Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 12.01.1967)

 

Tenor

Die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Januar 1967 werden zurückgewiesen.

Die Beklagte und die Beigeladene haben dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger ist verheiratet und hat fünf zwischen 1956 und 1962 geborene eheliche Kinder. In seinem Haushalt lebt als Stiefsohn ein uneheliches Kind seiner Frau, Friedhelm B., geboren am 2. Juli 1953. Für das Stiefkind, dessen Vater keinen Unterhalt zahlt, gewährt das Sozialamt der beigeladenen Stadt Iserlohn laufend Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Sozialhilfe betrug zunächst 81,– DM und nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) zuletzt 84,– und 90,– DM. Die Beklagte bewilligte dem Kläger ab Juli 1964 Kindergeld von insgesamt 275,– DM, wobei der Stiefsohn des Klägers als Zählkind berücksichtigt wurde. Von November 1964 an zahlte sie gemäß § 12 Abs. 3 und 4 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) das auf den Stiefsohn des Klägers entfallende Kindergeld von 46,– DM monatlich antragsgemäß an das Sozialamt der beigeladenen Stadt, weil dieses das Kind Friedhelm überwiegend unterhalte (Bescheid vom 5. Oktober 1964). Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Bescheid vom 11. November 1964; Urteil des Sozialgerichts –SG– vom 13. September 1965).

Auf die Berufung des Klägers hat das LSG die Bescheide der Beklagten aufgehoben. Das LSG hält die Abzweigung für rechtswidrig, weil das Sozialamt trotz der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt von zuletzt 90,– DM das Kind Friedhelm nicht überwiegend unterhalte; denn neben den Geldleistungen seien auch die Unterhaltsleistungen zu berücksichtigen, die die Ehefrau des Klägers für das Kind Friedhelm laufend in Form von Dienstleistungen erbringe. Zum Unterhalt seien jetzt – nach Inkrafttreten des Grundgesetzes (GG) – nicht nur die Leistungen in Geld, sondern auch die Haushaltsführung und die anderen persönlichen Verrichtungen der Ehefrau und Mutter zu rechnen, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu § 43 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) festgestellt habe. Im bürgerlichen Recht sei die Haushaltsführung der Ehefrau schon vorher als gleichwertig im Gesetz anerkannt worden (§ 1360 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches – BGB – nF). Ebenso wie für das Sozialversicherungsrecht gelte dieser Grundsatz für das Kindergeldrecht, weil das BKGG keinen eigenen Unterhaltsbegriff kenne. Die Gleichwertigkeit beider Leistungen sei auch beim Recht des unehelichen Kindes anzuwenden und führe dazu, daß die persönliche Sorge der Mutter mit einem gleich hohen Geldbetrag anzusetzen sei wie die normale Unterhaltsrente des unehelichen Vaters. Da die Hilfe des Sozialamtes nur den notwendigen Lebensbedarf decke, müßten die Sozialhilfe und die persönliche Obsorge der Mutter gleich bewertet werden. Revision wurde zugelassen.

Gegen dieses Urteil haben die Beklagte und die Beigeladene Revision eingelegt.

Die Beklagte meint, entgegen der Ansicht des Klägers und des LSG sei der Stiefsohn Friedhelm B. überwiegend vom Sozialamt Iserlohn unterhalten worden. Das BKGG enthalte einen eigenen vom bürgerlichen Recht losgelösten Unterhaltsbegriff, wie sich aus einem Vergleich des § 2 Abs. 1 Nr. 6 („zu den Kosten des Unterhalts”) und Nr. 7 (Gegenüberstellung: „Aufnahme in den Haushalt” und „überwiegender Unterhalt”), der Gesetzesmaterialien zu § 3 Abs. 3 Satz 2 und des § 12 Abs. 3 BKGG ergebe, die sämtlich den Begriff Unterhalt in dem Sinne von finanziellen Aufwendungen voraussetzten. Dieser Auffassung stehe die Entscheidung des BVerfG vom 24. Juli 1963 (NJW 63, 1723 – Bd. 17, 1) nicht entgegen. Dort habe geprüft werden müssen, ob auf Grund des GG die Leistungen der Ehefrau bei der Feststellung des Bedarfs nach einem Ersatz für weggefallene Erwerbseinkommen durch Sozialrenten, die Unterhaltsfunktion hätten, berücksichtigt werden müssen. Eine solche Funktion hätte das Kindergeld aber gerade nicht. Die Beigeladene rügt Verletzung formellen (§§ 103, 150, 157 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–) und materiellen Rechts (§ 12 BKGG): Die Dienstleistung der Mutter dürfe geldwertmäßig nicht der Unterhaltsrente des Vaters gleichgesetzt werden. Das widerspreche § 1708 BGB, nach dem die Unterhaltsrente den gesamten Lebensbedarf des Kindes decke. Dieser Lebensbedarf könne aber nur durch Geldzahlung gewährleistet werden. Nach der Bewertung des LSG sei das Kind Friedhelm B. nicht mehr als hilfsbedürftig anzusehen. Die Hilfe zum Lebensunterhalt wäre daher gemäß § 2 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) einzustellen. Das Kind sei aber gerade deshalb hilfsbedürftig geworden, weil der uneheliche Vater nur unzulänglich seiner Verpflichtung nachkomme. Demgegenüber lägen die Leistungen des Sozialamtes weit höher, so daß es überwiegend den Unterhalt sicherstelle.

Das LSG habe den Sachverhalt nicht hinreichend geklärt. Wer das Kind überwiegend unterhalte, sei Tatfrage. Dies sei auf Grund der jeweiligen besonderen Umstände zu beurteilen, so vor allem danach, in welchem Verhältnis Sach- und Geldmittel zu dem Betrage ständen, den das Kind tatsächlich zum Lebensunterhalt erhalte. Eine solche Aufklärung habe das Berufungsgericht unterlassen. Andernfalls hätte es zu einer anderen Entscheidung kommen müssen.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragten,

das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 12. Januar 1967 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Dortmund vom 13. September 1965 zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Beide Revisionen sind zulässig, aber nicht begründet. Eine Abzweigung (Auszahlungsanordnung) von Kindergeld, das auf ein Kind entfällt (§ 12 Abs. 4 BKGG), an eine andere Person oder Stelle als den Berechtigten ist nach § 12 Abs. 3 BKGG nur dann möglich, wenn diese das Kind ganz oder überwiegend unterhält. Zu Recht hat das LSG entschieden, daß das Sozialamt der Beigeladenen das Kind Friedhelm B. nicht überwiegend unterhält, d. h. nicht mehr als die Hälfte des Unterhalts aufbringt (vgl. BSG-Urteil vom 13. Februar 1964 – 3 RK 75/59 –, Bd. 20, 148, 150); denn bei der Abwägung, wer das Kind überwiegend unterhält, sind nicht nur die baren Geldleistungen, sondern auch die tatsächliche Betreuung des Kindes und die Haushaltsführung durch die Mutter (Ehefrau des Klägers) zu berücksichtigen.

Das BKGG selbst bestimmt nicht, was unter dem Begriff Unterhalt zu verstehen ist. Dieser Begriff muß daher ausgelegt werden. Zum Begriff des Unterhalts hat das BVerfG (Urteil vom 24. Juli 1963 – 1 BvL 30/57 und 11/61 –, Bd. 17, 1, 12 ff) bei der Prüfung der Frage, ob die erschwerten Voraussetzungen für die Witwerrente nach § 43 AVG verfassungskonform sind, den Grundsatz aufgestellt, gemäß Art. 3 Abs. 2 GG sei davon auszugehen, daß der Begriff der Unterhaltsleistungen auch die unmittelbaren Leistungen der Mutter, Hausfrau und Mithelfenden umfasse. Damit hat das BVerfG den Unterhaltsbegriff in einer dem GG entsprechenden Weise ausgelegt. Diese verfassungsgerechte Bestimmung von „Unterhalt” drückt einen allgemeinen Grundgedanken aus und ist daher nicht auf § 43 AVG beschränkt. Schon vor der Entscheidung des BVerfG hatte dieser Wandel des Unterhaltsbegriffs im bürgerlichen Recht Ausdruck gefunden; § 1360 Satz 2 BGB, eingeführt durch das Gleichberechtigungsgesetz vom 18. Juni 1957 (BGBl I 609), bestimmt: „Die Frau erfüllt ihre Verpflichtung, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen, in der Regel durch die Führung des Haushalts; …”. Für das Sozialversicherungsrecht ist die Geltung des vom BVerfG aufgestellten Grundsatzes durch mehrere Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) bestätigt worden (Urteil vom 22. August 1963 – 5 RKn 46/63 –, Bd. 19, 282, 283, zu §§ 176, 205 der Reichsversicherungsordnung –RVO–; Urteil vom 13. Februar 1964 – 3 RK 75/59 –, Bd. 20, 148, 152 zu §§ 182, 186 RVO idF des Ersten Leistungsverbesserungsgesetzes und Urteil vom 14. Februar 1964 – 1 RA 203/60 in SozR RVO § 1266 Bl. Aa 5 Nr. 4). Dieser im bürgerlichen Recht und in der Sozialversicherung anerkannte Grundsatz, der den Unterhaltsbegriff dort verfassungskonform auslegt, ist auf § 12 Abs. 3 BKGG ebenfalls anzuwenden. Durch Berücksichtigung der Betreuung der Kinder und der Haushaltsführung durch die Frau wird auch der „Unterhalt” i. S. des § 12 Abs. 3 BKGG in Übereinstimmung mit dem GG gebracht. Einer solchen Auslegung, die im Einklang mit dem GG steht, ist mithin der Vorzug zu geben, soweit nicht der Zweck oder der Gesetzeswortlaut entgegen steht (BVerfG, Beschluß vom 13. Juni 1958 – 1 BVR 346/57, Bd. 8, 38, 41; Beschluß vom 23. Oktober 1958 – 1 BVL 45/56 –, Bd. 8, 210, 221). Beide Einschränkungen sind bei § 12 Abs. 3 BKGG indessen nicht gegeben.

