Entscheidungsstichwort (Thema)
Verspäteter Rentenantrag
Leitsatz (redaktionell)
Wird ein Rentenantrag später als 3 Monate nach dem Versicherungsfall der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit gestellt, beginnt er selbst dann mit dem Antragsmonat, wenn der Versicherte geltend macht, sein Gesundheitsschaden sei erst nachträglich in seinem tatsächlichen Ausmaß erkannt worden.
Normenkette
RVO § 1290 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
SG Osnabrück (Entscheidung vom 17.03.1976; Aktenzeichen L 2 J 255/74) |
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 22.08.1974; Aktenzeichen S 1 J 130/73) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. März 1976 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist der Beginn der Berufsunfähigkeitsrente.
Die 1936 geborene Klägerin hatte im erlernten Friseurberuf bis 1961 gearbeitet. Im Februar 1972 beantragte sie bei der Beklagten die Gewährung der Rente. Der im Verwaltungsverfahren gehörte Facharzt für Nervenkrankheiten Dr. med. Sch. stellte leichte rechtsseitige Halbseitenstörungen fest; er deutete sie als Resterscheinung des 1960 durchgemachten Schubes einer Encephalomyelitis. Er hielt die Klägerin für fähig, ohne zeitliche Einschränkung leichte körperliche Tätigkeiten zu verrichten, führte jedoch aus, seit 1961 könne sie als Friseuse nicht mehr arbeiten. Daraufhin gewährte die Beklagte, ausgehend von einem 1961 eingetretenen Versicherungsfall, von Februar 1972 an Rente wegen Berufsunfähigkeit (Bescheid vom 28. Dezember 1972).
Mit der Klage hat die Klägerin beantragt, die Berufsunfähigkeitsrente bereits für die Zeit ab November 1961 zu gewähren; es sei zu berücksichtigen, daß es sich um einen erst nachträglich in seinem vollen Ausmaß erkannten Gesundheitsschaden handele; deshalb habe auch die Allgemeine Ortskrankenkasse für den Kreis M. 1974 Arbeitsunfähigkeit für einen Zeitraum ab 24. April 1961 anerkannt und Krankengeld nachgezahlt.
Das Sozialgericht (SG) Osnabrück hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 22. August 1974). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat die - zugelassene - Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 17. März 1976). In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Da der Rentenantrag später als drei Monate nach Eintritt der Berufsunfähigkeit gestellt worden sei, könne die Rente entsprechend der im angefochtenen Bescheid getroffenen Regelung erst mit dem 1. Februar 1972 beginnen (§ 1290 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -). Die Dreimonatsfrist solle die umgehende Rentenantragstellung bewirken, um Beweisschwierigkeiten sowie etwaige Unsicherheiten möglichst gering zu halten; deshalb komme es grundsätzlich nicht darauf an, aus welchen Gründen der Versicherte die Rente erst nach Ablauf dieser Frist beantrage. Eine Ausnahme hiervon habe das Bundessozialgericht (BSG) lediglich im Falle eines Geschäftsunfähigen zugelassen (BSG in SozR Nr. 18 zu § 1290 RVO) und angenommen, daß in entsprechender Anwendung des § 206 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) der Ablauf der Antragsfrist gehemmt sei. Daß bei der Klägerin jemals eine die Geschäftsfähigkeit ausschließende oder wesentlich herabsetzende Erkrankung vorgelegen habe, sei nicht festzustellen. Weder die in den Beiakten befindlichen Ablichtungen vertrauensärztlicher Gutachten aus den Jahren 1960/61 noch die Befundberichte der Ärzte, die damals die Behandlung der Klägerin durchgeführt hätten, böten einen Anhalt dafür, daß die Klägerin an einer die freie Willensbestimmung ausschließenden Krankheit gelitten habe.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin, das LSG habe es pflichtwidrig unterlassen, tatsächlich aufzuklären, ob sie seinerzeit geschäftsunfähig oder beschränkt geschäftsfähig gewesen sei. Allein die Aussage des Berufungsgerichts, es habe dies nicht feststellen können, genüge nicht.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte in Abänderung ihres Bescheides zu verurteilen, schon für die Zeit ab November 1961 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist unbegründet. Der Klägerin steht kein Rentenanspruch für die Zeit vor Februar 1972 zu.
Nach § 1290 Abs. 2 RVO ist die Rente wegen Berufsunfähigkeit (oder Erwerbsunfähigkeit) vom Beginn des Antragsmonats an zu gewähren, wenn der Antrag später als drei Monate nach dem Eintritt der Berufsunfähigkeit (oder der Erwerbsunfähigkeit) gestellt wird. Diese Dreimonatsfrist hat die Klägerin nicht eingehalten; denn nach den von ihr insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit bereits 1961 eingetreten, während die Rente erst im Februar 1972 beantragt wurde. Gegenüber dem klaren Gesetzeswortlaut sind weder allgemeine rechtliche Erwägungen geeignet, auch bei einem nach Ablauf der vorgenannten Frist gestellten Antrag die Rentengewährung für die rückwärtige Zeit auszulösen, noch kann es grundsätzlich darauf ankommen, weshalb die Rente erst längere Zeit nach Eintritt des Versicherungsfalles beantragt wurde. Daher kann nicht berücksichtigt werden, wenn sich die Klägerin (zumindest sinngemäß) auf den Grundsatz von Treu und Glauben berufen hat (vgl. BSGE 21, 129, 132) und es ist unerheblich, daß sie ihrem Vortrag in den Tatsacheninstanzen zufolge 1961 wegen vermeintlicher Aussichtslosigkeit davon abgesehen hat, bereits damals Rente zu beantragen. An dieser Beurteilung ändert sich selbst dadurch nichts, daß zu jener Zeit insbesondere im Hinblick auf das Ergebnis der vertrauensärztlichen Gutachten der AOK - möglicherweise weil eine Contergan-Schädigung als Ursache für die festgestellte Trigeminusneuralgie außer Betracht blieb - schwerlich mit einem zuerkennenden Rentenbescheid hätte gerechnet werden können. Der Gesetzgeber hat es im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens bei der Antragsmaxime belassen, soweit es sich um Renten wegen Erwerbsminderung handelt. Der Grund dafür ist in den Schwierigkeiten zu suchen, einen längere Zeit zurückliegenden Zeitpunkt des Eintritts der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit festzustellen (vgl. BSG in SozR Nr. 18 zu § 1290 RVO). Was in BSGE 21, 129, 132 zur Beginnsvorschrift des § 1286 RVO in der bis 1956 geltenden Fassung (a. F.) gesagt ist, hat sinngemäß auch hier Gültigkeit: Dem Versicherten wird vom Gesetzgeber "zugemutet", an der Gestaltung seines Versicherungsverhältnisses in der Weise mitzuwirken, daß er - um Rechtsnachteile für die zurückliegende Zeit zu vermeiden - den Antrag auf eine Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bald nach Eintritt der voraussichtlich nicht nur vorübergehenden Minderung der Erwerbsfähigkeit stellt.
Daß das strenge, in § 1290 Abs. 2 RVO zum Ausdruck gekommene Prinzip der Antragsmaxime nicht schon dann durchbrochen werden kann, wenn der Versicherte verständlicherweise den rechtzeitigen Rentenantrag unterläßt, wird auch an Vorschriften deutlich, die eigens erlassen wurden, um unter bestimmten - hier nicht vorliegenden - Voraussetzungen § 1290 Abs. 2 RVO auszuschalten oder in seinem Wirkungsbereich einzuengen. So findet diese Vorschrift auf denjenigen keine Anwendung, der als Berechtigter nach dem Fremdrentengesetz (FRG) bis zur Aufenthaltsnahme im Bundesgebiet einschließlich Berlin (West) im Herkunftsland eine Rente oder rentenähnliche Leistung wegen Erwerbsminderung aufgrund von Zeiten erhalten hat, die nach §§ 15, 16 FRG anzurechnen sind (§ 30 FRG). Der durch das Rehabilitations-Angleichungsgesetz vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) angefügte § 1241 d RVO wirkt insofern auf § 1290 Abs. 2 RVO zurück, als danach (Abs. 3 der Vorschrift) der Antrag auf Rehabilitation als Antrag auf Rente gilt, wenn der Versicherte berufs- oder erwerbsunfähig ist und eine wesentliche Besserung oder die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit nicht erwartet werden kann.
Über diese gesetzlich geregelten Sondertatbestände hinaus kann nur ausnahmsweise das Interesse des Versicherten so schutzwürdig sein, daß ein unterlassener oder "verspäteter" Antrag als rechtzeitig gestellt angesehen wird. So geht die Rechtsprechung in Anwendung des in § 206 BGB enthaltenen Rechtsgedankens davon aus, daß die Antragsfrist des § 1290 Abs. 2 RVO solange nicht abläuft, wie der Berechtigte geschäftsunfähig ist (Urteil vom 28.11.1973 - 4 RJ 159/72 = SozR Nr. 18 zu § 1290 RVO, sowie Nr. 12 zu Art. 2 § 44 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes). Um einen solchen Fall handelt es sich jedoch hier nicht. Im Urteil des LSG ist anhand des im Verwaltungsverfahren eingeholten nervenfachärztlichen Gutachtens, der aus den Jahren 1960/61 stammenden vertrauensärztlichen Gutachten sowie der Befundberichte über jene Zeit im einzelnen dargelegt, daß und weshalb bei der Klägerin keine die Geschäftsfähigkeit ausschließende oder auch nur wesentlich einschränkende Erkrankung hat festgestellt werden können. Zwar ist dies von der Revision mit dem Hinweis angegriffen worden, es sei noch "entsprechende Aufklärung zu suchen" gewesen. Dieses Vorbringen der Klägerin enthält indessen keinen zulässigen und begründeten Revisionsgrund im Sinne des § 163 SGG; Zumindest wäre darzulegen gewesen, welche Aufklärung noch hätte durchgeführt werden müssen und zu dem angestrebten Ziel hätte führen können; dies um so eher, als der vom LSG festgestellte Sachverhalt keinen greifbaren Anhaltspunkt bietet, daß die Klägerin geschäftsunfähig gewesen sei.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen