Leitsatz (amtlich)

Ein Erfahrungssatz des Inhalts, daß ein Oberschenkelamputierter trotz ordnungsmäßiger prothetischer Versorgung, Gewöhnung und Anpassung und Fehlen sonstiger Leiden invalide ist, falls kein besonderer Ausnahmefall vorliegt, besteht nicht. Es ist vielmehr im einzelnen zu prüfen, ob die Voraussetzungen des RVO § 1254 bei dem Versicherten gegeben sind.

 

Normenkette

RVO § 1254 Fassung: 1949-06-17

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 29. April 1954 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen insoweit aufgehoben, als über den Anspruch des Klägers für die Zeit vom 1. Januar 1953 ab entschieden ist.

Insoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der 1916 geborene und von 1933 bis 1936 freiwillig bei der Beklagten versicherte Kläger - von Beruf Landwirt und heute noch in seinem Geburtsort ... ansässig - hat als Folge einer Kriegsverletzung das rechte Bein im oberen Drittel des Oberschenkels verloren; er bezieht wegen dieser Beschädigung eine Versorgungsrente in Höhe von 70 v.H. EV. Der Kläger hat seit seiner Verwundung nur vom November 1946 bis Ende Juni 1948 in einer ortsansässigen Holzschnitzerei gearbeitet, die ihren Betrieb mit der Währungsreform einstellte. Seine Tätigkeit bestand ausschließlich im Beizen und Verpacken der Schnitzereien.

Der im April 1951 vom Kläger gestellte Antrag auf Gewährung von Invalidenrente wurde von der Beklagten abgelehnt, weil der Kläger noch die erforderliche "Lohnhälfte" verdienen könne. Auf die gegen diesen Bescheid eingelegte Berufung sprach das Oberversicherungsamt ... dem Kläger die Invalidenrente antragsgemäß zu, wobei es die Auffassung vertrat, daß der Kläger als Oberschenkelamputierter nicht in der Lage sei, noch das ortsübliche Lohndrittel zu verdienen, da er über keine besonderen, ihn zu einer nicht vorwiegend körperlichen Arbeit befähigenden Kenntnisse verfüge.

Die von der Beklagten gegen dieses Urteil an das Oberverwaltungsgericht ... eingelegte (weitere) Berufung ging nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Landessozialgericht Schleswig über. Dieses hörte die Ärzte Dr. ... und Dr. ... in der mündlichen Verhandlung. Dr. ... hat bekundet, daß bei dem Kläger außer den Amputationsfolgen keine Beschwerden oder Leiden beständen, der Stumpf reizlos sei und die Prothese gut sitze; er hält den Kläger daher für fähig, mittelschwere Arbeiten im Sitzen - und mit Unterbrechung - auch im Stehen zu verrichten und nimmt "nach ärztlichen Gesichtspunkten" Invalidität nicht an. Dr. ... hat in längeren Ausführungen die Entwicklung der Oberschenkelprothesen seit dem ersten Weltkrieg geschildert und ihre laufende Verbesserung dargestellt; auf seine Ausführungen im einzelnen wird verwiesen.

Das Landessozialgericht hat in seinem Urteil vom 29. April 1954 der Berufung nur insoweit stattgegeben, als es den Beginn der Rentenzahlung erst auf den 1. Januar 1953 festgesetzt hat. Es hat die Revision gegen sein Urteil zugelassen.

