Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 11.04.1958) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 11. April 1958 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I
Der Ehemann der Klägerin, Otto K. beantragte im August 1950, ihm Versorgung wegen eines Herzleidens zu gewähren. Das Versorgungsamt II in Berlin lehnte den Antrag mit Bescheid vom 13. Februar 1952 ab, weil die „Verhärtung der Hauptschlagader nebst den Durchblutungsstörungen des Herzens” an denen Otto K. leide, nicht auf den Wehrdienst oder die Kriegsgefangenschaft zurückzuführen seien. Den Einspruch wies das Landesversorgungsamt Berlin am 22. Mai 1953 zurück. Otto K. starb während des Klageverfahrens am 15. Dezember 1953 an einem Herzschlag; die Klägerin setzte den Rechtsstreit als seine Rechtsnachfolgerin fort. Das Sozialgericht (SG.) Berlin wies die Klage mit Urteil vom 14. Dezember 1955 ab. Die Klägerin legte Berufung beim Landessozialgericht (LSG.) Berlin ein. Das LSG. lud zur mündlichen Verhandlung vom 11. April 1958 den „beratenden Arzt des LSG.” Medizinalrat Dr. N. als Sachverständigen; es übergab dem Sachverständigen kurz vor dem Termin ein Gutachten des Prof. Dr. K. vom K.-Institut in Bad Nauheim vom 19. November 1957; in diesem Gutachten hatte Prof. Dr. K. bei der medizinischen Beurteilung eines anderen Versorgungsfalles ausgeführt, auch exogene Faktoren, insbesondere schwere Belastungen während des Wehrdienstes oder der Kriegsgefangenschaft seien geeignet, eine Arteriosklerose entscheidend zu beeinflussen; Prof. Dr. K. hatte in jenem Falle eine Wehrdienstbeschädigung bejaht; das LSG. bat Dr. N., zu diesem Gutachten im Termin Stellung zu nehmen. Die Klägerin erfuhr vor dem Termin weder von dem Gutachten des Prof. Dr. K. noch von der Ladung des Sachverständigen Dr. N.
Im Termin führte Dr. N. aus, der Fall des Otto K. liege nach seiner Ansicht in tatsächlicher Hinsicht etwas anders als der Fall, in dem Prof. Dr. K. sein Gutachten erstattet habe; Otto K. sei in der Kriegsgefangenschaft nicht so schweren Belastungen ausgesetzt gewesen wie der Mann, um den es sich in dem Gutachten des Prof. Dr. K. gehandelt habe; er – Dr. N. – könne aber auch die medizinische Auffassung des Prof. Dr. K. nicht teilen; Prof. Dr. K. habe den Einfluß exogener Faktoren auf arteriosklerotische Veränderungen zu hoch bewertet, im einzelnen werde er sich zu dem Gutachten des Prof. Dr. K. noch später äußern, im vorliegenden Fall möchte er die Auffassung vertreten, daß die Erkrankung des Otto K. an Arteriosklerose und Herzmuskelschaden durch Strapazen der Kriegsgefangenschaft und des Wehrdienstes nicht erkennbar verschlimmert worden sei. Nach der Anhörung des Dr. N. beantragte die Klägerin durch ihren rechtskundigen Prozeßbevollmächtigten Vertagung, weil sie von dem Gutachten des Prof. Dr. K. erst im heutigen Termin Kenntnis erlangt habe und weil ihr auch nicht bekannt gewesen sei, daß Dr. N. zum Termin geladen worden sei, um eine Stellungnahme zu diesem Gutachten abzugeben.
Das LSG. wies die Berufung mit Urteil vom 11. April 1958 zurück: Nach den Gutachten der Versorgungsärzte und des Dr. N. seien die Belastungen des Otto K. während seiner Kriegsgefangenschaft zwar schwer gewesen, sie hätten aber nur kurze Zeit gedauert und seien nicht geeignet gewesen, die Verhärtung der Hauptschlagader und die Durchblutungsstörungen zu verschlimmern, die Krankheit habe im wesentlichen einen schicksalsmäßigen Verlauf genommen; der Versorgungsanspruch sei daher unbegründet; auf den Vertagungsantrag der Klägerin habe das LSG. nicht einzugehen brauchen, da das Gutachten des Prof. Dr. K. sowie die Stellungnahme des Dr. N. zu diesem Gutachten für den Rechtsstreit ohne Bedeutung gewesen seien.
Das Urteil wurde der Klägerin am 7. Mai 1958 zugestellt; die Klägerin legte am 7. Juni 1958 Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG. aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Klägerin begründete die Revision ebenfalls am 7. Juni 1959; Das LSG. habe ihren Antrag auf Vertagung der mündlichen Verhandlung zu Unrecht abgelehnt. Das LSG. habe das Gutachten des Prof. Dr. K. zum Gegenstand der Verhandlung und einer Beweisaufnahme gemacht. Dieses Gutachten sei der Klägerin unbekannt gewesen; es sei auch dem Sachverständigen Dr. N. nicht im vollen Umfange bekannt gewesen. Dr. N. sei daher nicht in der Lage gewesen, seine Stellungnahme gewissenhaft vorzubereiten und eingehend zu begründen; die Klägerin habe sich jedenfalls nicht „aus dem Stegreif” zu dem Gutachten des Prof. Dr. K. und der Stellungnahme des Dr. N. äußern können. Unter diesen Umständen liege in der Ablehnung ihres Vertagungsantrages ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des LSG.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft; die Klägerin rügt zu Recht, das Verfahren des LSG. leide an einem wesentlichen Mangel.
Die Klägerin bezeichnet zwar nicht die Rechtsnorm, die das LSG. nach ihrer Ansicht verletzt hat; aus ihrem Vorbringen, das LSG. habe zu Unrecht ihren Vertagungsantrag abgelehnt und ihr dadurch die Möglichkeit genommen, sich zu dem Gutachten des Prof. Dr. K. und zu der Stellungnahme des Dr. N. zu diesem Gutachten sachgemäß zu äußern, ergibt sich jedoch, daß sie rügt, das LSG. habe gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen und damit § 62 SGG (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Die Rüge ist insoweit hinreichend substantiiert im Sinne des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG (vgl. auch BSG. 1 S. 227); sie trifft auch zu. Nach § 62 SGG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährt den Beteiligten jedenfalls ein Recht, sich in bezug auf Tatsachen und Beweisergebnisse zu äußern; den Beteiligten ist Gelegenheit zu geben, sachgemäße Erklärungen abzugeben; dies setzt voraus, daß sie sich mit dem Gegenstand der Verhandlung und der Beweisaufnahme rechtzeitig haben vertraut machen können. Dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör ist daher nur genügt, wenn den Beteiligten für die Abgabe ihrer Erklärung eine angemessene Zeit eingeräumt ist (vgl. BVerfG. 4 S. 150). Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs ist auch dann verletzt, wenn die Beteiligten oder ihre Vertreter in der mündlichen Verhandlung zwar „gehört” worden sind, das Gericht aber den Sachverhalt deshalb nicht sachgemäß und vollständig mit ihnen „erörtert” hat, weil sie sich mit dem Gegenstand der Verhandlung und der Beweisaufnahme nicht rechtzeitig haben vertraut machen können (vgl. auch Arndt, NJW. 1959 S. 7). Das LSG. hat im vorliegenden Falle den Sachverständigen Dr. K. veranlaßt, in der mündlichen Verhandlung zu einem Gutachten des Prof. Dr. K. Stellung zu nehmen; Prof. Dr. K. hat in diesem Gutachten – in einer anderen Versorgungsstreitsache – medizinische Fragen erörtert, die nach Ansicht des LSG. auch für den vorliegenden Streitfall von Bedeutung gewesen sind. Dr. N. hat in der mündlichen Verhandlung zu dem Gutachten des Prof. Dr. K. Stellung genommen; er hat zwar angenommen, daß der Fall, in dem Prof. Dr. K. sein Gutachten erstattet hat, in tatsächlicher Hinsicht anders gelegen habe, er ist aber auch der medizinischen Auffassung des Prof. Dr. K. entgegengetreten. Das LSG hat damit auch das Gutachten des Prof. Dr. K. zum Gegenstand der Verhandlung und der Beweisaufnahme gemacht; es hat aber die Klägerin vor dem Termin weder davon benachrichtigt, daß es in der mündlichen Verhandlung auch das Gutachten des Prof. Dr. K. erörtern wolle, noch davon, daß es den Arzt Dr. N. geladen habe, um ihn zu einer Stellungnahme zu diesem Gutachten zu veranlassen.
