Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 8. Dezember 1965 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Revisionsklägerin ist die Witwe des am 1. Juni 1966 gestorbenen Versicherten Heinrich C. und hat mit ihm zur Zeit seines Todes in häuslicher Gemeinschaft gelebt. Der Versicherte bezog von der Beklagten die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit und von der Bergbau-Berufsgenossenschaft (BBG) eine Rente wegen Berufskrankheit (Silikose) in Höhe von 30 v.H. Durch Bescheid der BBG vom 12. Januar 1961 wurde ihm vom 11. Februar 1960 an die Vollrente wegen Siliko-Tuberkulose bewilligt. Nachdem die Beklagte eine entsprechende Mitteilung der BBG erhalten hatte, berechnete sie die Rente für die Zeit vom 1. März 1960 an neu und stellte für die Zeit bis Februar 1961 einschließlich eine Überzahlung von 1246,80 DM fest; diesen Betrag hielt sie vom 1. März 1961 an in Raten von monatlich 60,– DM von der Rente des Versicherten ein. Sein gegen diesen Bescheid erhobener Widerspruch wurde zurückgewiesen.
Mit der Klage vor dem Sozialgericht beantragte der Versicherte, nachdem der Rückforderungsbetrag inzwischen einbehalten worden war, die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zur Zahlung von 1246,80 DM zu verurteilen. Die Klage wurde abgewiesen und die Berufung des Versicherten vom Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen.
In der Begründung des Berufungsurteils führt das LSG aus, der angefochtene Bescheid sei nicht rechtswidrig und der Versicherte habe keinen Anspruch auf Rückzahlung des einbehaltenen Betrages. Die Vorschrift des § 75 Abs. 4 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG), wonach die Knappschaftsrente unverkürzt bis zum Ende des Monats zu zahlen ist, in dem die Unfallrente zum ersten Mal ausgezahlt wird, sei auf Fälle der Erhöhung von Unfallrenten nicht anwendbar.
Um eine solche Rentenerhöhung wegen der Verschlimmerung eines schon vorliegenden Leidens und nicht etwa um die erstmalige Bewilligung einer Verletztenrente wegen einer weiteren Berufskrankheit handele es sich aber im vorliegenden Falle, obgleich die neue festgestellte Rente nicht mehr auf der Berufskrankheit Silikose, sondern auf der Berufskrankheit Siliko-Tuberkulose beruhe.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Mit der Revision rügt die Klägerin, die den Rechtsstreit des Versicherten als Sonderrechtsnachfolgerin fortsetzt, eine Verletzung des § 75 RKG. Diese Vorschrift regele das Zusammentreffen einer Verletztenrente mit einer Rente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung. Erst seit der Auszahlung im Januar 1961 sei aber die neue Unfallrente mit der Knappschaftsrente des Klägers „echt” zusammengetroffen. Für die Zeit von März bis Dezember 1960 dürfe die Knappschaftsrente daher nicht gekürzt werden. Ein rückwirkendes Zusammentreffen sei nicht möglich. Soweit sich das LSG auf die entgegengesetzte Rechtsprechung des Reichsversicherungsamte (RVA) beziehe, sei diese durch die Entscheidung des Bundessozialgerichts –BSG– (BSG 22, 233) überholt.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 6. September 1965 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihrer Bescheide zu verurteilen, die gemäß Bescheid vom 31. Januar 1961 einbehaltenen 1.246,80 DM zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig. Ferner weist sie darauf hin, daß die BBG dem Versicherten vom 1. Juni bis zum 21. Dezember 1960 Heilanstaltspflege und hierzu Familien- und Tagegeld gewährt habe; da diese Leistungen der Vollrente gleichstünden, müsse das erhöhte Ruhen der knappschaftlichen Rente jedenfalls vom 1. Juni 1960 an einsetzen.
II
Die Beklagte hat die Ruhensvorschrift des § 75 RKG zu Recht bereits vom 1. März 1960 an auf die Knappschaftsrente des Versicherten angewandt, weil die Voraussetzungen dafür vorlagen. Da das Ruhen kraft Gesetzes eintritt, kann es, wenn eine Verletztenrente rückwirkend gewährt wird, zu einem „Zusammentroffen” von Renten im Sinne dieser Vorschrift – entgegen der Ansicht der Klägerin – auch rückwirkend kommen. Allerdings ist nach § 75 Abs. 4 RKG die Rente unverkürzt bis zum Ende des Monats zu gewähren, in dem die Verletztenrente aus der Unfallversicherung (UV) zum ersten Mal ausgezahlt wird. Diese Sonderregelung ist aber – wie das LSG zutreffend erkannt hat – hier nicht anzuwenden, weil es sich bei den Leistungen aus der UV auf Grund des Bescheides der BBG vom 12. Januar 1961 nicht um die erstmalige Auszahlung einer Verletztenrente, sondern um die Erhöhung einer bisher schon gezahlten Verletztenrente handelte. Wie das frühere RVA in einer Entscheidung vom 2. März 1938 (EuM Bd, 42, 434) zu der damals maßgeblichen, inhaltlich entsprechenden Vorschrift des § 1274 Abs. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF ausgeführt hat, trifft diese Regelung nach ihrem Sinn und Zweck nur diejenigen Fälle, in denen einem Rentenberechtigten erstmals die Unfallrente ausgezahlt wird; in diesen Fällen soll verhütet werden, daß das Ruhen einer Invalidenrente wegen des gleichzeitigen Anspruchs auf eine Unfallrente bereits eintritt, ehe der Versicherte überhaupt in den Genuß einer Leistung aus der UV kommt. Dementsprechend hat das RVA mehrfach entschieden, daß die Vorschrift des § 1274 Abs. 5 RVO dann nicht anzuwenden ist, wenn die Unfallrente nachträglich erhöht wird (Grundsätzliche Entscheidung 5058 vom 30. Oktober 1936 – AN 1937, 81 mit zit. Vorentscheidungen). Bei der Neufassung des § 1274 Abs. 5 RVO (Art. 2 des Gesetzes vom 19. April 1939 – RGBl I 793) hat der Gesetzgeber diese Auslegung der Vorschrift durch das RVA dadurch bestätigt, daß er die Worte „… die Unfallrente tatsächlich gewährt wird” durch die Fassung „…. die Verletztenrente zum erstenmal ausgezahlt wird”, ersetzte. Jedenfalls hat der Gesetzgeber durch die Übernahme dieser Regelung in das neue, seit 1957 geltende Rentenrecht zu erkennen gegeben, daß insoweit der bisherige Rechtszustand, wie er nach der Rechtsprechung des RVA bestand, auch weiterhin bestehen bleiben sollte; hätte er die Sonderregelung auf die Fälle einer rückwirkenden Erhöhung der Unfallrente ausdehnen wollen, so hätte er – angesichts der bestehenden Rechtsprechung – den Wortlaut entsprechend ergänzt. Der Senat vermag aber auch keine Gründe zu erkennen, die eine solche Ausdehnung gerechtfertigt oder gar geboten erscheinen ließen. Ein Fall, in dem ein Träger der Rentenversicherung – wegen Erhöhung der Unfallrente – das erhöhte Ruhen seiner Rente feststellen und durchführen würde, bevor der Träger der UV seine erhöhte Leistung erstmalig erbracht hätte, ist höchstens als Ausnahmefall denkbar. Praktisch enthält § 75 Abs. 4 RKG (§ 1278 Abs. 4 RVO, § 1274 Abs. 5 RVO aF) in erster Linie eine Beschränkung der rückwirkenden Anrechnung der Unfallrente mit dem Ergebnis, daß der Rentenberechtigte, dem eine Unfallrente für längere Zeit rückwirkend bewilligt wird, insgesamt mehr erhält als ihm an sich zustehen würde; ihm wird das nachgezahlt, was er bisher aus der UV zuwenig, er darf aber behalten, was er bisher aus der Rentenversicherung zuviel erhalten hat. Dieses Ergebnis rechtfertigt sich nur unter dem Gesichtspunkt, daß das Vertrauen in den ungeschmälerten Besitz der bereits gezahlten Versichertenrente geschützt werden soll. Unter diesem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes ist aber eine unterschiedliche Behandlung im Falle der Erstgewährung einer Verletztenrente und dem einer nachträglichen Rentenerhöhung durchaus gerechtfertigt; denn wer bereits eine Unfallrente bezieht, muß immerhin mit der Möglichkeit einer Erhöhung rechnen und wird in der Regel auch über die Auswirkungen einer solchen Erhöhung auf seine Versichertenrente informiert sein. Der Senat schließt sich daher – wie bereits im Ergebnis aus seiner Entscheidung vom 25. März 1966 (SozR Nr. 4 zu § 75 RKG) hervorgeht – in Übereinstimmung mit dem Schrifttum (Brackmann, Handbuch der SozVers III S. 716 d; Koch/Hartmann AV I, 2, Aufl. S. 471; Verb.Komm. RVO Anm. 16 zu § 1278; Miesbach/Busl RKG Anm. 10 zu § 75; Schimanski RKG Anm. 10 zu § 75) der alten Rechtsprechung des RVA an, wonach die zeitliche Einschränkung des Rubens nach § 75 Abs. 4 (§ 1278 Abs. 4 RVO) RKG nicht eintritt, wenn eine Unfallrente nachträglich erhöht wird. Die von der Klägerin angeführte Entscheidung des 4. Senats (BSG 22, 233) betrifft diesen Fall nicht.
Das LSG hat auch zutreffend erkannt, daß es sich bei der Gewährung der Vollrente wegen Siliko-Tuberkulose um eine solche Erhöhung der Unfallrente, nämlich der bisher bereits gezahlten Rente wegen Silikose, handelt. Die bisherige Leistung wurde nicht entzogen, auch wurde die neue Leistung nicht neben ihr gewährt, sie trat vielmehr an deren Stelle. Es entspricht das dem besonderen Verhältnis, in dem diese beiden Berufskrankheiten zueinander stehen. Die Silikose wird in Verbindung mit einer aktiven Lungentuberkulose zur Siliko-Tuberkulose. Lag bereits eine entschädigungspflichtige Silikose vor, so entsteht zwar durch das Hinzutreten einer aktiven Tuberkulose ein neues, besonderes Krankheitsbild, versicherungsrechtlich handelt es sich dabei aber um eine Veränderung der bisher vorliegenden Berufskrankheit, die regelmäßig zu einer erhöhten Minderung der Erwerbsfähigkeit und damit zu einer Rentenerhöhung führt.
Ist somit die Rente zu Recht rückwirkend neu berechnet worden, so ist noch zu prüfen, ob auch die Rückforderung des hiernach überzahlten Betrages zu Recht angeordnet worden ist. Wie der Senat bereits entschieden hat (SozR Nr. 2 zu § 93 RKG), richtet sich die Rückforderung überzahlter Beträge auch dann nach § 93 RKG idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965, wenn der – noch nicht bindend gewordene – Bescheid über die Rückforderung bereits vor Erlaß dieses Gesetzes ergangen ist. Gemäß § 93 Abs. 2 RKG ist die Rückforderung in das pflichtgemäße Ermessen des Versicherungsträgers gestellt. Dieses Ermessen ist jedoch weitgehend eingeschränkt; er darf nämlich eine Leistung nur zurückfordern, wenn ihn für die Überzahlung kein Verschulden trifft, ferner nur soweit der Leistungsempfänger bei Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand, und schließlich soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist. Ein Verschulden des Versicherungsträgers an der Überzahlung wird regelmäßig dann vorliegen, wenn er trotz Kenntnis von der Gewährung der höheren Unfallrente oder der Anstaltspflege (§ 75 Abs. 2 Nr. 2 RKG) die Rente nicht innerhalb angemessener Frist neu festgestellt hat. Für die Kenntnis (bzw. das Wissenmüssen) des Versicherten von der Überzahlung kommt es darauf an, ob bzw. von wann ab er hinreichend sicher erkennen konnte, daß ihm eine höhere Leistung aus der Unfallversicherung zustand; hierfür kann ua seine Antragstellung sowie die Gewährung von Vorschüsse und Anstaltspflege von Bedeutung sein. Hierzu sowie zur Frage der „wirtschaftlichen Vertretbarkeit” der Rückforderung bedarf es weiterer tatsächlicher Feststellungen, die das Revisionsgericht nicht treffen kann. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.
Unterschriften
Richter, Dr. Dapprich, Dr. Witte
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 15.12.1967 durch Hartung RegObersekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 707794 |
BSGE, 253 |