Entscheidungsstichwort (Thema)
MdE-Bewertung bei Oberschenkelamputation
Orientierungssatz
Es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz dahingehend, daß Oberschenkelamputierte nach ordnungsmäßiger prothetischer Versorgung, Gewöhnung und Anpassung bei Fehlen sonstiger Leiden, falls kein besonderer Ausnahmefall vorliegt, regelmäßig zu 60 VH erwerbsbeschränkt sind; vielmehr muß für jeden Einzelfall geprüft werden, ob die Voraussetzungen des RVO § 1254 vorliegen.
Normenkette
RVO § 1254 Fassung: 1949-06-17
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 02.07.1954) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 2. Juli 1954 wird mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen insoweit aufgehoben, als über den Anspruch des Klägers auf Invalidenrente für die Zeit vom 1. Januar 1953 an entschieden ist.
Die Sache wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der 1912 geborene und jetzt in ... wohnhafte Kläger - von Beruf Maler - hat durch Kriegsverletzung das rechte Bein im Oberschenkel verloren. Er bezieht für diese Beschädigung eine Versorgungsrente in Höhe von 70 v. H. EV. Seit der Verletzung hat der Kläger noch keine Lohnarbeit wieder verrichtet; er bearbeitet jedoch seinen 600 qm großen Garten selbst.
Die ihm wegen der Kriegsverletzung seit dem 1. Januar 1945 gewährte Invalidenrente wurde von der Beklagten mit Wirkung vom 1. April 1950 entzogen, weil Invalidität nicht mehr vorliege.
Auf die Berufung des Klägers verurteilte das Oberversicherungsamt ... die Beklagte zur Weiterzahlung der Rente mit der Begründung, der Kläger könne die ortsübliche Lohnhälfte nicht mehr verdienen, sei vielmehr 60 - 70 v. H. erwerbsbeschränkt. Die von der Beklagten gegen dieses Urteil an das Oberverwaltungsgericht ... eingelegte (weitere) Berufung ging nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung an das Landessozialgericht ... über.
Das Landessozialgericht hat in seinem Urteil vom 2. Juli 1954 den Anspruch des Klägers erst vom 1. Januar 1953 ab als berechtigt angesehen und dementsprechend das Urteil des Oberversicherungsamts ... insoweit aufgehoben, als die Berufungsklägerin verurteilt worden ist, dem Berufungsbeklagten die Invalidenrente für die Zeit vom 1. April 1950 bis 31. Dezember 1952 weiter zu gewähren; für diesen Zeitraum stellt das Urteil den Rentenentziehungsbescheid wieder her. Im übrigen weist es die Berufung kostenpflichtig zurück.
Das Landessozialgericht ... bezieht sich in seinen Urteilsgründen zunächst auf die von ihm in ständiger Rechtsprechung entwickelte Auffassung, daß bei Oberschenkelamputierten im Hinblick auf die technische Fortentwicklung des Prothesenbaus und die Verbesserung der chirurgischen Behandlung des Oberschenkelstumpfes in den letzten Jahrzehnten allein wegen des Oberschenkelverlustes nicht mehr angenommen werden könne, daß diese Versehrten nur weniger als ein Drittel des vergleichbaren Lohnes verdienen können. Das Landessozialgericht ist vielmehr der Ansicht, daß mit Rücksicht auf jene weitgehenden Verbesserungen sich diesen Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsfeld weitere Arbeitsmöglichkeiten eröffnet hätten, so daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit des von den Folgen eines Oberschenkelverlustes betroffenen Versicherten auf 60 v. H. einzuschätzen sei unter der Voraussetzung, daß die Stumpfverhältnisse das Tragen einer gut sitzenden Prothese ermöglichen und der Versicherte nicht durch weitere Körperschäden in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt wird. Das Landessozialgericht hält allerdings auch an seiner Rechtsprechung fest, daß für die Annahme, die Erwerbsminderung eines solchen Beschädigten betrage weniger als die Hälfte derjenigen eines Normalversicherten, neben der Anpassung und Gewöhnung an das künstliche Glied noch weitere, die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu seinen Gunsten beeinflussende Tatsachen nachzuweisen seien; dies werde nur in besonderen Ausnahmefällen möglich sein, weil auch bei höchster Anpassung der beinamputierte Versicherte nach Ansicht des Landessozialgerichts von der Grenze der Invalidität nach § 1254 RVO n. F. erheblich entfernt bleibt. Als Ausnahmefall könne jedoch eine tatsächliche, länger dauernde, wirtschaftlich nutzbringende Arbeitsleistung angesehen werden.
Unter Anwendung dieser Grundsätze auf den zu entscheidenden Fall stellt das Landessozialgericht fest, daß nach den vorwiegenden ärztlichen Gutachten keine, die Erwerbsfähigkeit des Klägers über den Beinverlust hinausgehende Gesundheitsschädigung anzunehmen sei, daß dementsprechend die ursprünglich zwei Drittel übersteigende Erwerbsminderung des Klägers nach Anpassung an die gut sitzende Prothese unter die Grenze von zwei Drittel gesunken sei, aber stets mehr als die Hälfte betragen habe.
Das Landessozialgericht hat die Revision gegen sein Urteil zugelassen.
Gegen dieses Urteil hat nur die Beklagte frist- und formgerecht Revision eingelegt und die Revision begründet.
Die Beklagte rügt die unrichtige Anwendung des § 1254 RVO. Die Verletzung der angegebenen Vorschrift erblickt die Beklagte darin, daß das Landessozialgericht das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen bei dem Kläger in Person und nicht allgemein bei Oberschenkelamputierten habe feststellen müssen. Soweit diese Voraussetzungen den Prothesenbau betreffen, ließe sich gegen sie zwar kein Vorwurf erheben, doch könnte damit die Annahme von Invalidität nicht begründet werden. Alter, Umschulungsmöglichkeiten, bisherige Tätigkeiten und anderes mehr seien neben der vom Landessozialgericht einzig anerkannten Bewährung durch eigene Arbeitsleistung gleichfalls in Betracht zu ziehen. Die abschließende Feststellung des Gerichts, daß die Erwerbsfähigkeit des Beinamputierten grundsätzlich auf 60 v. H. einzuschätzen sei, ließe sich in dieser allgemeinen Form nicht mit dem Gesetz vereinbaren. Selbst wenn eine Umschulung nicht in Frage komme, bewiesen die Gartenarbeiten, daß der Kläger noch durchaus in der Lage sei, auch körperliche Arbeiten zu verrichten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 2. Juli 1954, ebenso das Urteil des Oberversicherungsamts ... vom 9. Juni 1950 insoweit aufzuheben, als die Beklagte verurteilt wird, die Rente ab 1. Januar 1953 zu zahlen, und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt demgegenüber,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen und die Kosten des zweiten und dritten Rechtszuges der Beklagten (Revisionsklägerin) aufzuerlegen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend; die Person des Klägers und seine besonderen Verhältnisse seien ausreichend gewürdigt. In der ländlichen Wohngegend des Klägers sei entgegen der Auffassung der Beklagten eine Wettbewerbsfähigkeit nicht anzunehmen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgemäß eingelegt und begründet worden; sie ist vom Landessozialgericht zugelassen und daher statthaft.
Die Revision ist auch begründet.
Das Landessozialgericht hat nicht genügend beachtet, daß es bei der Feststellung der Voraussetzungen des § 1254 RVO grundsätzlich erforderlich ist, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob diese Voraussetzungen bei dem einzelnen Versicherten vorliegen. Es ist vielmehr von einem allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts ausgegangen, daß Oberschenkelamputierte nach ordnungsmäßiger prothetischer Versorgung, Gewöhnung und Anpassung bei Fehlen sonstiger Leiden, falls kein besonderer Ausnahmefall vorliege, 60 v. H. erwerbsbeschränkt und damit nach der heute maßgebenden Fassung des § 1254 RVO invalide seien.
Es erscheint zwar im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (z. B.: AN. 21, 334; EuM. 33, 46; Eum. 47, 366 - vgl. auch Bayer. LVA. Amtsbl. 50, 24; Breith. 48, 64; 52, 1004) zulässig, für bestimmte typische Sachverhalte auch bei der Beurteilung der Frage des Vorliegens von Invalidität Erfahrungssätze aufzustellen; hierbei ist allerdings eine auf bestimmte Hundertsätze abgestellte Bewertung der Invalidenversicherung fremd und daher unzulässig (vgl. Verb. Komm. § 1254 RVO Anm. 32), wie überhaupt nachdrücklich mit dem Reichsversicherungsamt (EuM. 21, 234) vor der Anwendung eines "schablonenhaften Verfahrens" zu warnen ist. Ein derartiger Erfahrungssatz wird sich aber nur aufstellen lassen, wenn von einer zeitlich und sachlich völlig ausreichend gesicherten Erfahrung ausgegangen werden kann, die bei einem dem Inhalt des Satzes entsprechenden typischen Sachverhalt hinsichtlich der Frage der Beurteilung der Invalidität stets zu demselben Ergebnis führen muß. Den von dem Landessozialgericht ohne jede weitere Begründung aufgestellten Erfahrungssatz, Oberschenkelamputierte könnten unter den geschilderten Umständen regelmäßig nicht mehr die Hälfte des Vergleichslohns erwerben, gibt es jedoch nicht, da für derartig Beschädigte die Erwerbsfähigkeit erfahrungsgemäß gerade an dieser kritischen Grenze liegt. Nach der Lage des Einzelfalls wird diese Grenze teils unterschritten, teils überschritten werden.
Ob es - wie es das Landessozialgericht ebenfalls angenommen hat - einen entsprechenden Erfahrungssatz des Inhalts gibt, daß Oberschenkelamputierte vor bezw. nach prothetischer Versorgung, Anpassung und Gewöhnung mehr bezw. weniger als zwei Drittel des ortsüblichen Lohnes verdienen können, bedurfte keiner Untersuchung, da das Urteil des Landessozialgerichts, insoweit dieser Erfahrungssatz Bedeutung hat, rechtskräftig geworden ist.
Da das Landessozialgericht unzulässigerweise von einem nicht bestehenden Erfahrungssatz ausgegangen ist, war seine Entscheidung fehlerhaft. Es hätte vielmehr für den Einzelfall Erhebungen anstellen müssen, ob die Voraussetzungen des § 1254 RVO vorliegen. Es kommt bei dieser Feststellung nicht nur auf die Leiden des Versicherten, sondern auch auf seine körperliche und geistige Konstitution und auf sein Alter an. Auch ist zu klären, welche Tätigkeiten ihm unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufes nach den ihm verbliebenen Kräften und Fähigkeiten noch zugemutet werden können, ob es solche Tätigkeiten in dem Wirtschaftsgebiet, in dem er wohnt, gibt und ob er in der Lage ist, durch eine solche Tätigkeit die Hälfte dessen zu erwerben, was körperlich und geistig gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen.
Das angefochtene Urteil mußte daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden. Der erkennende Senat konnte nicht selbst in der Sache entscheiden, da es an ausreichenden Feststellungen unter Beachtung der angeführten Grundsätze mangelt.
Die Kostenentscheidung ist dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen