Leitsatz (amtlich)
Die Auswirkungen der Beschlüsse des GrS des BSG vom 1969-12-11 (BSGE 30, 167 ff und 192 ff) sind hinsichtlich des Vorliegens eines praktisch verschlossenen Arbeitsmarktes grundsätzlich nur bei Teilzeitarbeiten erheblich. Bei Vollzeittätigkeiten, die von den Vertragsparteien in den Tarifverträgen erfaßt sind, ist - von ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen abgesehen - davon auszugehen, daß ein offener Arbeitsmarkt vorhanden ist.
Normenkette
RKG § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 16. Juli 1970 wird zurückgewiesen.
Die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens haben sich die Beteiligten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist, ob dem Kläger statt der ihm ab 1. November 1966 bewilligten Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit ab 1. Juli 1968 die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit zu bewilligen ist.
Der im Jahre 1927 geborene Kläger war vom Jahre 1951 an als Hauer tätig und beantragte im November 1966 Knappschaftsrente. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 1. Juni 1967 die Bergmannsrente und lehnte weitergehende Rentenleistungen ab, weil der Kläger weder berufsunfähig noch erwerbsunfähig sei. Der gegen diesen Bescheid eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 18. August 1967 zurückgewiesen.
Mit Urteil vom 21. Oktober 1969 hat das Sozialgericht (SG) die angefochtenen Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Juli 1968 die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 16. Juli 1970 das Urteil des SG Koblenz aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das LSG hat festgestellt, der Kläger könne nicht mehr Untertage tätig sein und auch keine schweren oder mittelschweren, sondern nur noch leichtere Tätigkeiten vollschichtig verrichten. Hierbei müsse er sich öfter hinsetzen und ausruhen können. In Betracht kämen in knappschaftlichen Betrieben die Tätigkeiten des Verwiegers, Schaltpultwärters, Lampenstubenaufsehers, auf die er zumutbar verwiesen werden könne. In nichtknappschaftlichen Betrieben könne er noch auf die Tätigkeiten eines Kranführers in Baubetrieben, eines Verwiegers an Gemeindewaagen und eines Materialkontrolleurs in Industriebetrieben verwiesen werden. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Mit der von ihm eingelegten Revision rügt der Kläger eine unrichtige Anwendung des § 46 Abs. 2 Reichsknappschaftsgesetz (RKG). Es sei zwar richtig, daß es unter den Tätigkeiten, die einem Hauer sozial zumutbar seien, auch leichte Tätigkeiten gebe. Es sei jedoch zu prüfen, ob hierfür Arbeitsplätze in ausreichender Zahl vorhanden seien. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger als 75 : 100 sei, könne nicht nur für Teilzeitarbeitsplätze gelten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 16. Juli 1970 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 21. Oktober 1969 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, ein im Hauptberuf als Hauer tätig gewesener Versicherter könne im Rahmen des § 46 Abs. 2 RKG auf die Tätigkeiten eines Verwiegers, Tafelführers und Stellwerkswärters zumutbar verwiesen werden.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet.
Bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit hat das LSG, was auch nicht streitig ist, mit Recht den Hauerberuf als Hauptberuf des Klägers angesehen.
Da der Kläger den Hauerberuf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann, hängt die Entscheidung, ob er berufsunfähig im Sinne des § 46 Abs. 2 RKG (= § 1246 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -) ist, davon ab, ob er nach seinem Gesundheitszustand und nach seinem Wissen und Können darüber hinaus auch nicht mehr imstande ist, ihm zumutbare andere Tätigkeiten zu verrichten, mit denen er noch die Hälfte dessen erwerben kann, was ein gesunder Versicherter mit ähnlicher Ausbildung und gleichen Kenntnissen und Fähigkeiten zu erwerben in der Lage ist. Die Feststellungen des LSG, daß der Kläger in Bergwerksbetrieben die Tätigkeiten eines Verwiegers, Schaltpultwärters und Aufsehers in der Lampenstube verrichten und außerhalb des Bergbaus als Verwieger an Gemeindewaagen und als Materialkontrolleur in Industriebetrieben vollschichtig tätig sein könne, werden mit der Revision nicht angegriffen. Das LSG durfte zudem diese Tätigkeiten des Schaltpultwärters in Bergbaubetrieben und die des Verwiegers in Bergbau- und anderen Betrieben als einem Hauer zumutbare Tätigkeiten im Sinne der §§ 46 Abs. 2 RKG, 1246 Abs. 2 RVO ansehen. Zwar handelt es sich dabei um Tätigkeiten, die keine Lehrzeit und auch keine längere Anlernzeit erfordern, jedoch heben sie sich aus den Tätigkeiten der unteren Gruppe der Arbeiterberufe heraus, weil sie ein besonderes Verantwortungsbewußtsein voraussetzen. Diese besonderen Anforderungen und die Bedeutung dieser Tätigkeiten für den Betrieb kommen auch in ihrer tariflichen Einstufung zum Ausdruck. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG kann aber ein nach seinem bisherigen Beruf der oberen Gruppe der Arbeiterberufe zugeordneter Versicherter, sofern er nach seinen gesundheitlichen Kräften dazu imstande und nach seinen Kenntnissen und Erfahrungen dazu fähig ist, auch auf Tätigkeiten der unteren Gruppe verwiesen werden, die sich aus dem allgemeinen Kreis der Tätigkeiten dieser Gruppe hervorheben. Bei Prüfung der Berufsunfähigkeit kann der Kläger zudem - anders als bei der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit - auch auf zumutbare Tätigkeiten außerhalb des Bergbaus verwiesen werden.
Der Kläger macht auch nicht geltend, daß er nach seinem Wissen und Können nicht in der Lage sei, diese Tätigkeiten zu verrichten; er ist aber der Ansicht, bei diesen Tätigkeiten sei der Arbeitsmarkt nicht offen im Sinne der Beschlüsse des Großen Senats des BSG vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167 ff und 192 ff). Er verkennt jedoch, daß es sich bei der Anwendung der §§ 46 Abs. 2 RKG und 1246 Abs. 2 RVO grundsätzlich nur darum handelt, ob ein Versicherter "fähig" ist, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, nicht aber darum, ob er einen entsprechenden Arbeitsplatz innehat oder auch nur Aussicht hat, einen solchen zu finden. Der Große Senat hat in den genannten Beschlüssen lediglich entschieden, daß eine Ausnahme von diesem Grundsatz dann angenommen werden müsse, wenn die Zahl der Arbeitsplätze für eine bestimmte Tätigkeit so gering ist, daß dem Versicherten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist und damit seine "Fähigkeit", eine solche Tätigkeit zu verrichten, damit praktisch entfällt. Die Auswirkung dieser Entscheidung hat in aller Regel Bedeutung nur für Teilzeitarbeiten. Bei Vollzeittätigkeiten könnten diese Grundsätze zwar in besonders gelagerten Fällen auch einmal zu dem Ergebnis führen, daß der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist, doch kann es sich jedenfalls bei Vollzeittätigkeiten, die von den Tarifverträgen erfaßt sind, nur um ganz besonders gelagerte Ausnahmefälle handeln. Die Verwaltung und die Gerichte dürfen, wenn keine Anhaltspunkte für einen solchen Ausnahmefall ersichtlich sind, davon ausgehen, daß bei Vollzeittätigkeit, die tariflich erfaßt ist, der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen ist. Für einen Ausnahmefall dieser Art ergab sich bei den vom LSG festgestellten Verweisungstätigkeiten kein Anhalt, so daß das LSG hierzu auch keine Beweise zu erheben brauchte.
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des LSG mußte daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen