Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn die Krankengeschichte, die das Gericht beigezogen und den Beteiligten vor der Verhandlung nicht mitgeteilt hat, in der Verhandlung im Beisein des Klägers zwar vorgetragen worden ist, wenn das Gericht aber nach Umfang und Inhalt der Krankengeschichte sowie nach der Persönlichkeit des Klägers nicht hat davon ausgehen dürfen, daß der Kläger in der Lage sei, die Bedeutung des Vorgetragenen zu erfassen und daraus verfahrensrechtliche oder materiellrechtliche Folgerungen zu ziehen.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 106 Abs. 3 Nr. 2 Fassung: 1958-06-25, § 107 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 13. Februar 1958 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin, geboren 1891, lebte früher in Ostpreußen. Nach der Besetzung wurde sie zwangsweise von den Russen bis 1948 in Ostpreußen, sodann bis 1951 in Litauen zu Arbeiten herangezogen, nach ihrer Entlassung lebte sie in N, im Sommer 1952 wurde sie in der Poliklinik des Kreises N und in der Orthopädischen Klinik R behandelt. Seit Februar 1954 lebt sie in der Bundesrepublik. Im April 1954 beantragte sie wegen Herzmuskelschwäche mit Bluthochdruck, chronischem Gelenkrheumatismus mit Gelenkveränderungen, chronischer Bindehautentzündung und Innenohrverkalkung mit Schwindelanfällen Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG); diesen Antrag lehnte das Versorgungsamt L am 13. Dezember 1954 ab, da es sich nach dem Gutachten des Versorgungsarztes nicht um Folgen des Arbeitseinsatzes durch die Russen handele. Den Widerspruch der Klägerin wies die Rechtsabteilung des Landesversorgungsamts Schleswig-Holstein mit Bescheid vom 25. August 1955 zurück, die Klage wies das Sozialgericht (SG.) Lübeck durch Urteil vom 6. Februar 1956 ab. Die Klägerin legte durch Rechtsanwalt Dr. I fristgerecht Berufung ein; sie machte geltend, ihre Leiden seien, auch wenn sie erfahrungsgemäß sonst bei Personen ihres Alters ohnehin einzutreten pflegten, überwiegend die Folgen des zwangsweisen jahrelangen Einsatzes unter schlechten Bedingungen bei Schwerarbeit; sie erklärte sich schriftlich mit der Hinzuziehung ihrer Krankenpapiere und mit deren Verwertung im Verfahren einverstanden und beantragte, noch ein ärztliches Obergutachten einzuholen. Das Landessozialgericht (LSG.) zog Krankenunterlagen des behandelnden Arztes bei, und das Landeskrankenhaus H übersandte dem LSG. auf Anforderung Röntgenunterlagen und eine Zusammenfassung der Krankengeschichte; diese Krankengeschichte wurde den Beteiligten nicht mitgeteilt. Am 29. Februar 1958 wurde der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin zum Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 13. Februar 1958 geladen mit dem Hinweis, daß im Termin durch Einholung eines Gutachtens eines ärztlichen Sachverständigen aus den Versorgungsakten Beweis erhoben werde. Der Prozeßbevollmächtigte teilte am 5. Februar 1958 mit, die Klägerin habe ihn gebeten, jedenfalls den Verhandlungstermin für sie wahrzunehmen; da er aber am 13. Februar 1958 einen wichtigen Termin vor dem Oberlandesgericht Schleswig wahrzunehmen habe, beantrage er, den Termin vor dem LSG. zu vertagen. Mit Schreiben vom 10. Februar 1958 lehnte der Vorsitzende des zuständigen Senats die Vertagung ab; er bat den Prozeßbevollmächtigten, dafür zu sorgen, daß die Klägerin im Termin vertreten oder, falls dies nicht möglich sei, selbst anwesend sei. Durch Urteil vom 13. Februar 1958 wurde die Berufung zurückgewiesen, nachdem in Anwesenheit der Klägerin mündlich verhandelt und ein ärztlicher Sachverständiger gehört worden war. Das LSG. stellte fest, die Klägerin sei zwar schädigenden Vorgängen infolge einer mit einer Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG ausgesetzt gewesen, es sei aber auf Grund der Röntgenbefunde, der Bescheinigungen der Poliklinik N, der zusammengefaßten Krankengeschichte des Landeskrankenhauses H - nach der die Klägerin an einer allgemeinen und Gehirnarteriosklerose leidet - und dem Gutachten des Versorgungsarztes und des Gerichtsarztes sowie des Terminsachverständigen nicht wahrscheinlich, daß ihre Leiden mit diesen Vorgängen ursächlich zusammenhängen. Das Urteil wurde dem Prozeßbevollmächtigten am 9. Mai 1958 zugestellt.

