchst. f der DurchfVO zum BKBLG (Bay.GVBl. 1949 S. 113) und § 3 Abs. 1 Buchst. g BVG geschützten Personenkreis gehöre. Das war zwar insofern unzutreffend, als der Kläger nicht zu den aus Nr. 30 der Pferdeergänzungsvorschrift vom 13. August 1938 in Verbindung mit der Kriegsstärkenachweisung für die Pferdebeschaffungskommission des Wehrbezirkskommandos (BSG 10, 4, 5) ersichtlichen Mitgliedern der Pferdebeschaffungskommission zählte. Er hatte dies übrigens auch niemals behauptet, sondern 1948 nur angegeben, er sei vom Arbeitsamt als Zivilangestellter zum Wehrbezirkskommando verpflichtet, schließlich zur Wehrersatzinspektion versetzt und dort dem Pferdevormusterungsoffizier zugeteilt worden, dessen Referat er wegen der ständigen auswärtigen Beschäftigung des Offiziers selbständig geführt habe. Außer sämtlichen Offiziersarbeiten seien ihm die gesamte Pferdevormusterung und Pferdeaushebung des Landkreises L... sowie die Rückführung unbrauchbarer Pferde und deren Verwertung anvertraut gewesen. Wenn die Versorgungsverwaltung in Kenntnis dieser bis heute unwiderlegten Tatsachen den Kläger gleichwohl wie ein Mitglied der Pferdevormusterungskommission behandelte, so liegt es nahe, dies darauf zurückzuführen, daß sie den Kläger jedenfalls de facto als Vertreter des Pferdevormusterungsoffiziers ansah und ihn deshalb versorgungsrechtlich ebenso behandeln zu müssen glaubte wie den Vertretenen. Diese Rechtsauffassung kann aber nicht als offenbar und ohne jeden Zweifel unzutreffend bezeichnet werden. Dies muß umso mehr gelten, als es sich bei dem Leiden des Klägers nicht um ein auf äußerer Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes und somit einen Unfall darstellendes Ereignis (vgl. BSG 8, 270) und auch nicht um eine Berufskrankheit im Sinne der Unfallversicherung handelte, so daß der Schutz der Wehrmachtsangestellten durch die Unfallversicherung, der für die Beschränkung des Versorgungsschutzes auf die Mitglieder der Pferdebeschaffungskommissionen als maßgebend zu erachten ist (vgl. BSG 10, 4, 7), hier versagen würde. Ob unter diesen Umständen nicht eine Einbeziehung des Klägers in den versorgungsrechtlich geschützten Personenkreis durch entsprechende Anwendung des § 4 Abs. 1 Buchst. f der DurchfVO zum BKBLG und des § 3 Abs. 1 Buchst. g BVG geboten war, ist durchaus zweifelhaft. Auch der 11. Senat des BSG, der ausgesprochen hat, ein Zivilangestellter der Wehrmacht, der einem Pferdevormusterungsoffizier als Schreiber zugeteilt gewesen sei, gehöre regelmäßig nicht zu den Mitgliedern der Pferdebeschaffungskommission, behielt sich vor, möglicherweise anders zu entscheiden, wenn im Kriege auf Grund eines besonderen militärischen Befehls und abweichend von den Organisationsvorschriften der Pferdeergänzungsverordnung - z.B. wegen Personalmangels - der Schreiber eines Pferdevormusterungsoffiziers eine Tätigkeit als "Unterpersonal" im Sinne der Pferdeergänzungsvorschrift, also als Mitglied der Pferdebeschaffungskommission ausgeübt hat (BSG 10, 4, 6).

Die im vorliegenden Fall zweifelhafte Frage, ob der Kläger, der zwar nicht Mitglied einer Pferdebeschaffungskommission war, wegen der im vorliegenden Fall gegebenen besonderen Umstände aber versorgungsrechtlich wie ein Mitglied dieser Kommission zu behandeln war, bedarf indes keiner Entscheidung. Denn allein diese Zweifel schließen es schon aus, die Leistungsbescheide des Beklagten als zur Zeit ihres Erlasses "offenbar und ohne jeden Zweifel unzutreffend" im Sinne der Rechtsprechung des BSG zu Art. 30 Abs. 4 BKBLG anzusehen. Lagen aber die Voraussetzungen eines Zuungunstenbescheides nach Art. 30 Abs. 4 BKBLG nicht vor, so ist dieser rechtswidrig und unterliegt deshalb der Aufhebung. Das Urteil des LSG erweist sich somit im Ergebnis als frei von Rechtsirrtum. Die Revision ist hiernach unbegründet und mußte gemäß § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2336630

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