Unter diesen Umständen hat die Klägerin nach der Anhörung des Dr. N. zu Recht geltend gemacht, sie könne sich zu dieser Beweisaufnahme und ihrem Ergebnis nicht schon im Termin äußern, es müsse ihr durch Vertagung der mündlichen Verhandlung Gelegenheit gegeben werden, eine sachgemäße Stellungnahme vorzubereiten. Die Klägerin hat zwar, aus der mündlichen Verhandlung entnehmen können, daß das Gutachten des Prof. Dr. K. möglicherweise auch für die Beurteilung ihres Versorgungsanspruchs bedeutsam werde; sie hat sich aber kein klares Bild darüber machen können; sie ist jedenfalls nicht imstande gewesen, die medizinischen Fragen, die in der mündlichen Verhandlung erörtert worden sind, in ihrer Bedeutung und Tragweite zu erkennen; sie hat damit auch keine ausreichende Möglichkeit gehabt, die Gesichtspunkte, die aus dem Gutachten des Prof. Dr. K. für oder (und) gegen die Begründetheit ihres Anspruchs zu entnehmen gewesen sind, sofort richtig zu erfassen und auszuwerten; hierzu ist, da medizinische Fragen im Streit gewesen sind, auch ihr rechtskundiger Prozeßbevollmächtigter nicht in der Lage gewesen. Die Klägerin hat sich hiernach nicht so äußern können, daß eine sachdienliche und dem Verhandlungszweck entsprechende „Erörterung” des Streitstoffes zwischen dem Gericht und ihr möglich gewesen ist; eine solche Erörterung hat vorausgesetzt, daß der Klägerin das Gutachten des Prof. Dr. K. schon vor dem Termin bekannt gewesen ist, daß sie die Möglichkeit gehabt hat, sich damit vertraut zu machen, und daß sie sich auch darauf hat einstellen können, daß ein weiterer ärztlicher Sachverständiger zu diesem Gutachten gehört wird. Bei dieser Sachlage hat das LSG. der Klägerin auch nicht die Möglichkeit nehmen dürfen, zu der Stellungnahme des Dr. N. – der sich im übrigen zu dem Gutachten des Prof. Dr. K. nicht einmal abschließend hat äußern können und wollen – einen anderen Arzt zu hören und sich auch erst nach dem Ergebnis dieser Anhörung darüber schlüssig zu werden, ob ein Antrag auf Anhörung eines Arztes ihres Vertrauens nach § 109 SGG sinnvoll erscheint. Im vorliegenden Fall hat das LSG. deshalb annehmen müssen, daß ein erheblicher Grund für die Vertagung der Verhandlung gegeben ist; die Klägerin hat keine angemessene Frist zur Äußerung gehabt. Wenn das LSG. demnach über die Berufung der Klägerin entschieden hat, ohne dem Vertagungsantrag stattzugeben, so hat es den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt; darin liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG (vgl. BSG. 1 S. 277 und 1 S. 280). Das angefochtene Urteil beruht auch auf diesem Mangel; es ist zwar darin ausgeführt, es komme für die Entscheidung auf das Gutachten des Prof. Dr. K. und auf die Stellungnahme des Dr. N. zu diesem Gutachten nicht an; dies trifft jedoch nach den sonstigen Ausführungen nicht zu. Das LSG. hat seine Entscheidung im wesentlichen auf das Gutachten des Dr. N. gestützt; es hat dies auch um so mehr getan, als Dr. N. die medizinische Auffassung des Prof. Dr. K. über den Einfluß wehrdienstlicher Belastungen auf krankhafte arterosklerotische Veränderungen abgelehnt hat. Bei dieser Sachlage kann es dahingestellt bleiben, ob es nicht im sozialgerichtlichen Verfahren ebenso wie in der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. § 54 Abs. 2 Buchst. c BVerwGG) ein absoluter Revisionsgrund ist, wenn einem. Beteiligten das rechtliche Gehör versagt worden ist, so daß die Ursächlichkeit dieser Gesetzesverletzung für die Entscheidung im konkreten Falle gar nicht erst zu erörtern ist (vgl. Haueisen, Die Ortskrankenkasse, 1957 S. 175).
Da der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt ist und die Klägerin dies gerügt hat, ist die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Es kann dahingestellt bleiben, ob das LSG. noch gegen andere Verfahrensvorschriften verstoßen hat. Da die Revision auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden ist, ist sie auch zulässig.
Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG, wenn es der Klägerin das rechtliche Gehör in richtiger Weise gewährt, zu einem anderen Ergebnis kommt. Das Urteil des LSG. ist daher aufzuheben. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden; der Streitstoff ist infolge des Verstoßes des LSG. gegen verfahrensrechtliche Vorschriften unvollständig; es bedarf noch weiterer Feststellungen durch das LSG. Die Sache ist daher zu neuer Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Unterschriften
Dr. Haueisen, Dr. Strauß, Sonnenberg
Fundstellen
BSGE, 165 |
NJW 1960, 501 |
MDR 1960, 351 |