Leitsatz (amtlich)
Die Prüfungsgremien der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen haben beim statistischen Prüfungsverfahren ein Ermessen innerhalb des Honorar-Kürzungsverfahrens auch insoweit, als es beim Vorliegen eines offensichtlichen Mißverhältnisses zwischen dem abgerechneten Honorar und dem Durchschnitt anderer Ärzte um die Berücksichtigung des Umstandes der Neuzulassung des Kassen(zahn)arztes geht (Abgrenzung zu BSG 26.4.1978 - 6 RKa 14/77, BSGE 46, 145 = SozR 5550 § 14 Nr 2 und BSG 18.5.1983 - 6 RKa 18/80, BSGE 55, 110 = SozR 2200 § 368n Nr 27).
Normenkette
RVO § 368n Abs 4 S 1, § 368 Abs 1; EKV-Ä § 15
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 10.06.1986; Aktenzeichen L 6 Ka 17/84) |
SG Kiel (Entscheidung vom 01.08.1984; Aktenzeichen S 8 Ka 25/82) |
Tatbestand
Der Prüfungsausschuß bei der Beigeladenen Ziffer 5 (Kassenzahnärztliche Vereinigung) hat gegenüber dem seit März 1974 als Kassenzahnarzt zugelassenen Kläger Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise in den Quartalen IV/1974 bis IV/1975 vorgenommen; die Überschreitungen des Zahnarztes gegenüber dem Durchschnitt seiner Kollegen lägen im Bereich des offensichtlichen Mißverhältnisses. Der Beklagte hat den (letzten) Widerspruch zurückgewiesen. Das Sozialgericht (SG) hat (durch Urteil vom 1. August 1984) die Bescheide hinsichtlich der Quartale IV/1974 und I/1975 aufgehoben und im übrigen die Klage abgewiesen. Wegen der Aufhebung hat es ausgeführt, daß es sich bei diesen Quartalen um die beiden letzten Quartale des Anfangsjahres des Klägers gehandelt habe, der erstmals im Juli 1976 auf die Unwirtschaftlichkeit seiner Behandlungsweise hingewiesen worden sei und seit dem Quartal I/1976 keine Kürzungen mehr habe hinnehmen müssen, was zeige, daß die Überschreitungen im wesentlichen auf seine Unerfahrenheit zurückzuführen seien. Die Berufung des Klägers und die Anschlußberufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen.
Zur Anschlußberufung hat es ausgeführt: Das SG habe im Ergebnis zu Recht die angefochtenen Bescheide aufgehoben, soweit sie Kürzungen für die Quartale IV/1974 und I/1975 verhängt hätten. Zwar habe der Kläger auch in diesen Quartalen den durchschnittlichen Fallwert um 91,6 bzw 97,6 % überschritten, so daß damit ein offensichtliches Mißverhältnis vorliege. Der Senat halte jedoch an seiner im Urteil vom 2. November 1982 - L 6 Ka 11/81 - näher dargelegten Auffassung fest, daß "für die Beurteilung des Abrechnungsverhaltens neu zugelassener Kassenärzte - Kassenzahnärzte - modifizierte Maßstäbe gelten" müßten. Insoweit sehe sich das Gericht nicht im Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (BSGE 46, 145, 150). Wenn der Arzt, wie hier, während des ersten Jahres seiner Berufsausübung noch nicht belehrt worden sei, könne dies das Ermessen so weit einengen, daß eine Kürzung überhaupt nicht durchzuführen sei. Zu den Gründen dieser Ermessenseinschränkung gehöre der Umstand, daß der Kläger erst einen Patientenstamm habe aufbauen müssen, bei dem jedenfalls nach seiner derzeitigen Sicht ein besonders hoher Behandlungsbedarf bestanden habe. Diese Gründe seien geeignet, die Annahme einer offensichtlich unwirtschaftlichen Behandlungsweise auszuschließen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Beklagten. Er beruft sich in erster Linie auf die Entscheidungen BSGE 46, 145, 150 und 55, 110, 114; die Tatsache der Neuzulassung des geprüften Arztes bei der Honorarkürzung wegen offensichtlicher Unwirtschaftlichkeit habe unberücksichtigt zu bleiben.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. Juni 1986 - L 6 Ka 17/84 - sowie das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 1. August 1984 - S 8 Ka 25/82 - abzuändern und die Klage auch hinsichtlich der Kürzungen für die Quartale IV/1974 und I/1975 abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des LSG, soweit sie durch die Revision angegriffen wird, für zutreffend.
Die Beigeladenen Ziffern 1 bis 4 sind dem Antrag des Beklagten beigetreten.
Die Beigeladene Ziffer 5 beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. Juni 1986 - L 6 Ka 17/84 - sowie des Sozialgerichts Kiel vom 1. August 1984 - S 8 Ka 25/82 - abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, die Quartale IV/1974 und I/1975 unter Beachtung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats neu zu bescheiden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten war - mit der sich aus dem Urteilstenor ergebenden Maßgabe - zurückzuweisen.
Wie der Senat in zahlreichen Fällen entschieden hat, haben die zur Überwachung der Wirtschaftlichkeit der kassen- und vertragsärztlichen Versorgung bei den Kassenärztlichen Vereinigungen eingerichteten Prüfungsgremien (vgl §§ 368n Abs 4, 368 Abs 1, letzter Satz der Reichsversicherungsordnung -RVO-; § 15 des Ersatzkassenvertrages -EKV-) einen Ermessensspielraum insoweit, als es bei der Ermittlung im Wege des statistischen Vergleichs um den Bereich des Kürzungsverfahrens, also um die Festlegung des Honorarkürzungs- und Schadensersatzbetrages geht. Die Verwaltung kann hier dem Tatbestandsmerkmal "unwirtschaftliche Behandlungsweise" einzelne rechtsfolgenbejahende (kürzungsbejahende) oder rechtsfolgenverneinende (kürzungsverneinende) Gesichtspunkte hinzufügen bzw kürzungserhöhende oder kürzungsmindernde Gesichtspunkte berücksichtigen. Damit ist ihr nicht nur ein Beurteilungsspielraum im engeren Sinne gegeben, sondern ein echtes Ermessen insofern, als sie nicht nur ein Tatbestandsmerkmal relativ frei auslegt, sondern zusätzliche Tatbestandsmerkmale (die Rechtsfolge positiv oder negativ beeinflussender Art) berücksichtigt (Baader, Zur gerichtlichen Überprüfbarkeit des statistischen Unwirtschaftlichkeitsbeweises im Kassenarztrecht, SGb 1986, 309, 313). Das kommt insbesondere auch darin zum Ausdruck, daß die Prüfungsgremien, wie der Senat in seinen Urteilen vom 8. Juni 1982 (6 RKa 12/80) und vom 9. Juni 1982 (6 RKa 1/81) ausdrücklich hervorgehoben hat, im Einzelfall von Kürzungen auch ganz absehen können (BSGE 53, 284, 290 f = SozR 5550, § 15 EKV-Ärzte Nr 1; KVRS A-6100/9). Bei dem im Rahmen des Kürzungsverfahrens gegebenen Entscheidungsspielraum handelt es sich daher um ein echtes Ermessen in dem beschriebenen Sinne. Damit ist die Verwaltung aber auch zugleich gehalten, bei ihrer Entscheidung das rechtliche Verbot der Willkür bzw das Gebot der Gleichbehandlung zu beachten. In dem oben genannten Urteil vom 9. Juni 1982 hat der Senat dementsprechend ausgeführt, daß die Beklagte bei dieser Ermessensentscheidung vor allem den Gleichbehandlungsgrundsatz zu befolgen habe, der es verbiete, bei einem Arzt Honorarkürzungen vorzunehmen und bei einem anderen davon abzusehen, wenn sachliche Gründe für eine unterschiedliche Behandlung nicht vorlägen.
In seinen Entscheidungen vom 26. April 1978 (6 RKa 14/77) und vom 18. Mai 1983 (6 RKa 18/80) hat der Senat allerdings ausgeführt, daß das Prüfgremium im Rahmen seines Ermessens den Umstand der Neuzulassung des geprüften Arztes nicht berücksichtigen könne, soweit ein Fall des offensichtlichen M i ß v e r h ä l t n i s s e s vorliege (BSGE 46, 145, 150; BSGE 55, 110, 114). Schon in seinem Urteil vom 11. Juni 1986 (6 RKa 2/85) hat der Senat diesen Ausschluß jedoch auf die Fälle "offensichtlicher U n w i r t s c h a f t l i c h k e i t " beschränkt (SozR 2200 § 368n RVO Nr 44) Darüber hinaus hat er in seinem Urteil vom 2. Juni 1987 (6 RKa 23/86) auch ausgeführt, daß zu unterscheiden sei, ob der geprüfte Arzt mit dem Vorbringen, er sei in der streitigen Zeit Praxisanfänger gewesen, einen erhöhten Behandlungsbedarf oder lediglich seine Anfangsschwierigkeiten geltend machen wolle und daß ersteres im Rahmen der Feststellung des Mehrbedarfs, letzteres bei der Ermessensentscheidung über die Höhe des Kürzungsbetrages zu prüfen sei (vgl auch BSG SozR aaO S 152). Damit wird auch deutlich, daß die oben angeführte Rechtsprechung des Senats sich immer nur auf den Umstand der subjektiven Unerfahrenheit des Arztes bezogen hat. So wird in dem oben genannten Urteil vom 26. April 1978 (BSGE 46, 145, 150) ausgeführt, daß die (dort) angefochtene Honorarkürzung einen Zeitraum betreffe, in dem der "uninformierte" Arzt im allgemeinen noch nicht wisse, wie sich seine Behandlungsweise kostenmäßig zu der seiner Fachgruppe verhalte und daß diese Unsicherheit häufig noch mit Umstellungsschwierigkeiten verbunden sei.
Das LSG hat insoweit keine klaren Feststellungen getroffen. Seine Ausführungen gehen zunächst dahin, daß der Kläger während des ersten Jahres seiner Berufsausübung noch nicht belehrt worden sei und daß dies das Ermessen bis zum Unterbleiben einer Kürzung einengen könne. Soweit es darüber hinaus aber ausführt, zu dieser Ermessenseinschränkung gehöre der vom Kläger glaubhaft vorgebrachte Umstand, daß er erst einen Patientenstamm habe aufbauen müssen, bei dem "jedenfalls aus seiner derzeitigen Sicht - ein besonders hoher Behandlungsbedarf bestanden habe", und daß diese Gründe "hinreichend geeignet" seien, die Annahme eines offensichtlichen Mißverhältnisses auszuschließen, vermengt es nicht nur beide Gesichtspunkte, sondern muß auch sonst rechtlichen Bedenken begegnen. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG sind nicht konkret genug, um daraus rechtliche Folgerungen ziehen zu können. Dementsprechend werden auch keine genaueren Ausführungen darüber gemacht, inwiefern und inwieweit der vom Kläger bewirkte Mehraufwand sich verringert habe, ganz abgesehen davon, daß das Vorbringen des Klägers zu einem erhöhten Behandlungsbedarf weder im Verwaltungsverfahren noch im Klageverfahren hinreichend substantiiert und konkretisiert worden ist.
Soweit die Frage aber um das Ermessen bei der Festlegung des Kürzungsbetrages geht, ob und inwieweit nämlich der Umstand der Neuzulassung beim Vorliegen einer offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit auszuscheiden habe, ist der Entscheidung des LSG im Ergebnis zuzustimmen. Der Senat ist dementsprechend der Ansicht, daß beim Vorliegen eines solchen (subjektiven) Umstandes es dem Prüfungsgremium im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens freisteht, je nach den Gegebenheiten des Einzelfalles eine sich zugunsten des Arztes auswirkende Berücksichtigung dieses Umstandes (ganz) abzulehnen, oder ihn kürzungsmindernd bzw kürzungsausschließend zu berücksichtigen. Eine Berücksichtigung zugunsten des Arztes wird jedoch bei besonders groben Verstößen gegen die Wirtschaftlichkeit nur in Ausnahmefällen möglich sein. Denn durch den Umstand der Neuzulassung wird nichts daran geändert, daß der Arzt unwirtschaftliche Leistungen erbracht hat, und schon die Tatsache, daß das Mißverhältnis ein offensichtliches ist, zeigt zumindest die Tendenz, daß sich ihm das Unangemessene seiner Leistungen hätte aufdrängen müssen, insbesondere unter Berücksichtigung des Umstandes, daß der Arzt sich einer speziellen Vorbereitung auf die kassenärztliche Tätigkeit zu unterziehen hatte, bei der er auf die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit hingewiesen wird. Insofern wird jede Entscheidung, die trotz Vorliegens eines besonders groben Verstoßes gegen das Gebot der Wirtschaftlichkeit wegen des Umstands der Neuzulassung eine Kürzung ermäßigt oder gar ganz entfallen läßt, einer entsprechenden Begründung in dem Maße bedürfen, in dem dieser Umstand eine Berücksichtigung erfährt.
Der Beklagte hat sich durch die bisherige Rechtsprechung des Senats gehindert gesehen, bei seiner Ermessensentscheidung - Feststellung des Kürzungsbetrages - den Umstand der Neuzulassung zugunsten des Klägers zu berücksichtigen. Insofern hat er ein Ermessen nicht ausgeübt. Es ist ihm daher, was die Vordergerichte übersehen haben, Gelegenheit zu geben, über den Widerspruch erneut zur entscheiden. Der Beklagte wird dabei die Rechtsauffassung des Senats zu beachten haben. Soweit das SG auch den Erstbescheid aufgehoben hat, war das erstinstanzliche Urteil (auf die Anschlußberufung des Beklagten) aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 1652503 |
BSGE, 6 |