Am 9. Juni 1958 legte die Klägerin Revision ein, sie beantragte,

unter Aufhebung des Urteils nach dem Antrag in der Berufungsinstanz zu erkennen und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin über die Rentengewährung nach den Vorschriften des BVG einen neuen rechtsmittelfähigen Bescheid zu erteilen.

Nachdem die Revisionsbegründungsfrist bis 9. August 1958 verlängert worden war, begründete die Klägerin die Revision an diesem Tag: Die Revision sei nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, das LSG. habe gegen § 62 SGG verstoßen, weil es dem begründeten Antrag des Prozeßbevollmächtigten auf Vertagung nicht entsprochen habe, es sei unerheblich, daß die Klägerin selbst im Verhandlungstermin anwesend gewesen sei; das LSG. habe auch gegen § 103 SGG verstoßen, es habe sich nicht mit dem Aktengutachten des Terminsachverständigen begnügen dürfen, die Bescheinigungen der Poliklinik N hätten dem LSG. Anlaß geben müssen, ein weiteres Gutachten einzuholen; das LSG. habe die Klägerin, zumal sie im Termin nicht durch ihren Prozeßbevollmächtigten vertreten gewesen sei, gemäß § 106 SGG auch darauf hinweisen müssen, daß sie einen Antrag nach § 109 SGG stellen könne; ferner habe das LSG. gegen § 107 SGG verstoßen, der Klägerin oder ihrem Prozeßbevollmächtigten sei der Bericht des Landeskrankenhauses H nicht mitgeteilt worden; schließlich habe das LSG. auch § 128 SGG verletzt; infolge dieser Verfahrensmängel habe das LSG. zu Unrecht den ursächlichen Zusammenhang zwischen den Leiden der Klägerin und der Verschleppung verneint.

Der Beklagte beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Beide Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II

Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden, da die Voraussetzungen dafür vorgelegen haben (§ 124 Abs. 2 SGG).

1. Die Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, die Klägerin rügt zu Recht, das Urteil des LSG. leide an einem wesentlichen Verfahrensmangel.

Das LSG. hat gegen die §§ 107, 62 SGG verstoßen. Es ist nach § 106 Abs. 3 Nr. 2 SGG befugt gewesen, die Krankengeschichte und die Röntgenbefunde des Landeskrankenhauses H beizuziehen. Wenn es dies getan hat, ist es aber in entsprechender Anwendung von § 107 SGG verpflichtet gewesen, den Beteiligten eine Abschrift dieser Krankengeschichte oder deren Inhalt mitzuteilen; das Bundessozialgericht (BSG.) hat dies bereits zu § 106 Abs. 3 Nr. 3 SGG entschieden (vgl. BSG. 4 S. 60 ff. (64)); für die Krankenpapiere und Untersuchungsbefunde, die in § 106 Abs. 3 Nr. 2 SGG genannt sind, gilt jedenfalls dann nichts anderes, wenn diese Unterlagen im Urteil verwertet werden; dies ist im vorliegenden Falle geschehen. Zwar ist die zusammengefaßte Krankengeschichte des Landeskrankenhauses H nach dem Tatbestand des angefochtenen Urteils Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen; der Senat ist auch - ebenso wie der 6. Senat des BSG. (a.a.O. S. 64) - der Meinung, daß der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz, §§ 62, 128 Satz 2 SGG) nicht schon dann verletzt ist, wenn die Krankengeschichte oder ihr Inhalt nur in der mündlichen Verhandlung vom Berichterstatter vorgetragen worden ist; dies gilt jedoch - wie auch der 6. Senat a.a.O. ausgeführt hat - nur dann, wenn die Beteiligten sich auf Grund des mündlichen Vortrags des Berichterstatters ein klares Bild von dem Inhalt der vorgetragenen schriftlichen Befunde und Krankenpapiere haben machen können und wenn sie sich deshalb über die Bedeutung des Vorgetragenen im klaren gewesen sind. Dies ist dann nicht der Fall, wenn es sich um umfangreiche Unterlagen handelt, zu denen sich die Beteiligten auf Grund eines mündlichen Vortrags nicht sofort äußern können; ebenso aber auch dann, wenn ein Beteiligter nach seinem körperlichen oder geistigen Zustand nicht in der Lage ist, die Bedeutung des mündlich Vorgetragenen zu erfassen, daraus verfahrensrechtliche oder materiell-rechtliche Folgerungen zu ziehen und hierüber Ausführungen zu machen; es genügt auch nicht in jedem Falle, daß die Beteiligten nur in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit gehabt haben, sich zu äußern, es muß ihnen insoweit auch eine angemessene Zeit zur Erklärung eingeräumt werden (BVerfG. 4 S. 150 = NJW. 1955 S. 1945; Haueisen, Die Ortskrankenkasse, 1957 S. 174). In dem in BSG. 4 S. 60 ff. entschiedenen Falle hat das BSG. den Grundsatz des rechtlichen Gehörs deshalb nicht als verletzt angesehen, weil dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers vor dem Verhandlungstermin eine Abschrift des nach § 106 Abs. 3 Nr. 3 SGG an eine Auskunftsperson gerichteten Ersuchens mitgeteilt worden ist und weil der Prozeßbevollmächtigte, der im Verhandlungstermin anwesend gewesen ist, in der Lage gewesen ist, sich auf Grund des ihm bekannten Beweisthemas und der mündlich vorgetragenen Auskunft ein klares Bild über Inhalt und Bedeutung dieser Auskunft zu machen. Im vorliegenden Falle hat der Prozeßbevollmächtigte dagegen nicht gewußt, daß die Krankengeschichte des Landeskrankenhauses H angefordert worden ist; die Klägerin ist im Verhandlungstermin zwar selbst anwesend gewesen, nach der allgemeinen Erfahrung des Lebens hat das LSG. aber nicht damit rechnen können, daß sie in der Lage sei, den mündlichen Vortrag der Krankengeschichte und die Bedeutung einer ihr bisher unbekannten medizinischen Beurteilung zu erfassen. Die Klägerin ist eine einfache, aus ländlichen Verhältnissen stammende Frau; sie ist bei der Verhandlung des LSG. 67 Jahre alt gewesen; das LSG. hat aus den Akten, insbesondere gerade aus der Krankengeschichte des Landeskrankenhauses Heiligenhafen ersehen können, daß die Klägerin u.a. an Gehirnarteriosklerose leidet; aus dem Schriftsatz, mit dem der Prozeßbevollmächtigte eine Woche vor der mündlichen Verhandlung die Vertagung beantragt hat, ist erkennbar gewesen, daß die Klägerin gerade deshalb ihren Rechtsanwalt gebeten hat, wenigstens den Verhandlungstermin für sie wahrzunehmen, weil sie sich der Verhandlung allein nicht gewachsen gefühlt hat. Hätte das LSG. die Krankengeschichte, die es mehr als fünf Monate vor der Verhandlung erhalten hat, dem Prozeßbevollmächtigten in Abschrift mitgeteilt, so hätte dieser rechtzeitig vor dem Termin die Klägerin unterrichten und seinerseits die ihm geboten erscheinenden Anträge, etwa auch einen Antrag nach § 109 SGG, stellen können; auch wenn er den Termin nicht selbst hat wahrnehmen können, hätte er dies wenigstens schriftlich tun können. Der Inhalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör besteht gerade in der Möglichkeit des Einflusses auf die gerichtliche Entscheidung, sei es in einer Stellungnahme zu dem Vorbringen des Gegners, sei es in der Beschaffung oder Ergänzung der tatsächlichen Grundlagen des Prozesses, sei es in dem Recht, Anträge zu stellen; dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich um Anträge handelt, die das Gericht - wie im Falle des § 109 SGG - zu berücksichtigen hat, oder um Anträge, die es, obwohl es an Beweisanträge im sozialgerichtlichen Verfahren nicht gebunden ist (§ 103 Satz 2 SGG), doch als Anregung für eine etwaige weitere Sachaufklärung zu würdigen hat.

Da der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör im vorliegenden Falle verletzt ist und die Klägerin dies gerügt hat, ist die Revision statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; es kann dahingestellt bleiben, ob das LSG. auch noch andere Verfahrensvorschriften verletzt hat. Da die Revision auch frist- und formgerecht eingelegt ist, ist sie zulässig.

2. Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG., wenn der Klägerin das rechtliche Gehör in der richtigen Weise gewährt wird, wenn sie sich insbesondere zu der Krankengeschichte des Landeskrankenhauses Heiligenhafen äußern kann, zu einem anderen Ergebnis kommt; das Urteil des LSG. ist daher aufzuheben. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, die festgestellten Tatsachen binden infolge des Verstoßes gegen verfahrensrechtliche Vorschriften das BSG. nicht (§ 163 SGG); der Senat darf aber Tatsachen nicht selbst feststellen und Beweise nicht selbst würdigen. Die Sache ist deshalb zu neuer Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Dabei wird das LSG. auch zu prüfen haben, ob es nicht erforderlich ist, zu der Frage des medizinischen Zusammenhangs der Leiden der Klägerin mit der Verschleppung - etwa auch unter dem Gesichtspunkt einer Verschlimmerung - noch ein ärztliches Gutachten einzuholen.

3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325826

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