Das Landessozialgericht begründet seine Entscheidung im wesentlichen mit folgenden Überlegungen: Die Feststellung des Vorderrichters, daß bei dem Kläger außer dem Oberschenkelverlust keine Erwerbsbeschränkung vorliege, treffe zwar zu, rechtfertige jedoch allein nicht die Annahme, eine Erwerbsverminderung von über zwei Drittel sei auch nach Gewöhnung an den Gliedverlust noch anzunehmen. In Abweichung von der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts, die neben dem Zeitablauf für die Annahme einer die Invalidität ausschließenden Anpassung noch sonstige Hinweise erheblicher Art verlangt habe, sei schon die Tatsache, daß der Versicherte sich nach guter Versorgung mit einem Kunstglied und nach Ablauf einer angemessenen Frist an die veränderten Verhältnisse gewöhnt und sich ihnen angepaßt habe, ausreichend für die Annahme, daß er wieder ein Drittel des ortsüblichen Lohnes verdienen könne. Das Landessozialgericht begründet diese Auffassung mit einem Hinweis auf die Ausführungen des Sachverständigen Dr. ... über die grundlegenden Verbesserungen in der Oberschenkelprothetik, denen es sich anschließt und die nach seiner Auffassung auf dem allgemeinen Arbeitsfeld derartig weite Arbeitsmöglichkeiten eröffnen, daß grundsätzlich die Erwerbsverminderung eines Oberschenkelamputierten auf nur 60 v.H. anzusetzen sei. Andererseits glaubt das Landessozialgericht, für die seines Erachtens ausnahmsweise Annahme, die Arbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsfeld übersteige 50 v.H., den Nachweis besonderer weiterer Tatsachen erfordern zu müssen, wobei es in erster Linie an die tatsächlich längere Zeit andauernde, wirtschaftlich nutzbringende Arbeitsleistung des Versicherten selbst denkt, ohne diese stets allein als maßgeblich ansehen zu wollen.

Unter Anwendung dieser Grundsätze auf den zu entscheidenden Fall nimmt das Landessozialgericht an, der Kläger sei nach Anpassung an die gut sitzende Prothese nicht mehr als zwei Drittel, jedenfalls aber um mehr als die Hälfte, erwerbsvermindert; die Arbeit in der Holzschnitzerei habe lediglich aus rein mechanischen Verrichtungen primitiver Art ohne körperliche Belastung bestanden und könne daher den erforderlichen Beweis für eine höhere Erwerbsfähigkeit nicht erbringen.

Unter Berücksichtigung des § 1 des Zweiten Änderungsgesetzes zum SVAG vom 4. August 1953 hat das Landessozialgericht den Anspruch des Klägers erst vom 1. Januar 1953 ab als berechtigt angesehen.

Gegen dieses Urteil hat nur die Beklagte form- und fristgerecht Revision eingelegt und ihre Revision begründet. Sie rügt die unrichtige Anwendung des § 1254 des Reichsversorgungsgesetzes (RVO); die Verletzung dieser Vorschrift erblickt die Beklagte darin, daß das Landessozialgericht das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen bei dem Kläger in Person und nicht allgemein bei Oberschenkelamputierten habe feststellen müssen. Soweit diese Ausführungen den Prothesenbau beträfen, ließe sich gegen sie zwar kein Vorwurf erheben; doch könne damit die Annahme von Invalidität nicht begründet werden. Alter, Umschulungsmöglichkeit, bisherige Tätigkeit und anderes mehr seien neben der vom Landessozialgericht einzig anerkannten Bewährung durch eigene Arbeitsleistung zu berücksichtigen. Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts ... vom 29. April 1954 und des Oberversicherungsamts ... vom 5. April 1952 die Klage (Berufung) abzuweisen.

Der Kläger beantragt demgegenüber, die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen und die Beklagte zur Erstattung der Kosten des zweiten und dritten Rechtszuges zu verurteilen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und insbesondere den darin aufgestellten Grundsatz, daß im allgemeinen die Erwerbsverminderung eines Beinamputierten 60 v.H. betrage, für "rechtsverbindlich". Die Anwendung dieses Grundsatzes auf den vorliegenden Einzelfall sei in rechtlich nicht zu beanstandender Weise erfolgt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zugelassen und daher statthaft.

Sie ist auch begründet.

