Leitsatz (amtlich)
Die Zahlung des Verletztengeldes ist im Rahmen des RKG § 75 Abs 4 (= RVO § 1278 Abs 4) der Zahlung der Verletztenrente gleichzustellen, wenn die BG später rückwirkend die Verletztenvollrente unter Anrechnung des für die gleiche Zeit gezahlten Verletztengeldes gewährt (Anschluß BSG 1969-07-31 , 4 RJ 105/69 = SozR Nr 14 zu § 1278 RVO).
Normenkette
RKG § 75 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30; RVO § 1278 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30; RKG § 75 Abs. 4 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1278 Abs. 4 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. November 1969 und des Sozialgerichts Dortmund vom 25. Juli 1967 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger ein Drittel der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger erlitt am 3. Mai 1965 einen Arbeitsunfall. Die Beklagte zahlte im Auftrag der Bergbau-Berufsgenossenschaft (Bergbau-BG) das Verletztengeld bis zum 11. März 1966. Die Bergbau-BG leistete am 10. März 1966 erstmalig einen Vorschuß auf die Verletztenrente. Sie stellte mit Bescheid vom 17. Mai 1966 eine Verletztenrente von 70 v.H. der Vollrente vom 10. März 1966 an fest. Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 11. Juli 1966 die Gesamtleistung wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Mai 1965 bis zum 1. November 1965 und vom 1. April 1966 an sowie mit Bescheid vom 12. Juli 1966 die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zwischenzeit vom 2. November 1965 bis zum 31. März 1966. Die aufgelaufene Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit von 2867,41 DM behielt sie zunächst zur Befriedigung eventueller Ersatzansprüche ein. Die Bergbau-BG gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 9. August 1966 nachträglich die Vollrente in Höhe von monatlich 720,60 DM für die Zeit vom 2. November 1965 bis zum 9.März 1966. Auf die Rente rechnete sie das für die gleiche Zeit gezahlte Verletztengeld in Höhe von 2989,39 DM an. Den Rest von 85,20 DM zahlte sie an den Kläger aus. Die Beklagte stellte die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit mit Bescheid vom 23. November 1966 für die Zeit vom 1. Dezember 1965 bis zum 31. März 1966 neu fest. Dabei ging sie davon aus, daß die Auszahlung des Verletztengeldes der Auszahlung der Verletztenrente gleichzustellen sei, so daß die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit nur bis zum 30. November 1965 unverkürzt zu zahlen sei. Für den Monat Dezember 1965 legte sie eine Leistung aus der Unfallversicherung von 1077,50 DM zugrunde. Sie errechnete gegenüber der mit Bescheid vom 12. Juli 1966 festgestellten Leistung eine um 922,10 DM geringere Gesamtleistung. Sie zahlte nur die Differenz an den Kläger aus. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg.
Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten vom 23. November 1966 sowie den Widerspruchsbescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger den einbehaltenen Betrag von 922,10 DM auszuzahlen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die - vom SG zugelassene - Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe erstmalig am 10. März 1966 einen Vorschuß auf die Verletztenrente erhalten. Nach § 75 Abs. 4 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) sei daher die knappschaftliche Leistung bis zum 31. März 1966 unverkürzt zu zahlen. Die Zahlung des Verletztengeldes sei nicht der Auszahlung der Verletztenrente oder eines Vorschusses auf die Verletztenrente gleichzustellen. Sie sei - anders als der Vorschuß - keine Erfüllungsvorleistung, sondern die Erfüllung einer andersartigen Leistung. Im übrigen sei die Beklagte auch dann nicht zur Einbehaltung des vollen Betrages von 922,10 DM berechtigt, wenn man die Auszahlung des Verletztengeldes der Auszahlung der Verletztenrente gleichstelle. Für den Monat Dezember 1965 habe die Beklagte eine Verletztenrente von 1077,50 DM zugrundegelegt, obwohl sie von der Bergbau-BG für diesen Monat auf 720,60 DM festgestellt worden sei. Die Beklagte habe aber das Verletztengeld - wenn überhaupt - nur bis zur Höhe der festgestellten Verletztenrente bei der Anwendung der Ruhensvorschriften berücksichtigen dürfen.
Die Beklagte macht mit der vom LSG zugelassenen Revision geltend, die Auszahlung des Verletztengeldes sei der Auszahlung der Verletztenrente gleichzustellen, so daß die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit nur bis zum 30. November 1965 unverkürzt zu zahlen sei. Mit der rückwirkenden Feststellung der Vollrente durch die Bergbau-BG sei der Rechtsgrund für das Verletztengeld weggefallen. Diese Leistung verliere vom nachträglich festgestellten Beginn der Verletztenrente an ihren Charakter als Verletztengeld und werde rückwirkend zur Verletztenrente. Die anfänglich als Verletztenrente deklarierten Zahlungen seien daher ohne weiteres kraft Gesetzes auf den Anspruch auf die Verletztenrente anzurechnen.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Dortmund vom 25. Juli 1967 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig. Er ist der Ansicht, daß die auf die Verletztenrente anrechenbaren Leistungen nur dann das Ruhen der knappschaftlichen Rente bewirken können, wenn sie als echte Vorschüsse, d.h. Erfüllungsvorleistungen auf die Verletztenrente gezahlt worden seien. Das Verletztengeld sei aber nicht als Erfüllungsvorleistung auf die Verletztenrente gezahlt worden, sondern als eine andersartige Leistung.
Die Beklagte hat sich im Termin vom 15. Dezember 1971 bereiterklärt, die von der Bergbau-BG für den Monat Dezember 1965 geleistete Zahlung nur in Höhe der später festgesetzten Unfallvollrente in Anrechnung zu bringen. Der Kläger hat dieses Anerkenntnis angenommen.
II
Die zulässige Revision der Beklagten hat Erfolg. Das LSG hat die Berufung der Beklagten zu Unrecht zurückgewiesen und damit die Verurteilung der Beklagten zur Auszahlung des einbehaltenen Betrages von 922,10 DM zu Unrecht bestätigt.
Die Beklagte war berechtigt, die mit Bescheid vom 12. Juli 1966 festgestellte Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Dezember 1965 bis zum 31. März 1966 neu und niedriger festzustellen. Zwar ist der Bescheid vom 12. Juli 1966 zunächst nach § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindend geworden. Der Senat hat jedoch - im Ergebnis übereinstimmend mit der bisherigen Rechtsprechung - bereits entschieden, daß der Versicherungsträger berechtigt ist, eine Neufeststellung der Rente zu Ungunsten des Berechtigten unter Berücksichtigung der Ruhensvorschriften vorzunehmen, wenn nach der Rentenfeststellung eine Rente aus der Unfallversicherung rückwirkend für eine Zeit vor Erlaß des Rentenbescheides gewährt wird (Urteil vom 25.11.1971 - 5 RKn 20/70 -). Zwar enthalten weder das RKG noch die übrigen Sozialversicherungsgesetze für einen solchen Fall eine ausdrückliche Ermächtigung zur Änderung des früheren Bescheides. Es kann jedoch nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber den Versicherungsträger an dem rechtswidrigen Bescheid festhalten will. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß er es unbeabsichtigt versäumt hat, diesen Tatbestand ausdrücklich zu regeln, daß insoweit also eine Gesetzeslücke vorliegt. Der § 78 RKG zeigt deutlich, daß der Gesetzgeber sicherstellen wollte, daß der Rentenversicherungsträger das Ruhen der Rente nach den §§ 75 Abs. 1, 76 Abs. 1 RKG berücksichtigen und einen erlassenen Bescheid der materiellen Rechtslage anpassen kann, denn andernfalls hätte die Meldepflicht des Versicherten keinen Sinn. Dadurch wird deutlich, in welchem Sinne die vorhandene Gesetzeslücke geschlossen werden soll. Die Beklagte war daher berechtigt, vom Eintritt des Ruhenstatbestandes an eine Neufeststellung der Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit vorzunehmen.
Nach § 75 Abs. 1 Satz 1 RKG ruht eine knappschaftliche Rente, die mit einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zusammentrifft, in der näher bestimmten Höhe. Diese Vorschrift will verhindern, daß das gesamte Renteneinkommen eines Versicherten höher als sein früheres Arbeitseinkommen ist. Die in § 75 Abs. 1 Satz 1 RKG genannten Renten treffen nicht erst dann zusammen, wenn sie durch Bescheid festgestellt sind, sondern schon dann, wenn materiell ein Anspruch darauf besteht. Nach § 75 Abs. 1 Satz 1 RKG ist das Ruhen also schon am 2. November 1965 eingetreten. Nach § 75 Abs. 4 RKG wird die knappschaftliche Rente jedoch unverkürzt bis zum Ende des Monats gewährt, in dem die Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zum ersten Mal ausgezahlt wird. Diese Vorschrift will verhindern, daß die knappschaftliche Rente gekürzt wird, bevor dem Berechtigten die Rente aus der Unfallversicherung tatsächlich zur Verfügung steht. Sie erfaßt nur den Fall, daß die knappschaftliche Rente zu einem Zeitpunkt festgestellt und ausgezahlt wird, in dem die Unfallrente noch nicht gezahlt wird. In diesem Fall bedarf der Berechtigte zur Sicherstellung seines Lebensunterhalts zunächst der vollen knappschaftlichen Rente. Die Vorschrift erfaßt aber nicht die Fälle, in denen zuerst die Rente aus der Unfallversicherung ausgezahlt und erst später die knappschaftliche Rente festgestellt und ausgezahlt wird. In einem solchen Fall ist nicht § 75 Abs. 4 RKG, sondern § 85 Abs. 2 RKG anzuwenden, wonach die knappschaftliche Rente für den Monat, in dem das Ruhen eintritt für den ganzen Monat gezahlt wird (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 25.11.1971 - 5 RKn 20/70 -).
Im vorliegenden Fall sind dem Kläger bereits vor Feststellung der Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung gezahlt worden. Diese Leistungen waren weder unmittelbar Zahlungen zur Erfüllung der Verletztenrente noch Vorschüsse auf eine etwa noch festzustellende Verletztenrente, sondern Verletztengeld. Nachdem nun im vorliegenden Fall später rückwirkend die Vollrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung gewährt wurde, entfiel insoweit der Anspruch auf das Verletztengeld. Denn neben einem Anspruch auf Vollrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung besteht kein Anspruch auf Verletztengeld. Die Bergbau-BG hat das Verletztengeld daher zutreffend auf die zu zahlende Vollrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung angerechnet. In einem solchen Fall ist im Rahmen des § 75 Abs. 4 RKG (= § 1278 Abs. 4 RVO) die Zahlung des Verletztengeldes wie eine Zahlung von Verletzten-Vollrente zu behandeln, weil die Interessenlage keine andere ist als in den Fällen, in denen es sich von vornherein um Rentenleistungen oder um Vorschußleistungen auf eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung handelt. Dies kann allerdings nur gelten, wenn Verletztengeldzahlungen von demselben Versicherungsträger - oder, wie hier, in dessen Auftrag - demselben Berechtigten wegen desselben Unfalls oder derselben Berufskrankheit zum Zwecke des Unterhalts für dieselbe Zeit, wie die später - rückwirkend - festgestellte Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung selbst gewährt werden, und wenn diese Leistungen später auf diesen Rentenanspruch angerechnet werden. In solchen Fällen stehen dem Versicherten tatsächlich für dieselbe Zeit bereits vergleichbare, dem Unterhalt dienende Leistungen aus der Unfallversicherung und aus der Rentenversicherung zur Verfügung, so daß der Schutzzweck des § 75 Abs. 4 RKG (= § 1278 Abs. 4 RVO) nicht durchgreift (vgl. dazu auch SozR Nr. 14 zu § 1278 RVO). Da bereits im November 1965 im Auftrag der Bergbau-BG Verletztengeld gezahlt worden ist, liegt der Fall also so, als ob Zahlungen zur unmittelbaren Erfüllung der Verletztenrente bereits vor den Leistungen aus der knappschaftlichen Rentenversicherung erfolgt sind. In einem solchen Falle ist, wie oben bereits ausgeführt worden ist, nicht § 75 Abs. 4 RKG (= § 1278 Abs. 3 RVO), sondern § 85 Abs. 2 RKG (= § 1294 RVO) anzuwenden. Da das Ruhen nach § 75 Abs. 1 RKG (= § 1278 Abs. 1 RVO) bereits im November 1965 eingetreten ist, war die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit daher nur bis zum 30. November 1965 unverkürzt zu zahlen. Die Beklagte hat also mit Recht vom 1. Dezember 1965 an eine Kürzung nach § 75 Abs. 1 RKG (= § 1278 Abs. 1 RVO) vorgenommen.
Der Senat brauchte nicht zu entscheiden, ob die Kürzung für den Monat Dezember 1965 in richtiger Höhe erfolgt ist, weil insoweit das vom Kläger angenommene Anerkenntnis der Beklagten den Rechtsstreit erledigt hat.
Die begründete Revision der Beklagten führt zur Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile und zur Abweisung der Klage.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen