Leitsatz (amtlich)

1. Hat ein Versicherter während seines Arbeitslebens nacheinander verschiedenartige Tätigkeiten ausgeübt, so ist die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als seine eigentliche Berufstätigkeit anzusehen, wenn er sich von den früheren Tätigkeiten endgültig gelöst hatte.

Dies ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn die letzte Tätigkeit im Vergleich zu den früheren Tätigkeiten die höchstentlohnte ist und sie in nennenswertem Umfang während einer angemessenen Zeit ausgeübt worden ist.

Ein Zeitraum von drei Jahren ist jedenfalls als eine angemessene Zeit in diesem Sinne anzusehen.

2. Für eine Versicherte, die hauptberuflich in einem Lazarett als angelernte Näherin tätig war, ist als Vergleichsperson (mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten wie die Versicherte) im Sinne des RVO § 1246 Abs 2 S 1 eine angelernte Näherin mit einer Entlohnung anzusehen, die dem Durchschnitt der in der Bekleidungsindustrie, im Schneiderhandwerk, in Krankenhäusern und Lazaretten (einschließlich Heimarbeiterinnen) beschäftigen angelernten Näherinnen entspricht.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 24 . März 1960 wird zurückgewiesen .

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten .

Von Rechts wegen .

 

Tatbestand

Für die Klägerin , die 14 Jahre als Hausmädchen und anschließend drei Jahre als angelernte Näherin in einem Luftwaffenlazarett versicherungspflichtig beschäftigt war , sind für mehr als 60 Monate Beiträge zur Invalidenversicherung entrichtet worden .

Am 23 . Oktober 1957 hat sie Antrag auf Versichertenrente gestellt . Im März 1958 ist sie von dem Facharzt für Chirurgie Dr . M ... begutachtet worden . Dieser hat , gestützt auf eine Röntgenaufnahme des rechten Hüftgelenks vom 1 . August 1956 , folgenden Befund erhoben: Zustand nach alter , schon seit der Kindheit bestehender Unterschenkelosteomyelitis links , Fehlstellung des linken unteren Unterschenkeldrittels , Zustand nach operativer Behandlung einer Hüftgelenkserkrankung rechts , Verkürzung des rechten Beines um 4 cm , Teilversteifung des rechten Beines im Hüftgelenk und Adipositas mit Übergewicht von 20 kg . Im Hinblick darauf , daß der derzeitige Krankheitszustand im wesentlichen schon seit ca . 25 Jahren bestehe und daß die Klägerin trotz des Zustandes des linken Beines und des rechten Hüftgelenks jahrelang gearbeitet habe , könne sie die zuletzt geleistete Tätigkeit als Näherin sowie leichte Arbeiten im Haushalt auch heute noch ausführen . Sie sei lediglich bei dem Weg zur Arbeitsstelle behindert . Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei ihr jedoch zuzumuten . Die Beklagte hat daraufhin durch Bescheid vom 13 . Mai 1958 den Rentenantrag abgelehnt .

Hiergegen hat die Klägerin Klage mit der Begründung erhoben , daß sich ihr Leiden in den letzten Jahren wesentlich verschlimmert habe . Sie sei erwerbsunfähig , zumindest aber berufsunfähig . In einem von der Klägerin überreichten Attest vom 27 . Mai 1958 hat Dr . A ..., der behandelnde Arzt der Klägerin , eine in den letzten Jahren eingetretene deutliche Verschlimmerung der Hüft- und Beinbeschwerden bescheinigt . Durch Beschluß des Sozialgerichts vom 2 . Juli 1958 ist der Bezirksfürsorgeverband Freie und Hansestadt H ... beigeladen worden .

Der Facharzt für Chirurgie Dr . K ... -M ... hat im Oktober 1958 ein Gutachten und Dr. V ... ein röntgenologisches Zusatzgutachten erstattet . Im Verhandlungstermin vom 19 . März 1959 wurde Dr . O ... noch als Sachverständiger vernommen . Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 19 . März 1959 die Klage abgewiesen .

Im Berufungsverfahren hat die Klägerin noch eine Bescheinigung des Facharztes für Orthopädie Dr . S... vom 21. April 1959 und ein Attest ihres behandelnden Arztes Dr . A... vom 2 . April 1959 zu den Akten gereicht . Sie hat die Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente begehrt .

Das Landessozialgericht hat weitere Befund- und Behandlungsberichte herangezogen von Dr . S ... vom 27 . August 1959 und von Dr . A ... vom 31 . Oktober 1959 . Es wurden noch Gutachten von dem Facharzt für innere Krankheiten Dr . W ... und dem Facharzt für Orthopädie Dr . S ... eingeholt . Der letztere Gutachter hat insbesondere auf die nunmehr eingetretene Fixierung der Lendenwirbelsäulenskoliose und den gleichzeitigen Kalksalzmangel hingewiesen . Die Klägerin könne nur noch Heimarbeit als Näherin von täglich vier Stunden verrichten . Einen Arbeitsweg könne sie selbst unter Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel nicht zurücklegen .

Im Verhandlungstermin vom 24 . März 1960 wurde außerdem noch Dr . L ... als Sachverständiger gutachtlich gehört . Dieser vertrat die Ansicht , daß die Klägerin noch halbtäglich (vier Stunden) im Sitzen arbeiten könne . Zumindest kurze Wege könne sie noch zurücklegen , nicht aber bei Schnee und Glatteis .

Durch Urteil vom 24 . März 1960 hat das Landessozialgericht unter Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils und des angefochtenen Bescheides die Beklagte dem Grunde nach verurteilt , der Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1 . Oktober 1957 an zu zahlen , und hat die Berufung im übrigen zurückgewiesen; es hat die Revision zugelassen .

Da die Klägerin keine besondere Ausbildung genossen habe , müsse sie sich auf alle Arbeiten verweisen lassen , die keine besonderen Vorkenntnisse erforderten , soweit sie diese nach ihrem gesundheitlichen Zustand noch verrichten könne .

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme , insbesondere den Gutachten der Dres . W ..., S ... und K ... -M ... in Verbindung mit den Darlegungen des Sachverständigen Dr . L ... bestehe bei der Klägerin ein Zustand nach Knochenmarksentzündung an der rechten Hüfte und am linken Unterschenkel , eine Fehlstellung der rechten Hüfte mit schmerzhafter Wackelbeweglichkeit sowie eine anatomische Beinverkürzung von 5 cm und eine funktionelle Beinverkürzung von 6 cm . Die Lendenwirbelsäule zeige eine durch Beckenschiefstellung bedingte rechtskonvexe fixierte Skoliose mit ausgeprägtem Kalksalzmangel , die sich erst in den letzten Jahren entwickelt habe . Im linken oberen Sprunggelenk bestehe gleichfalls eine erhebliche Fehlstellung und im linken unteren Sprunggelenk eine hochgradige Beweglichkeitseinschränkung. Auf internistischem Gebiet lägen , abgesehen von der Neigung zu orthostatischen Regulationsstörungen mit hypotonen Blutdruckwerten , keine wesentlichen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit vor . Die Hauptbeeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit ergebe sich aus den schwerwiegenden orthopädischen Befunden . Infolge der seitlichen Verbiegung der Wirbelsäule und des Kalksalzmangels könne die Klägerin täglich nur noch vier Stunden Arbeiten im Sitzen verrichten .