Das Landessozialgericht hat nicht genügend beachtet, daß es bei der Feststellung der Voraussetzungen des § 1254 RVO grundsätzlich erforderlich ist, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob diese Voraussetzungen bei dem einzelnen Versicherten vorliegen. Es ist vielmehr von einem allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts ausgegangen, daß Oberschenkelamputierte nach ordnungsmäßiger prothetischer Versorgung, Gewöhnung und Anpassung bei Fehlen sonstiger Leiden, falls kein besonderer Ausnahmefall vorliege, 60 v.H. erwerbsbeschränkt und damit nach der heute maßgebenden Fassung des § 1254 RVO invalide seien.

Es erscheint zwar im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (z.B. AN. 21, 334; EuM. 33, 46; EuM. 47, 366 - vgl. auch Bayer. LVA. Amtsbl. 50, 24; Breith. 48, 64; 52, 1004) zulässig, für bestimmte typische Sachverhalte auch bei der Beurteilung der Frage des Vorliegens von Invalidität Erfahrungssätze aufzustellen; hierbei ist allerdings eine auf bestimmte Hundertsätze abgestellte Bewertung der Invalidenversicherung fremd und daher unzulässig (vgl. Verb. Komm. § 1254 RVO Anm. 32), wie überhaupt nachdrücklich mit dem Reichsversicherungsamt (EuM. 21, 234) vor der Anwendung eines "schablonenhaften Verfahrens" zu warnen ist. Ein derartiger Erfahrungssatz wird sich aber nur aufstellen lassen, wenn von einer zeitlich und sachlich völlig ausreichend gesicherten Erfahrung ausgegangen werden kann, die bei einem dem Inhalt des Satzes entsprechenden typischen Sachverhalt hinsichtlich der Frage der Beurteilung der Invalidität stets zu demselben Ergebnis führen muß. Den von dem Landessozialgericht ohne jede weitere Begründung aufgestellten Erfahrungssatz, Oberschenkelamputierte könnten unter den geschilderten Umständen regelmäßig nicht mehr die Hälfte des Vergleichslohns erwerben, gibt es jedoch nicht, da für derartige Beschädigte die Erwerbsfähigkeit erfahrungsgemäß gerade an dieser kritischen Grenze liegt. Nach der Lage des Einzelfalls wird diese Grenze teils unterschritten, teils überschritten werden. Ob es - wie es das Landessozialgericht ebenfalls angenommen hat - einen entsprechenden Erfahrungssatz des Inhalts gibt, daß Oberschenkelamputierte vor bzw. nach prothetischer Versorgung, Anpassung und Gewöhnung weniger bzw. mehr als zwei Drittel des ortsüblichen Lohnes verdienen können, bedurfte keiner Untersuchung, da das Urteil des Landessozialgerichts, insoweit dieser Erfahrungssatz Bedeutung hat, rechtskräftig geworden ist.

Da das Landessozialgericht unzulässigerweise von einem nicht bestehenden Erfahrungssatz ausgegangen ist, war seine Entscheidung fehlerhaft. Es hätte vielmehr für den Einzelfall Erhebungen anstellen müssen, ob die Voraussetzungen des § 1254 RVO vorliegen. Es kommt bei dieser Feststellung nicht nur auf die Leiden des Versicherten, sondern auch auf seine körperliche und geistige Konstitution und auf sein Alter an. Auch ist zu klären, welche Tätigkeiten ihm unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufes nach den ihm verbliebenen Kräften und Fähigkeiten noch zugemutet werden können, ob es solche Tätigkeiten in dem Wirtschaftsgebiet, in dem er wohnt, gibt, und ob er in der Lage ist, durch eine solche Tätigkeit die Hälfte dessen zu erwerben, was körperlich und geistig gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen.

Das angefochtene Urteil mußte daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden. Der erkennende Senat konnte nicht selbst in der Sache entscheiden, da es an ausreichenden Feststellungen unter Beachtung der angeführten Grundsätze mangelt.

Die Kostenentscheidung ist dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2304676

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