Zweck der Vorschrift ist nach den Gesetzesmaterialien (Bundestags-Dr. IV/1961 zu § 11 Abs. 3 des Entwurfes = § 12 Abs. 3 der endgültigen Fassung des BKGG) in erster Linie, den Kostenträger bei einer Heimunterbringung des Kindes zu berücksichtigen. Dieser Zweck steht aber der hier vertretenen Auffassung darüber, wer überwiegend den Unterhalt aufbringt, nicht entgegen. Bei einer Heimunterbringung entfällt jede anrechenbare Betreuungsleistung der Mutter des unehelichen Kindes.

Ebensowenig widerspricht der Wortlaut des § 12 Abs. 3 BKGG der hier vertretenen Auffassung. Der Hinweis der Beklagten auf § 2 Abs. 1 Nr. 6 und 7 BKGG kann nicht durchgreifen. Diese beiden Vorschriften sind im Wortlaut abweichend gefaßt; in Nr. 6 heißt es: „zu den Kosten des Unterhalts”, in Nr. 7 wird die „Aufnahme in den Haushalt” dem „überwiegenden Unterhalt” gegenübergestellt. Daher mag vielleicht auf diese beiden Vorschriften die Ansicht der Beklagten, zum Unterhalt des BKGG gehörten nur die baren Mittel, zutreffen, wie dies auch zum Teil in der Rechtsprechung (Urteil des LSG Hamburg vom 27. September 1966 – I KG Bf 10/65 – in Breithaupt 1967, 250) und im Schrifttum (Schubert, DVR, 1967, 133 und Wickenhagen/Krebs, Kommentar zum BKGG, Stand Juni 1967, § 2 Anm. 10 a.E.) vertreten wird. Auf keinen Fall kann die Vorschrift des § 2 Abs. 1 BKGG indessen zur Auslegung des § 12 Abs. 3 BKGG herangezogen werden. Hier muß vielmehr eine Auslegung erfolgen, die im Einklang mit dem GG steht. Dasselbe gilt für § 3 Abs. 3 BKGG. Die Beklagte weist zwar zutreffend daraufhin, daß es in der amtlichen Begründung zu § 3 Abs. 4 SGG des Regierungsentwurfs eines BKGG heißt: „wenn die Mutter mehr als die Hälfte der finanziellen Aufwendungen für das Kind trägt,…” (Bundestags – Dr. IV/818, vom 7. Dezember 1962, S. 13 zu § 3 Abs. 3 = § 3 Abs. 3 in der endgültigen Gesetzesfassung). Die ursprüngliche Fassung des Regierungsentwurfs lautete: § 3 Abs. 3: „Erfüllen für ein Kind Vater und Mutter die Anspruchsvoraussetzungen, so wird es dem Vater gewährt, …”; § 3 Abs. 4 Satz 4: „Eine Anordnung nach S. 2 (= abweichend von Abs. 3) ist zu treffen, wenn die Mutter das Kind überwiegend unterhält”. „Um den Schein einer Bevorzugung des Vaters zu vermeiden”, hat der Ausschuß für Arbeit (Bundestags-Dr. IV/1961, S. 3) die zum Gesetz gewordene Fassung des § 3 Abs. 3 BKGG vorgeschlagen. Es ist deshalb schon zweifelhaft, ob die ursprüngliche Auffassung in der amtlichen Begründung nicht durch die Änderung, die der Ausschuß für Arbeit vorgeschlagen hat, gegenstandslos geworden ist. Jedenfalls darf bei einer verfassungskonformen Auslegung entgegen der Auffassung der Beklagten nicht der Unterhaltsbegriff des § 3 Abs. 3 auf den des § 12 Abs. 3 BKGG übertragen werden.

Die Betreuung und die Haushaltsführung der Mutter und Hausfrau auch bei § 12 Abs. 3 BKGG ist nicht nur bei der Abwägung, wer den überwiegenden Unterhalt in einer bestehenden Ehe aufbringt, sondern auch bei der Abwägung, ob eine dritte Person oder Stelle oder die Mutter das uneheliche Kind überwiegend unterhält, zu berücksichtigen. Dazu ist auf eine Entscheidung des BVerfG (Beschluß vom 21. Juli 1960 – 1 BvR 133/60 –, Bd. 11, 277) zurückzugreifen, die den § 1709 Abs. 1 BGB für verfassungsgemäß erklärt. Dort hat das BVerfG ausgeführt, beim unehelichen Kinde nehme das bürgerliche Recht von vornherein eine Aufteilung der Unterhaltspflichten vor; der Mutter obliege die tatsächliche Sorge für das Kind, dem Vater obliege die schuldrechtliche Verpflichtung für die Unterhaltsrente. Diese Aufgabenteilung ist Anlaß, auch die Betreuung der unehelichen Mutter im Rahmen von § 12 Abs. 3 BKGG zu berücksichtigen.

Zur Art und Weise wie die Betreuung und Haushaltsführung der Frau zu bewerten ist, verweist das BVerfG (Bd. 17, 1, 16) auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Schadensersatzrecht nach § 845 BGB. Danach ergebe sich ein natürlicher Ansatzpunkt für die Bewertung aus den Mitteln, die üblicherweise für häuslichen oder außerhäuslichen Ersatz der fortgefallenen Leistungen aufgewandt werden müßten. Derartige Ermittlungen sind jedoch im vorliegenden Fall nicht notwendig: Geht man von einer gleichwertigen Aufteilung der Unterhaltspflichten nach § 1709 BGB aus und beachtet man, daß das Sozialamt nach § 11 Abs. 1 BSHG nur den notwendigen Lebensunterhalt mit der Sozialhilfe deckt, so ist es nicht zu beanstanden, wenn das LSG die Betreuungsleistung hier in der gleichen Höhe bewertet wie die Sozialhilfe. Da sich bei unehelichen Kinder die Unterhaltsrenten nicht nur nach der Lebensstellung der Mutter richten, sondern sich auch auf Grund der Pauschalierung in einem verhältnismäßig festen Rahmen bewegen und ferner die ersatzweise geleistete Sozialhilfe damit der Höhe nach etwa übereinstimmt, gibt die vom LSG vorgenommene Bewertung der Betreuungsleistung der Mutter einen hinreichend sicheren Maßstab und vermeidet daher gerade die Abhängigkeit von Zufällen, gegen die die Beklagte Bedenken geäußert hat. Geringfügige Schwankungen, die dabei auftreten mögen, führen nicht zu einem grundsätzlich anderen Ergebnis.

Ist aber die Betreuung der Mutter nach ihrem Wert in gleicher Höhe wie die Sozialhilfe anzusetzen, so hat das Sozialamt das Stiefkind des Klägers nicht überwiegend unterhalten. Die Revisionen sind daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Unterschriften

Sen. Präs. Richter ist durch Urlaub verhindert, das Urteil zu unterschreiben. Dr. Kläß, Dr. Kläß, Dr. Krebs

 

Fundstellen

Haufe-Index 926705

BSGE, 1

MDR 1968, 616

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