Außerdem sei die Klägerin nicht in der Lage , täglich den Weg von und zur Arbeitsstätte - selbst bei Benutzung eines Sitzplatzes während der Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln - zurückzulegen . Denn infolge der Versteifung des rechten Hüftgelenks müßten zur Vorwärtsbewegung des rechten Beines Ausgleichsbewegungen der Lendenwirbelsäule ausgeführt werden , bei denen sie aber wegen der fixierten seitlichen Verbiegung der Lendenwirbelsäule und wegen des Kalksalzmangels der Wirbelkörper hochgradig behindert sei . Erschwerend komme noch hinzu , daß die Klägerin infolge Fehlstellung der Gelenkachse im linken oberen Sprunggelenk für eine ausreichende Gangsicherheit nicht sorgen könne . Dr . M... habe zwar in seinem Gutachten vom 24 . März 1958 , gestützt auf die Röntgenaufnahme aus dem Jahre 1956 , die Wegefähigkeit mit Einschränkung bejaht . Diese Auffassung sei aber nicht zutreffend , weil es nach der Untersuchung durch Dr . S ... vom 7 . März 1960 bei der Klägerin inzwischen zu einer Fixierung der seitlichen Verbiegung der Lendenwirbelsäule , zu einem Kalksalzmangel im Bereich der Lendenwirbelsäule , zu einer Zunahme der Arthrose und der schmerzhaften Beweglichkeitseinschränkung der rechten Hüfte gekommen sei . Auch Dr . W .... habe in seinem Gutachten bei der Frage der Zumutbarkeit des Arbeitsweges lediglich die Fehlhaltung der Lendenwirbelsäule berücksichtigt , ohne deren hinderliche Fixierung und den schmerzverursachenden Kalksalzmangel zu erwähnen . Aus diesen Gründen sei er den Gutachten des Dr . S ... und des Dr . K ... -M ... gefolgt und halte die Zurücklegung eines regelmäßigen täglichen Arbeitsweges nicht für möglich . Dr . L... habe zwar im Gegensatz hierzu die Auffassung vertreten , daß die Klägerin unter günstigen klimatischen Umständen noch kurze Strecken gehen könne . Es sei aber nicht vertretbar , bei der Beurteilung der Wegefähigkeit eines stark gehbehinderten Versicherten die klimatisch ungünstigen Jahreszeiten , in welchen diesem zum Beispiel durch Schnee und Glatteis die Fortbewegung im Freien auch auf kurzen Strecken nahezu unmöglich sei , unberücksichtigt zu lassen . Wolle man die Klägerin aber nur auf eine Tätigkeit während der klimatisch günstigen Jahreszeiten beschränken , so würde die Klägerin , der nur eine vierstündige tägliche Arbeit im Sitzen zuzumuten sei , nicht die gesetzliche Lohnhälfte eines vergleichbaren gesunden Berufstätigen erzielen . Aber auch mit halbtägiger Heimarbeit könne die Klägerin nicht die Hälfte dessen erwerben , was eine gesunde Näherin verdienen würde . Es sei gerichtsbekannt , daß die Einkünfte der Heimarbeiter niedriger seien als die der vergleichbaren Berufe im Handwerk und in den Industriebetrieben . Dies werde durch einen Vergleich zwischen dem Tarifvertrag für die Bekleidungsindustrie vom 11 . März 1958 und dem Tarifvertrag für die Heimarbeit für die Bekleidungsindustrie vom gleichen Tage bestätigt . Während die in der Bekleidungsindustrie tätigen Näherinnen für leichte Näharbeiten pro Stunde einen Lohn von 1 , 43 DM erzielten , könne die Heimarbeiterin bei der gleichen Tätigkeit pro Stunde nur 1 , 21 DM verdienen . Da die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen aber ohnehin nur halbtägig tätig sein könne , würde sie bei dem niedrigeren Lohn als Heimarbeiterin nie die Hälfte dessen erwerben , was die Industriearbeiterin der gleichen Art zu verdienen in der Lage sei . Die Klägerin sei daher berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs . 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) .

Dagegen sei die Klägerin nicht erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 Abs . 2 RVO , weil sie nach den getroffenen Feststellungen durch Heimarbeit nicht nur gelegentlich , sondern mit einer gewissen Regelmäßigkeit noch halbtägig tätig sein könne . Die hierdurch erzielten Einkünfte seien auch nicht als geringfügig im Sinne des § 1247 Abs . 2 RVO anzusehen , weil sie für den Unterhalt der Klägerin durchaus wesentlich seien .

Gegen dieses ihr am 8 . April 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 20 . April 1960 , eingegangen beim Bundessozialgericht am 22 . April 1960 , Revision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 27 . Mai 1960 , eingegangen am 1 . Juni 1960 , begründet .

Sie rügt die Verletzung des § 1246 RVO sowie der §§ 103 und 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) . Selbst wenn man unterstelle , daß die Klägerin einen Arbeitsweg nicht mehr zurücklegen könne , sei eine ausreichende Einsatzfähigkeit als Heimarbeiterin vorhanden . Die Ansicht des Berufungsgerichts , daß die Klägerin berufsunfähig sei , weil sie in vierstündiger Tätigkeit als Heimarbeiterin bei dem angeblich geringeren Lohn nicht die Hälfte dessen erwerben könne , was die Industriearbeiterin in der gleichen Branche mit der gleichen Tätigkeit verdiene , sei rechtsirrig . Ein solcher Vergleich dürfe nicht gezogen werden . Es könne vielmehr nur auf den Lohn abgestellt werden , den eine gesunde Versicherte als Heimarbeiterin erziele , denn in dem jeweiligen Beruf , auf den eine Verweisung vorgenommen werden könne , müsse die Versicherte noch die Hälfte der Erwerbsfähigkeit besitzen .

Darüber hinaus habe das Landessozialgericht die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten , wenn es aus dem Ergebnis der Ermittlungen geschlossen habe , daß eine Heimarbeiterin in der Bekleidungsindustrie bei einer Arbeitszeit von täglich vier Stunden grundsätzlich nicht die Hälfte dessen verdienen könne , was die Industriearbeiterin der gleichen Brauche mit der gleichen Tätigkeit verdiene . Der im angefochtenen Urteil angegebene Lohn von 1 , 21 DM pro Stunde sei der geringste , der in dem Lohntarif für die Bekleidungsindustrie vom 11 . März 1958 für Heimarbeiterinnen aufgeführt sei . Die Bezahlung richte sich nach der Art der zu fertigenden Kleidungsstücke . Der Lohn übersteige den Betrag von 1 , 21 DM pro Stunde zum Teil wesentlich . Außerdem würden an Heimarbeiterinnen grundsätzlich Zuschläge gezahlt , die ebenfalls vom Landessozialgericht unberücksichtigt gelassen worden seien . Das Landessozialgericht hätte somit im Wege der weiteren Sachaufklärung feststellen müssen , inwieweit die Klägerin durch ihre Kenntnisse und Fähigkeiten in der Lage sei , einen höheren Stundenlohn als 1 , 21 DM zu verdienen . Dazu wäre nach Auffassung der Beklagten eine genaue Befragung der Klägerin über die früher ausgeübte Tätigkeit als Näherin und die Vernehmung eines Sachverständigen über die verschiedenen Einsatzmöglichkeiten einer ungelernten bzw . angelernten Näherin erforderlich gewesen .

Das Landessozialgericht habe außerdem die Grenze des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten , wenn es feststelle , daß die Klägerin nicht in der Lage sei , regelmäßig einen Arbeitsweg zurückzulegen . Das Berufungsgericht stütze sich auf das Gutachten des Dr . S ... vom 7 . März 1960; dieses widerspreche aber der Ansicht der anderen Gutachter . Das Landessozialgericht hätte sich ohne stichhaltige Gründe nicht über deren gegenteilige Stellungnahmen hinwegsetzen dürfen , da das Gutachten des Dr . S ... zur Erforschung der rechtserheblichen Tatsachen nicht geeignet sei . Dr . S ... meine , daß es bei der Klägerin zu einer Fixierung der Skoliose an der Lendenwirbelsäule und zu einem schmerzverursachenden Kalksalzmangel gekommen sei , und leite daraus die Unzumutbarkeit eines Arbeitsweges her . Diese Folgerung sei aber medizinisch nicht haltbar . Wirbelsäulenverbiegungen und Fixierungen wirkten sich nicht auf die Möglichkeit der Zurücklegung eines Arbeitsweges aus . Menschen mit schwerster Skoliose und Verkrümmungen könnten allein wegen der Komplikationen von seiten der inneren Organe als berufsunfähig beurteilt werden , nicht aber mit der Begründung , sie könnten nicht mehr ausreichend gehen . Die angenommene Gehunfähigkeit sei nicht mit einem röntgenologischen Befund an der Wirbelsäule zu begründen . Das hätte auch das Landessozialgericht auf Grund der anderen vorliegenden Gutachten erkennen müssen . Zumindest hätte es sich gedrängt fühlen müssen , darüber noch Dr . L ... zu befragen , zumal dieser ebenfalls die Auffassung vertreten habe , daß die Klägerin auf Grund der erhobenen Befunde kurze Wege zurücklegen könne . Entscheidend komme hinzu , daß es sich nach dem Befundbericht des behandelnden Arztes Dr . Sch ... vom 27 . August 1959 bei den Leiden der Klägerin um einen Endzustand handele , so daß eine Verschlimmerung nicht eingetreten sein könne . Die Veränderungen hätten teils seit der Kindheit , teils seit dem operativen Eingriff im Jahre 1933 bestanden . Die Klägerin sei in diesem Zustand versicherungsfähig gewesen und habe eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt . Unter Berücksichtigung dieser Tatsache sei ihr auch heute noch eine Lohnarbeit in ausreichendem Maße zumutbar , da inzwischen sogar eine Gewöhnung und Anpassung an den Zustand eingetreten sei .

Sie beantragt ,

das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 24 . März 1960 aufzuheben und unter Wiederherstellung des Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 19 . März 1959 die Klage abzuweisen .

Die Klägerin beantragt ,

die Revision zurückzuweisen .

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend . Die Ansicht der Beklagten , daß es darauf ankomme , ob sie noch in der Lage sei , die Hälfte dessen zu erwerben , was eine gesunde Heimarbeiterin verdiene , und nicht , was in ihrer Berufsgruppe verdient werde , sei rechtsirrig .

Die Beigeladene hat sich den Ausführungen und dem Antrag der Revisionsbeklagten angeschlossen .

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist statthaft , da das Berufungsgericht sie zugelassen hat . Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen somit nicht . Es mußte ihr der Erfolg jedoch versagt bleiben .

Da nur die Beklagte Revision eingelegt hat und die Ablehnung des Antrags der Klägerin auf Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente nach § 1247 RVO infolgedessen bindend geworden ist , war nur zu prüfen , ob der Klägerin der Anspruch auf Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente nach § 1246 RVO zusteht .

Dies hängt , da die Wartezeit zweifelsohne erfüllt ist , allein davon ab , ob die Klägerin berufsunfähig ist . Zu Recht hat das Berufungsgericht dies angenommen .

Die Angriffe der Beklagten gegen die Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts greifen nicht durch . Zu der Frage , ob die Klägerin noch regelmäßig einen Arbeitsweg zurücklegen kann , liegen zwar unterschiedliche Gutachten vor . Es ist aber grundsätzlich Sache des Tatsachengerichts , welchem Gutachten es sich anschließt , wenn dieses nur in sich schlüssig ist . Das Revisionsgericht kann nur prüfen , ob das Tatsachengericht bei seiner Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat oder ob es unterlassen hat , das Gesamtergebnis des Verfahrens zu berücksichtigen . Die Revision meint allerdings , daß dies der Fall sei , weil das Gutachten des Dr . S... gegen allgemeine medizinische Erfahrungssätze verstoße . Ob dies richtig ist , bedarf hier jedoch keiner Entscheidung , da zumindest die hilfsweise getroffene Feststellung des Berufungsgerichts , daß die Klägerin jedenfalls bei Schnee und Glatteis keinen Arbeitsweg zurücklegen könne , bedenkenfrei ist . Bei der beiderseitigen schweren Gehbehinderung der Klägerin durfte das Berufungsgericht dies annehmen , da auch Dr . L ..., dessen Ausführungen die Beklagte nicht angreift , zu diesem Ergebnis gekommen ist . Diese hilfsweise getroffene Feststellung aber genügt für die zu treffende Entscheidung .

Bei Anwendung des § 1246 Abs . 2 RVO war zunächst festzustellen , von welcher versicherten Vergleichsperson auszugehen ist (BSG 9 , 255 , 256) . Um dies entscheiden zu können , muß in den Fällen , in welchen ein Versicherter im laufe seines Berufslebens nacheinander verschiedenartige Tätigkeiten ausgeübt hat , zunächst geklärt werden , welche von diesen Tätigkeiten der eigentliche Beruf des Versicherten ist . Wenn allein die Zeitdauer der beiden von der Klägerin während ihres Arbeitslebens ausgeübten Tätigkeiten für die Frage ausschlaggebend wäre , würde man wohl die Tätigkeit eines Hausmädchens als eigentliche Berufstätigkeit der Klägerin ansehen müssen . Dem steht aber entgegen , daß sich die Klägerin von diesem Beruf bei Aufnahme ihrer Tätigkeit als angelernte Näherin endgültig gelöst hat (vgl . dazu BSG 2 , 183) . Dies muß angenommen werden , weil die zuletzt ausgeübte Tätigkeit die höchstentlohnte Tätigkeit war und drei Jahre , also während einer ausreichenden Zeit , ausgeübt worden ist . Daraus ist zu schließen , daß die Klägerin nicht mehr den Willen hatte , jemals wieder zu der Tätigkeit eines Hausmädchens zurückzukehren (vgl . dazu auch Hartmann/Koch , Angestelltenversicherungsgesetz -AVG- , 2 . Aufl . Anm . 4 c Abs . 7) . Dies würde dagegen bei einem nicht wegen Krankheit erfolgten Berufswechsel kaum gelten können , wenn es sich bei den verschiedenartigen Tätigkeiten um gleichwertige Tätigkeiten handelte oder wenn die letzte Tätigkeit die niedriger entlohnte wäre , wenn man also keine Berufsentwicklung von einer niedrigeren zu einer höheren Tätigkeit erkennen könnte . In diesen Fällen wird vielmehr der Dauer der Ausübung der einzelnen Tätigkeiten ein , ungleich höheres Gewicht bei der Beurteilung dieser Frage zuzumessen sein . Da die Klägerin zuletzt drei Jahre lang in einem Lazarett als angelernte Näherin beschäftigt war , ist also diese Tätigkeit als ihr Hauptberuf anzusehen .

Das Gesetz stellt auf die Erwerbsfähigkeit eines gesunden Versicherten mit - wenn auch nicht unbedingt gleicher - so doch ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten ab . Damit ist sowohl nach der Ausbildung wie nach den Kenntnissen und Fähigkeiten ein gewisser Spielraum gegeben . Um ein Ergebnis zu erzielen , das den tatsächlichen Verhältnissen des Einzelfalles möglichst gerecht wird , ohne doch den Kreis der Tätigkeiten für die Lohnfeststellung der Vergleichsperson allzusehr einzuengen , bedarf dieser Kreis einer inneren und äußeren Begrenzung . Er kann einerseits nicht so eng gezogen werden , daß etwa nur auf eine angelernte Näherin in Lazaretten abgestellt wird , weil die Klägerin gerade in einem Lazarett tätig war . Andererseits erscheint es nicht vertretbar , die Skala der Tätigkeiten für die Ermittlung der Vergleichsperson so zu verbreitern , daß etwa die Berufsgruppe der Bekleidungsarbeiterin zugrunde gelegt wird , die außer angelernten Näherinnen noch die Berufe der Schneiderinnen , Plätterinnen , Stickerinnen u . a . m . in Betrieben verschiedenster Art umfaßt . Dazu sind die aufgeführten Tätigkeiten nach der Ausbildung und den Kenntnissen und Fähigkeiten , die sie erfordern , zu verschieden . Der erkennende Senat hielt es vielmehr im vorliegenden Falle für richtig , nur von der angelernten Näherin auszugehen , jedoch ohne Beschränkung auf eine bestimmte Art des Betriebes oder die Beschäftigungsart , d . h . also von der angelernten Näherin überhaupt , wie sie in der Bekleidungsindustrie , im Schneiderhandwerk sowie in Krankenhäusern und Lazaretten , sei es als Betriebsarbeiterin oder als Heimarbeiterin , mit unterschiedlicher Entlohnung vorkommt . Dagegen ist es nicht möglich , wie die Beklagte meint , allein von der Heimnäherin als Vergleichsperson auszugehen , weil dies zu eng wäre und im übrigen im Falle der Klägerin schon deshalb ausscheidet , weil die Klägerin niemals Heimnäherin gewesen ist .

Vergleichsperson im Sinne des § 1246 RVO ist also die angelernte Näherin mit dem durchschnittlichen Lohn , der tarifvertraglich für angelernte Näherinnen in den verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen vorgesehen ist . Nach den entsprechenden Tarifverträgen werden die einzelnen Näherinnen nicht nur unterschiedlich entlohnt , je nachdem , welche Art von Näharbeiten sie verrichten , sondern auch je nachdem , ob sie im Stundenlohn oder im Akkord arbeiten . Auch sind die Löhne unterschiedlich in den Betrieben der Bekleidungsindustrie , im Schneiderhandwerk und in Krankenhäusern und Lazaretten . Ebenso besteht ein Unterschied für Betriebsarbeiterinnen und Heimarbeiterinnen .

Die Klägerin ist mit den ihr verbliebenen Kräften sicherlich nicht in der Lage , durch eine Betriebstätigkeit die Hälfte dessen zu verdienen , was eine angelernte Näherin während eines ganzen Arbeitsjahres , auf das letztlich abzustellen ist , durchschnittlich verdient , da sie nur halbtägig und zudem überhaupt nicht während der Zeiten , in welchen Schnee liegt oder Glatteisbildung eingetreten ist , tätig sein kann. Es war allerdings auch zu prüfen , ob die Klägerin nicht mit halbtägiger Heimarbeit die Hälfte dessen verdienen kann , was eine angelernte Näherin in diesem Sinne zu verdienen in der Lage ist . Wie das Berufungsgericht im Ergebnis zu Recht entschieden hat , ist auch dies nicht der Fall . Wenn auch unentschieden bleiben soll , ob die angelernte Heimnäherin , wie das Berufungsgericht meint , stets weniger verdient als die entsprechende Betriebsnäherin , so kann die Klägerin doch jedenfalls mit halbtägiger Heimarbeit nicht die Hälfte dessen verdienen , was die Vergleichsperson , d . h . die angelernte Näherin mit mittlerer Entlohnung , verdient . Unter Zugrundelegung der im Jahre 1957 geltenden Tarifverträge für die Bekleidungsindustrie , das Schneiderhandwerk und den öffentlichen Dienst liegt der mittlere Lohn einer angelernten Näherin zwischen 130 und 140 Dpfg pro Arbeitsstunde . Den entsprechen Tagesdurchschnittsverdienst würde die Klägerin aber , wenn sie ganztägig Heimarbeit leisten könnte , nicht erreichen . Sie ist lediglich drei Jahre in einem Luftwaffenlazarett tätig gewesen , so daß sich ihre Kenntnisse und Fähigkeiten auf die in einem Lazarett oder Krankenhaus anfallenden Arbeiten , d . h . auf das Ausbessern , allenfalls z . T . auch auf das Neuanfertigen von Wäschestücken , beschränken . Sie ist also nur in der Lage , einfache Heimnäharbeiten zu verrichten , die deutlich innerhalb der unteren Hälfte der für angelernte Näherinnen liegenden Lohnskala liegen , so daß sie den Durchschnittsverdienst in dem obigen Sinne nicht erreichen kann . Mit einer halbtägigen Tätigkeit , zu der die Klägerin allein noch in der Lage ist , kann sie daher weder als Betriebsnäherin noch als Heimnäherin die Hälfte des Einkommens der maßgebenden Vergleichsperson verdienen. Sie ist also berufsunfähig , wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat , so daß ihr die Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht .

Die Revision der Beklagten mußte daher als unbegründet zurückgewiesen werden .

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG .

 

Fundstellen

Haufe-Index 2336678

BSGE, 34

NJW 1962, 1271

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