Leitsatz (redaktionell)

Zusage des Versicherungsträgers über Erhaltung der Anwartschaft.

 

Orientierungssatz

Um Gegenstand des Verfahrens zu werden, genügt nicht ein bloßer Sachzusammenhang mit dem ursprünglich erhobenen Anspruch, ebensowenig der Umstand, daß die Beteiligten des anhängigen Klageverfahrens und des neuen Bescheides dieselben sind; die in SGG § 96 genannte Rechtsfolge tritt vielmehr nur dann ein, wenn der neue Bescheid den Streitstoff des anhängigen Rechtsstreits beeinflussen kann. Der Bescheid über die Hinterbliebenenrente hat im Verhältnis zu dem Bescheid über die Versichertenrente einen neuen, unterschiedlichen Streitstoff und ist ohne Einfluß auf den Streit über die Versichertenrente. SGG § 96 ist daher nicht anzuwenden, wenn im (noch anhängigen) Klageverfahren über den Rentenbescheid des Versicherten (nach dessen Tod) ein Bescheid über die Gewährung von Hinterbliebenenrenten ergeht.

 

Normenkette

SGG § 96 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. März 1963 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob Versicherungszeiten, die der verstorbene Ehemann der Klägerin (der Versicherte) vor 1924 zurückgelegt hat, auf die Wartezeit angerechnet werden können.

Den Antrag auf Altersruhegeld, den der Versicherte im März 1959 gestellt hatte, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. September 1959 ab, weil die Wartezeit mit 144 Monatsbeiträgen nicht erfüllt sei. Die vor dem 1. Januar 1924 in der Arbeiterrentenversicherung (ArV) zurückgelegte Versicherungszeit könne nach § 26 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), § 1249 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht angerechnet werden, weil zwischen dem 1. Januar 1924 und dem 30. November 1948 kein Beitrag entrichtet worden sei. Auf Grund eines weiteren Antrags gewährte die Beklagte sodann Berufsunfähigkeitsrente vom 1. September 1959 an (Bescheid vom 18. Februar 1960).

Mit der gegen beide Bescheide gerichteten Klage begehrte der Versicherte Altersruhegeld vom 1. März 1959 an unter Berücksichtigung der vor dem 1. Januar 1924 zurückgelegten Beitrags- und Ersatzzeit. Er berief sich darauf, die beigeladene Landesversicherungsanstalt (LVA) Württemberg habe im Jahre 1951 bei der Nachentrichtung der Beiträge für die Zeit von 1932 an bestätigt, daß damit die Anwartschaft aus den früheren von ihm bis 1919 geleisteten Beiträgen wieder auflebe. Die Beigeladene trat dem Versicherten bei und räumte ein, sie habe bis zum Inkrafttreten des Kriegsfristenablaufgesetzes vom 13. November 1952 (BGBl I 737) die Nachentrichtung von Beiträgen für die Zeit vor dem 30. November 1948 zugelassen und dabei gegenüber den Versicherten die Erhaltung der Anwartschaft aus früheren Beiträgen bestätigt; im Leistungsfalle habe sie sich an diese Erklärungen gehalten Nach dem Tode des Versicherten (24. März 1961) setzten seine Witwe - die Revisionsklägerin - und seine Kinder das Verfahren fort. Das Sozialgericht (SG) Reutlingen sah außer den Bescheiden vom 24. September 1959 und 18. Februar 1960 auch die Bescheide über die Hinterbliebenenrenten vom 26. Juni 1961 nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Gegenstand des Verfahrens an, hob sämtliche Bescheide auf und verurteilte die Beklagte, den Klägern unter Berücksichtigung der von dem Versicherten vor dem 1. Januar 1924 zurückgelegten Versicherungszeit Altersruhegeld ab 1. März 1959 sowie Witwen- und Waisenrente ab 1. April 1961 zu gewähren.

Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hob das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab. Das SG habe zu Unrecht die Hinterbliebenenrentenbescheide als Gegenstand des Verfahrens angesehen; weder finde § 96 SGG auf sie Anwendung, noch seien sie selbständig angefochten worden. Hinsichtlich des Streits um das Altersruhegeld sei die Berufung an sich gemäß § 146 SGG ausgeschlossen; sie sei hier aber zulässig, weil die Beklagte zu Recht gerügt habe, die Kinder des ursprünglichen Klägers seien nach § 65 AVG/§ 1288 RVO zur Fortsetzung des Verfahrens nicht berechtigt gewesen. Der Anspruch der Kinder sei auch materiell nach § 65 AVG/§ 1288 RVO ausgeschlossen. Die Klägerin könne das Altersruhegeld ebenfalls nicht beanspruchen, weil die erforderliche Wartezeit nicht erfüllt sei. Die vor dem 1. Januar 1924 zurückgelegten Versicherungszeiten seien zu Recht nicht angerechnet worden, weil in der Zeit zwischen dem 1. Januar 1924 und dem 30. November 1948 kein Beitrag für diese Zeit entrichtet worden sei. Die später nachentrichteten Beiträge hätten die Anwartschaft aus den bis 1919 zur ArV geleisteten Beiträgen nicht wieder aufleben lassen. Die von der Beigeladenen eingeräumte Erklärung über die Erhaltung der Anwartschaft sei deshalb unrichtig gewesen. Gleichgültig, ob es sich dabei um eine Auskunft oder um eine verbindlich gemeinte Zusage gehandelt habe, könnten daraus keine für die Klägerin günstigen Rechtsfolgen hergeleitet werden. Ein Versicherungsträger könne nur dann an eine gesetzwidrige Zusicherung gebunden werden, wenn die daraufhin vom Versicherten getroffenen Maßnahmen sich andernfalls für ihn als schädlich erweisen würden. Das sei hier nicht der Fall, weil sämtliche nachentrichteten Beiträge bei der Rentenberechnung rentensteigernd berücksichtigt worden seien. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 26. März 1963).

Die Klägerin legte Revision ein mit dem Antrag,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Bescheid der Beklagten vom 18. Februar 1960 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr, der Klägerin, Altersruhegeld ab 1. März 1959 sowie Witwen- und Waisenrente ab 1. April 1961 unter Berücksichtigung der vor dem 1. Januar 1924 entrichteten Beiträge zur ArV sowie der Ersatzzeiten zu gewähren.

Sie rügt, das angefochtene Urteil verstoße gegen Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts. Bei der Prüfung der Frage, ob die Erklärung der Beigeladenen als verbindlich anzusehen sei, habe das Berufungsgericht zu Unrecht dem Verfassungsgrundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Vorrang vor dem der Rechtssicherheit und dem hierin eingeschlossenen Vertrauensschutz zugemessen. Das Vertrauen des Bürgers auf eine behördliche Zusage sei nicht nur schutzwürdig, wenn andernfalls ein Schade eintrete, sondern immer dann, wenn die Zusage überhaupt für bestimmte Dispositionen von wesentlicher Bedeutung gewesen sei. Im übrigen sei - entgegen der Annahme des Berufungsgerichts - im vorliegenden Fall der Klägerin auch insoweit ein Schade entstanden, weil sie weniger Hinterbliebenenrente erhalte, als wenn sich die Beklagte an die Zusage der Beigeladenen gebunden fühle.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Die Revision ist zulässig, jedoch unbegründet.

Dies gilt zunächst für den mit der Revision weiter verfolgten Anspruch auf die höheren Hinterbliebenenrenten. Nach den Feststellungen des LSG sind die Bescheide der Beklagten vom 26. Juni 1961 über die Gewährung der Witwen- und Waisenrenten von den Berechtigten nicht selbständig angefochten worden. Diese Bescheide haben auch, wie das angefochtene Urteil zutreffend ausführt, die mit der Klage angefochtenen Bescheide über die Versichertenrente weder ersetzt noch geändert; sie sind deshalb auch nicht Gegenstand des Klageverfahrens nach § 96 SGG geworden. Um Gegenstand des Verfahrens zu werden, genügt nicht ein bloßer Sachzusammenhang mit dem ursprünglich erhobenen Anspruch, ebensowenig der Umstand, daß die Beteiligten des anhängigen Klageverfahrens und des neuen Bescheides dieselben sind; die in § 96 SGG genannte Rechtsfolge tritt vielmehr nur dann ein, wenn der neue Bescheid den Streitstoff des anhängigen Rechtsstreits beeinflussen kann. Der Bescheid über die Hinterbliebenenrente hat aber im Verhältnis zu dem Bescheid über die Versichertenrente einen neuen, unterschiedlichen Streitstoff und ist ohne Einfluß auf den Streit über die Versichertenrente. § 96 SGG ist daher nicht anzuwenden, wenn im (noch anhängigen) Klageverfahren über den Rentenbescheid des Versicherten (nach dessen Tod) ein Bescheid über die Gewährung von Hinterbliebenenrenten ergeht. Die Auffassung des LSG, daß das SG zu Unrecht auch über die Hinterbliebenenrentenansprüche entschieden habe, trifft daher zu; sie wird von der Revision auch nicht ausdrücklich beanstandet. Im übrigen könnte das Urteil des LSG hinsichtlich der Waisenrenten von der Witwe, die für sich allein Revision eingelegt hat, auch mangels einer Beschwer nicht angefochten werden.

Unbegründet ist auch der Anspruch auf das Altersruhegeld, den die Klägerin als Rechtsnachfolgerin des Versicherten weiter verfolgt. Insoweit war die Berufung der Beklagten gegen das sozialgerichtliche Urteil aus den vom LSG zutreffend wiedergegebenen Gründen zulässig. Die gesetzliche Wartezeit für diesen Anspruch (§ 25 Abs. 4 AVG) wäre nur dann erfüllt, wenn außer den von der Beklagten berücksichtigten 144 Beitragsmonaten des Versicherten auch dessen Versicherungszeiten vor 1924 auf die Wartezeit anzurechnen wären. Diese Möglichkeit hat das Berufungsgericht mit Recht verneint. Auszugehen ist dabei von der Vorschrift des § 26 AVG idF des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) vom 23. Februar 1957. Die durch das Rentenversicherungs- Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 - RVÄndG - (BGBl I 476) getroffene, am 1. Juli 1965 in Kraft getretene neue Fassung dieser Vorschrift (mit der darin enthaltenen Vergünstigung bei der Anrechnung von Versicherungszeiten vor 1924) bezieht sich zwar auch auf Versicherungsfälle, die vor dem 1. Juli 1965 eingetreten sind (Art. 1 § 2 Nr. 11; Art 2, § 2 Nr. 4; Art. 5 § 10 Abs. 1 e RVÄndG), und kommt damit möglicherweise vom 1. Juli 1965 an den Hinterbliebenenrentenansprüchen zugute; sie begründet aber für die vor diesem Datum liegende Zeit keinen Leistungsanspruch (Art. 5 § 6 RVÄndG) und wirkt sich deshalb nicht auf den Klageanspruch aus.

Nach § 26 Satz 2 AVG sind vor dem 1. Januar 1924 zurückgelegte Versicherungszeiten auf die Wartezeit anzurechnen, wenn der Versicherte zwischen dem 1. Januar 1924 und dem 30. November 1948 mindestens einen Beitrag für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923 entrichtet hat. Dies hat der Ehemann der Klägerin nicht getan. Die für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923 entrichteten Beiträge sind nicht innerhalb des genannten Zeitraums, sondern erst nach dessen Ende, im Jahre 1951, geleistet worden. Sie können daher nicht zur Anrechenbarkeit der vor 1924 zurückgelegten Versicherungszeiten führen. Hieran ändert auch nichts die Erklärung der Beigeladenen, durch die Nachentrichtung sei die Anwartschaft aus den früheren Versicherungszeiten erhalten.

Da der Versicherte die Beiträge im Jahre 1951 nachentrichtet hat, ist davon auszugehen, daß die Erklärung der Beigeladenen, auf die sich die Klägerin beruft, ebenfalls in dieser Zeit ergangen ist. Dafür spricht auch die Einlassung der Beigeladenen, sie habe die der Erklärung zugrunde liegende Rechtsauffassung bis zum Inkrafttreten des Kriegsfristenablaufgesetzes vom 13. November 1952 vertreten. Es kann für die Entscheidung des Rechtsstreits dahinstehen, ob es sich bei der Erklärung der Beigeladenen um die bloße Äußerung einer Rechtsansicht (schlichte Verwaltungsäußerung -Rechtsauskunft) oder - wie die Klägerin meint - um eine verbindliche behördliche Zusage für die künftige Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen dem Versicherten und dem Versicherungsträger gehandelt hat (vgl. hierzu Haueisen, Die Bedeutung von Zusagen im Verwaltungsrecht, in NJW 1961 S. 1901 mit weiteren Nachweisen). Es ist auch nicht darüber zu entscheiden, ob die Beklagte als der für die Rentenfeststellung zuständige Versicherungsträger in Fällen der vorliegenden Art (frühere treuhänderische Wahrnehmung der Aufgaben der Angestelltenversicherung durch die Landesversicherungsanstalten- Wanderversicherung) an eine etwaige Zusage des Trägers der Arbeiterrentenversicherung gebunden wäre; es kommt schließlich auch nicht darauf an, ob die Erklärung der Beigeladenen dem damals geltenden Recht entsprochen hat oder ob sie - wie das LSG entschieden hat- gesetzwidrig war. Denn die Erklärung der Beigeladenen ist vor dem 1. Januar 1957 abgegeben worden, sie berücksichtigt nach ihrem Inhalt ("Erhaltung der Anwartschaft") das bis dahin geltende Recht. Der Rentenanspruch des Versicherten ist aber nicht nach diesem Recht, sondern nach dem vom 1. Januar 1957 an geltenden neuen Recht zu beurteilen, das die Vorschriften über die Erhaltung der Anwartschaft im allgemeinen nicht mehr kennt. Insbesondere enthält die Erklärung der Beigeladenen keinen Hinweis darauf, - und konnte ihn auch gar nicht enthalten -, daß die vom Versicherten nachgebrachten Beiträge dereinst als "Brückenbeiträge" nach § 26 AVG berücksichtigt werden würden. Dem steht auch nicht entgegen, daß § 26 Satz 2 AVG inhaltlich aus der seit 1949 gültigen Vorschrift in § 4 Abs. 2 des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes (SVAG) hervorgegangen ist und deren Regelung fortentwickelt hat (vgl. Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, Anmerkungen zu § 1249 RVO). Beide Vorschriften haben eine unterschiedliche Rechtsbedeutung. Auf eine Zusage im Jahre 1951 könnte sich die Klägerin auch dann nicht mehr berufen, wenn sie dem damals geltenden Recht entsprochen hätte. Mit dem - im Jahre 1951 nicht voraussehbaren - Inkrafttreten des neuen Rechts zum 1. Januar 1957 hat vielmehr eine unter der Geltung und zur Anwendung des bisherigen Rechts gegebene Zusage des Versicherungsträgers über die Erhaltung der Anwartschaft aus früheren Beiträgen ihre Bedeutung verloren. Aus ähnlichen Erwägungen hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts unter Hinweis auf die Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts (E 5032 AN 1936, 329) das verbindliche Anerkenntnis eines Versicherungsträgers über das Recht zur freiwilligen Weiterversicherung als gegenstandslos angesehen, wenn in der Zeit zwischen der abgegebenen Verwaltungserklärung und der Entrichtung des ersten Beitrags eine für den Versicherungsträger nicht voraussehbare Gesetzesänderung eingetreten ist (Urteil vom 25. Juli 1963 - 4 RJ 255/62 - SozR Aa 1 Nr. 2 zu § 1423 RVO). Auch im vorliegenden Rechtsstreit ist vom Inkrafttreten des neuen Rechts an die Rechtslage nur nach dessen Vorschriften zu beurteilen, hier also nach § 26 Satz 2 AVG, der eine von der Erhaltung der Anwartschaft unabhängige Regelung über die Anrechenbarkeit der Versicherungszeiten vor 1924 enthält. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind aber, soweit es sich um den Anspruch auf das Altersruhegeld handelt, nicht erfüllt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380365

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