Leitsatz (amtlich)
Eine Internierung im Sinne des BVG § 1 Abs 2 Buchst o liegt auch vor, wenn ein russischer Staatsangehöriger wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit vor dem Krieg aus seiner Heimat in einem volksdeutschen Siedlungsgebiet nach Sibirien zum Arbeitseinsatz verschleppt worden ist und dort nach Ausbruch des Krieges mit Rußland unter erschwerten Lebensbedingungen festgehalten worden ist (Anschluß BSG 1959-02-04 10 RV 918/57 = Praxis 1959, 262).
Normenkette
BVG § 1 Abs. 2 Buchst. c Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 6. Februar 1958 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerin und ihr Ehemann waren russische Staatsangehörige deutscher Volkszugehörigkeit; sie wohnten in B, Krs. S (W). Im Dezember 1937 wurde der Ehemann der Klägerin zusammen mit anderen Männern des Heimatdorfes und der Umgebung nach Sibirien zum Arbeitseinsatz gebracht. Die Klägerin erhielt nach ihren Angaben bis Juni 1941 laufend Post von ihrem Ehemann. Seit dieser Zeit hörte sie nichts mehr von ihm. Das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg erklärte ihn durch Beschluß vom 2. Mai 1957 für tot, als Zeitpunkt des Todes nahm es den 31. Dezember 1954 an.
Am 15. Mai 1953 beantragte die Klägerin, ihr Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren. Das Versorgungsamt I Berlin lehnte den Antrag durch Bescheid vom 10. November 1953 ab: Der Ehemann der Klägerin sei bereits im Jahre 1937 verschleppt worden, es handele sich daher nicht um eine unmittelbare Kriegseinwirkung. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt B durch Bescheid vom 10. Mai 1954 zurück. Das Sozialgericht (SG.) Berlin wies durch Urteil vom 6. Juli 1955 die Klage ab. Auf die Berufung der Klägerin hob das Landessozialgericht (LSG.) Berlin durch Urteil vom 6. Februar 1958 das Urteil des SG. Berlin vom 6. Juli 1955 auf und verurteilte den Beklagten, der Klägerin ab 1. Mai 1953 Witwenrente nach dem BVG zu gewähren; Der zwangsweise Aufenthalt des Ehemannes der Klägerin in Sibirien stelle eine Internierung dar; diese Internierung sei wegen der deutschen Volkszugehörigkeit erfolgt, sie habe auf einem Mißtrauen der russischen Behörden gegen die Volksdeutschen beruht; zwar habe die Internierung im Jahre 1937 noch nicht im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg gestanden, der Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg habe sich aber daraus ergeben, daß der Ehemann der Klägerin nach Ausbruch des Krieges mit Rußland - unter erschwerten Lebensbedingungen - weiter festgehalten worden sei; der Ehemann der Klägerin sei ein Opfer dieser Internierung geworden. Das LSG. ließ die Revision zu.
Das Urteil wurde dem Beklagten am 27. Februar 1958 zugestellt. Am 13. März 1958 legte er Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG. Berlin vom 6.Februar 1958 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG. Berlin vom 6. Juli 1955 zurückzuweisen.
Am 24. Mai 1958 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 27. Mai 1958 - begründete er die Revision: Das LSG. habe zu Unrecht festgestellt, der Ehemann der Klägerin sei wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit interniert worden und diese Internierung habe seinen Tod herbeigeführt; dies sei zwar möglich gewesen, aber nicht erwiesen; was das LSG. ermittelt habe, habe nicht ausgereicht, um seine Feststellung stützen zu können; das LSG. habe daher die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verletzt; das LSG. habe auch den § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG unrichtig angewandt; die Internierung im Jahre 1937 habe nicht im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg gestanden.
Die Klägerin beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft; der Beklagte hat sie frist- und formgerecht eingelegt und begründet.
Die Revision ist daher zulässig; sie ist jedoch nicht begründet.
Das LSG. hat festgestellt, der Ehemann der Klägerin sei im Jahre 1937 wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit aus seiner Heimat in W nach Sibirien verschleppt worden und dort - nach Ausbruch des Krieges mit Rußland im Jahre 1941 - unter besonders erschwerten Lebensbedingungen festgehalten worden; an den Folgen dieser Zwangsmaßnahme sei er gestorben. An diese tatsächlichen Feststellungen ist das Bundessozialgericht (BSG.) gebunden; der Beklagte hat dagegen keine begründeten Revisionsrügen erhoben (§ 163 SGG).
Der Beklagte trägt zwar vor, das LSG. habe nicht feststellen dürfen, der Ehemann der Klägerin sei wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit verschleppt und festgehalten worden, und es habe auch nicht ohne weiteres davon ausgehen dürfen, daß der Tod des Ehemannes der Klägerin eine Folge dieses Festhaltens gewesen sei; das LSG. habe das Vorbringen der Klägerin insoweit mangels sonstiger Unterlagen nur als möglich, nicht aber als erwiesen ansehen dürfen. Der Beklagte wendet sich damit gegen die Beweiswürdigung des LSG.; er rügt, § 128 SGG sei verletzt. Diese Rüge trifft jedoch nicht zu. Das LSG. hat seine Feststellungen nicht nur auf die Angaben der Klägerin, sondern auch auf die Bekundungen der Zeugin Sch gestützt; es hat den Bekundungen dieser Zeugin jedenfalls entnehmen dürfen, daß der Ehemann der Klägerin als Volksdeutscher in Wolhynien gelebt hat und daß er von dort aus im Jahre 1937 mit anderen Volksdeutschen - darunter auch den Brüdern der Zeugin, ebenfalls Volksdeutschen - nach Sibirien verschleppt worden ist; es hat durch die Bekundungen dieser Zeugin auch die Angaben der Klägerin, sie habe seit 1941 keine Nachricht von ihrem Ehemann mehr erhalten, weil seitdem die Postverbindung ausgesetzt habe, als bestätigt ansehen dürfen. Das LSG. hat schließlich davon ausgehen müssen, daß der Ehemann der Klägerin tot ist, da ein Beschluß des Amtsgerichts über die Todeserklärung vorgelegen hat. Das LSG. hat zwar weitere Einzelheiten über das Schicksal des Ehemannes der Klägerin nicht ermitteln können, die Tatsachen aber, die es ermittelt hat, haben seine Feststellung hinreichend gestützt. Das LSG. hat sich insoweit auch auf seine allgemeine Erfahrung und Kenntnis über das Schicksal und die Behandlung der Volksdeutschen in der Sowjetunion in ihrer Gesamtheit, insbesondere auch darüber, daß der Ausbruch des Krieges zu einer erheblichen Verschlechterung der Lebensbedingungen der Volksdeutschen und zu verschärften, auch die Gesundheit und das Leben gefährdenden Maßnahmen gegen sie geführt hat, berufen dürfen (vgl. hierzu auch das Gutachten des Osteuropa-Instituts in München vom 11.12.1954, abgedruckt in Breithaupt 1955 S. 757); es hat hieraus auch Schlüsse auf das Schicksal des Ehemannes der Klägerin ziehen dürfen. Das LSG. hat hiernach auch annehmen dürfen, daß der Tod des damals 30-jährigen Ehemanns der Klägerin eine Folge der Zwangsmaßnahmen gewesen ist, obgleich es Näheres über den Tod des Ehemannes der Klägerin nicht hat aufklären können; es hat hier einen typischen Geschehensablauf annehmen dürfen, so daß es insoweit weiterer Beweise nicht mehr bedurft hat (vgl. BSG. 9 S. 291 (294)). Das LSG. hat hiernach die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht "beweislos" als wahr unterstellt; es hat sie vielmehr ordnungsgemäß festgestellt. Mit den Erwägungen, mit denen das LSG. diese Feststellungen begründet hat, hat es jedenfalls die Grenzen eingehalten, die ihm durch die Pflicht zur erschöpfenden und sachgemäßen Auswertung aller Beweise und zur Berücksichtigung der Erfahrungssätze und Denkgesetze gesteckt sind. Die Beweiswürdigung des LSG. ist deshalb verfahrensrechtlich einwandfrei und damit richtig gewesen; das LSG. hat somit § 128 SGG nicht verletzt. Soweit der Beklagte auch rügt, das LSG. habe den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt und damit gegen § 103 SGG verstoßen, ist die Rüge nicht hinreichend substantiiert im Sinne des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG. Der Beklagte hat nicht dargelegt, inwiefern das LSG. Möglichkeiten, den Sachverhalt weiter aufzuklären, unausgenutzt gelassen hat und welche Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts das LSG. im einzelnen noch hätte vornehmen müssen (vgl. Urteil des BSG. vom 20. 2. 1957, SozR. Nr. 14 zu § 103 SGG).
Das LSG. hat den festgestellten Sachverhalt zu Recht unter Nach § 1 Abs. 1 BVG erhält auf Antrag Versorgung, wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Nach § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG steht einer Schädigung im Sinne des Abs. 1 eine Schädigung, die durch eine Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit herbeigeführt wird, gleich. Ist der Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben, so erhalten die Hinterbliebenen nach § 38 BVG Hinterbliebenenrente. Die Voraussetzungen dieser Vorschriften haben vorgelegen. Es hat sich um eine "Internierung" gehandelt. Der völkerrechtliche Begriff der Internierung setzt zwar - vom internierenden Staat aus betrachtet - stets fremde Staatszugehörigkeit voraus (IV. Genfer Abkommen vom 12. 8. 1949 zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten, Teil I Art. 4 Abs. 1, BGBl. 1954, Teil II S. 917). Der versorgungsrechtliche Begriff der Internierung geht jedoch - ebenso wie der Internierungsbegriff des Heimkehrerrechts (vgl. § 1 Abs. 3 des Heimkehrergesetzes vom 19. 6. 1950, BGBl. S. 221, i.d.F. vom 17. 8. 1953, BGBl. I S. 931, die Verwaltungsvorschriften Nr. 10 zu § 1 des Heimkehrergesetzes, ferner Urteil des BVerwG. vom 27. 10. 1955, NJW 1956, S. 642) - wesentlich weiter; das BVG hat ausdrücklich neben den deutschen Staatsangehörigen auch die deutschen Volkszugehörigen in den Kreis der versorgungsberechtigten Internierten einbezogen. Daraus ist zu schließen, daß auch die Volksdeutschen, die von dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit sie besessen haben, wegen ihres Bekenntnisses zum Deutschtum festgehalten worden sind und dadurch Schädigungen erlitten haben, von § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG erfaßt werden. Der Begriff "Internierung" setzt eine bestimmte Art des Gewahrsams nicht voraus; es genügt vielmehr die Unterbringung auf begrenztem Raum, wenn sie mit einer ständigen Überwachung verbunden ist. Diese Voraussetzungen haben nach den Feststellungen des LSG. vorgelegen. Die Internierung ist auch im "Ausland" erfolgt. Darum handelt es sich stets, wenn - wie hier - eine Internierung außerhalb Deutschlands stattgefunden hat; dem steht nicht entgegen, daß der Ehemann der Klägerin russischer Staatsangehöriger gewesen ist, daß er also nicht im "Ausland" interniert worden ist. In § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG sind - wie sich aus der Erwähnung des Auslandes zugleich mit den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden Gebieten ergibt - nur diejenigen Internierungen von dem Versorgungsschutz ausgenommen, die in Deutschland oder in den ehemals von Deutschland besetzten Gebieten erfolgt sind (vgl. Urteil des BSG. vom 4. 2. 1959 - 10 RV 918/57).
Der Tatbestand des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG erfordert weiter, daß die Internierung im Zusammenhang mit einem Krieg gestanden hat. Das ergibt sich aus dem Zweck der Kriegsopferversorgung, wonach Soldaten und ihnen gleichgestellte Personen zwar wegen Schädigungen, die sie im Krieg oder Frieden durch wehrdienstliche Einflüsse erlitten haben, Versorgung erhalten sollen, während Zivilpersonen nur unter der Voraussetzung zu dem Kreis der versorgungsberechtigten Personen gehören, daß sie durch Einflüsse des Krieges gesundheitlich geschädigt worden sind. Die Internierung des Ehemannes der Klägerin ist bereits im Jahre 1937 erfolgt. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Festnahme schon damals mit dem zweiten Weltkrieg in Zusammenhang gestanden hat, weil etwa schon damals eine drohende Kriegsgefahr gegeben gewesen ist; jedenfalls hat das weitere Festhalten nach Ausbruch des Krieges mit Rußland im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg gestanden. Das LSG. hat verfahrensrechtlich einwandfrei festgestellt, daß der Ausbruch des Krieges allgemein zu einer erheblichen Verschärfung der Maßnahmen gegen die Volksdeutschen in Rußland geführt hat. Es hat als Beispiel hierfür auf die gerichtsbekannte Tatsache hingewiesen, daß die Wolgadeutschen im Winter 1941/42 nach Sibirien umgesiedelt worden seien. Im vorliegenden Falle ist die Verschärfung der Maßnahmen gegen die Deutschen seit Ausbruch des Krieges mit Rußland auch dadurch zum Ausdruck gekommen, daß der Klägerin von diesem Zeitpunkt an keine Post mehr von ihrem Ehemann zugegangen ist, während bis dahin eine regelmäßige Postverbindung bestanden hatte. Die Internierung ist daher jedenfalls vom Ausbruch des Krieges mit Rußland an überwiegend durch den Krieg bedingt gewesen, selbst wenn sie es vorher nicht gewesen ist (vgl. auch Urteile des BSG. vom 4. 2. 1959 - 10 RV 918/57; vom 9. 6. 1959 - 8 RV 1265/57; vom 30. 7. 1957 - 10 RV 1191/57 - und vom 29. 10. 1959 - 8 RV 1249/57 -).
Damit sind die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG erfüllt.
Das LSG. hat den Versorgungsanspruch mit Recht bejaht. Die Revision ist daher unbegründet; sie ist zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen