Entscheidungsstichwort (Thema)

Aussiedlung und deutscher Sprach- und Kulturkreis

 

Orientierungssatz

Zur Frage, ob verfolgte Aussiedler iS des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG, um die Vergünstigungen des FRG in Anspruch nehmen zu können, außer der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis noch weitere Voraussetzungen erfüllen müssen, ob insbesondere der Begriff der Aussiedlung einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verlassen der Heimat und der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis erfordert.

 

Normenkette

WGSVG § 10 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1970-12-22, § 20 Fassung: 1970-12-22; BVFG § 1 Abs. 2 Nr. 3

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 30.09.1980; Aktenzeichen L 2 An 10/79)

SG Berlin (Entscheidung vom 25.06.1979; Aktenzeichen S 14 An 3031/78)

 

Tatbestand

Streitig ist das Recht der Klägerin zur Nachentrichtung von Rentenversicherungsbeiträgen nach den §§ 9, 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG).

Die 1911 in Polen geborene Klägerin besaß zunächst die russische, von 1918 an die polnische Staatsangehörigkeit und ist seit 1969 israelische Staatsangehörige. Sie ist Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Bis 1969 war sie im wesentlichen in Polen in verschiedenen Arbeitsverhältnissen tätig. Im Oktober 1969 wanderte sie nach Israel aus. Im Dezember 1975 beantragte sie bei der Beklagten die Gewährung von Versichertenrente und die Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen. Eine von der Beklagten veranlaßte Sprachprüfung in Israel ergab ua, daß die Klägerin deutsch wie eine Muttersprache beherrscht. Durch Bescheid vom 23. Mai 1978 lehnte die Beklagte die Gewährung von Rente und die Zulassung zur Beitragsnachentrichtung ab, letzteres mit der Begründung, daß die Klägerin nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehöre und daher nicht einer anerkannten Vertriebenen gleichgestellt werden könne. Gegen beides legte die Klägerin Widerspruch ein. Den Widerspruch betreffend die begehrte Beitragsnachentrichtung wies die Beklagte durch den Widerspruchsbescheid vom 27. September 1978 zurück; im übrigen ist der Widerspruch noch nicht beschieden. Klage (Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 25. Juni 1979) und Berufung (Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 30. September 1980) sind erfolglos geblieben. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Zwar beherrsche die Klägerin deutsch wie eine Muttersprache; jedoch sie nicht erwiesen, daß sie Polen 1969 im Zusammenhang mit ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis verlassen habe; vielmehr sei anzunehmen, daß sie mit den Zuständen in Polen nicht einverstanden gewesen sei; soweit die Klägerin Rente begehre, sei die Klage unzulässig, weil der entsprechende Widerspruch noch nicht beschieden sei.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin, das LSG hätte ihr Gelegenheit bieten müssen, zu dem - nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 5. November 1980 (11 RA 74/79) erforderlichen - Nötigungszusammenhang Beweismittel vorzulegen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Bescheid der Beklagten vom 23. Mai 1978 in der Gestalt des

Widerspruchsbescheides vom 27. September 1978 sowie die Urteile des

Sozialgerichts und des Landessozialgerichts aufzuheben und die

Beklagte zu verpflichten, ihr Altersruhegeld oder Rente wegen

Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit zu gewähren und sie zur

Nachentrichtung von Rentenversicherungsbeiträgen zuzulassen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das

Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, das LSG habe keine Überraschungsentscheidung zur Frage des Nötigungszusammenhanges gefällt, weil es durch ein Schreiben des Berichterstatters vom 21. März 1980 Zweifel an der ursächlichen Verknüpfung einer Zugehörigkeit der Klägerin zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen Polens im Jahre 1969 zum Ausdruck gebraucht habe.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist zum Teil unzulässig, im übrigen ist sie unbegründet.

Hinsichtlich des Antrags auf Gewährung von Altersruhegeld bzw von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit/Berufsunfähigkeit ist die Revision gemäß § 164 Abs 2 Satz 1 und 3 SGG unzulässig, weil sie insoweit nicht begründet worden ist, eine Begründung aber, wenn - wie hier - mehrere Ansprüche im Streit sind, für jeden der Ansprüche gegeben werden muß (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl 1981, § 164 Anm 7 und 9). Im übrigen ist schon die Klage insoweit unzulässig, weil über den Widerspruch gegen den die Rentengewährung ablehnenden Verfügungssatz des Bescheides vom 23. Mai 1978 noch nicht entschieden worden ist, es also an einem die Klägerin belastenden Widerspruchsbescheid mangelt.

Hinsichtlich des Rechts auf Nachentrichtung von Beiträgen ist die Revision unbegründet, weil das LSG ohne Rechtsverstoß einen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit der Klägerin zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und ihrer Auswanderung aus Polen im Jahre 1969 verneint hat.

Gemäß § 10 Abs 1 Satz 1 WGSVG können Verfolgte im Sinne des BEG (vgl § 1 Abs 1 WGSVG), die nach § 9 zur Weiterversicherung berechtigt sind, auf Antrag für bestimmte Zeiten Beiträge nachentrichten, soweit diese Zeiten nicht bereits mit Beiträgen belegt oder als Ersatzzeiten anzurechnen sind. Zur Weiterversicherung berechtigt sind nach § 9 Satz 1 WGSVG Verfolgte mit einer Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten, deren rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden ist, oder die bis zum Beginn der Verfolgung eine Ausfallzeit zurückgelegt haben. Da die Klägerin - bisher - keine Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung zurückgelegt hat, könnte das Erfordernis der Vorversicherungszeit nach § 9 Satz 1 WGSVG nur durch Zeiten, die nach den §§ 15, 16 Fremdrentengesetz (FRG) anrechenbar sind, erfüllt werden, was entweder die Anwendung des FRG unmittelbar oder über § 20 WGSVG voraussetzt. Die unmittelbare Anwendung des FRG ist hier ausgeschlossen, weil die Klägerin keine anerkannte Vertriebene ist (§ 1 Buchst a FRG). Nach § 20 Satz 1 WGSVG in der Fassung des 20. Rentenanpassungsgesetzes stehen jedoch bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) vertriebene Verfolgte gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Nach § 19 Abs 2 Buchst a 2. Halbsatz WGSVG, der gemäß § 20 Satz 2 WGSVG entsprechend anzuwenden ist, genügt es, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, wenn die Verfolgten im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben.

Diese Sonderregelung für vertriebene Verfolgte gilt auch für Verfolgte, die Vertriebene im Sinne des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG sind; nach dieser Vorschrift gehört zu den Vertriebenen auch, wer als deutscher Volkszugehöriger nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die in dieser Vorschrift genannten Gebiete - ua Polen - verlassen hat oder verläßt, es sei denn, daß er, ohne aus diesen Gebieten vertrieben und bis zum 31. März 1953 dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler). Als deutscher Volkszugehöriger ist dabei gemäß § 9 BVFG anzusehen, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird. An die Stelle des so umschriebenen Begriffs der deutschen Volkszugehörigkeit tritt bei vertriebenen Verfolgten nach der bereits erwähnten Sonderregelung in § 20 iVm § 19 Abs 2 Buchst a 2. Halbsatz WGSVG die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis.

Ob verfolgte Aussiedler iS des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG, um die Vergünstigungen des FRG in Anspruch nehmen zu können, außer der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis noch weitere Voraussetzungen erfüllen müssen, ob insbesondere der Begriff der Aussiedlung einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verlassen der Heimat und der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis erfordert, hängt von der Auslegung des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG und der genannten Vorschriften des WGSVG ab.

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), das über die Anwendung des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG vor allem in Streitigkeiten über die Erteilung eines Vertriebenenausweises zu entscheiden hat, hatte früher einen solchen Zusammenhang mit Rücksicht auf den Gesetzeswortlaut ("... verlassen hat oder verläßt") nicht gefordert. Demgegenüber hat der Bundesgerichtshof (BGH) im Entschädigungsrecht, soweit dieses auf § 1 BVFG und damit auch auf dessen Absatz 2 Nr 3 verweist (so § 4 Abs 1 Nr 1 Buchst e BEG, früher auch § 150 Abs 1 BEG), stets die positive Feststellung eines Kausalzusammenhangs (Nötigungstatbestand) für erforderlich gehalten, an dessen Voraussetzungen dabei allerdings nur geringe Anforderungen gestellt (vgl die Nachweise in BSGE 50, 279, 282 f). Seit 1977 hat sich das BVerwG dieser Auffassung insofern genähert, als es nunmehr ebenfalls verlangt, daß auch Aussiedler noch von den Nachwirkungen der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen gegen die deutsche Bevölkerung betroffen gewesen sein und aus diesem Grunde die Heimat verlassen haben müssen; der fortdauernde Vertreibungsdruck, der sich vor allem in der Vereinsamung derjenigen niederschlage, die in dem von Deutschen weitgehend entvölkerten Gebiet zurückgeblieben seien, habe bei ihnen "die Funktion einer Vertreibungsmaßnahme"; eine solche fortdauernde Bedrückung könne im Regelfall unterstellt werden; wenn jedoch eindeutige Anhaltspunkte dafür vorlägen, daß der Aussiedler die Heimat aus vertreibungsfremden Gründen verlassen habe (zB aus politischen oder kriminellen Gründen oder zum Zwecke einer Familienzusammenführung), so sei diesen nachzugehen (so zuletzt Urteil vom 4. Februar 1981, Buchholz 412.3 § 1 BVFG Nr 25).

Ob dieser Rechtsprechung des BVerwG zu § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG auch für das FRG (vgl dessen § 1 Buchst a) zu folgen ist - wofür vieles spricht, vor allem die Verbindlichkeit einer nach dem BVFG ausgesprochenen Anerkennung der Vertriebeneneigenschaft für die Versicherungsträger bei Anwendung des FRG (vgl § 15 Abs 5 BVFG und Verbandskommentar zu § 1 FRG Anm 4) - und, wenn die Frage zu bejahen wäre, ob diese Rechtsprechung dann nicht auch für § 20 WGSVG maßgebend sein muß, da verfolgte Vertriebene kaum anders behandelt werden können als nicht verfolgte, mindestens nicht schlechter als diese gestellt werden können, läßt der Senat unentschieden. Auch wenn hier zugunsten der Klägerin von der weniger strengen Auffassung des BVerwG auszugehen wäre, für verfolgte Aussiedler also entgegen BSGE 50, 279, nicht stets die positive Feststellung eines Zusammenhangs zwischen der Aussiedlung und der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis zu fordern wäre, sondern dieser in der Regel unterstellt werden könnte, würde dies am Ergebnis der Entscheidung nichts ändern.

Im vorliegenden Fall hat das LSG zwar die Zugehörigkeit der Klägerin zum deutschen Sprach- und Kulturkreis angenommen. Dennoch hat es die Berufung gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen, weil es auf Grund der von ihm getroffenen Feststellungen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit der Klägerin zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und der Auswanderung verneint hat.

Soweit das LSG dabei in rechtlicher Beziehung das Vorliegen eines solchen Zusammenhangs gefordert hat, hat die Klägerin Rügen nicht erhoben. Sie wendet sich lediglich gegen die vom LSG in tatsächlicher Hinsicht getroffene Feststellung, daß bei ihr jeglicher Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und ihrer Ausreise nach Israel im Jahre 1969 fehle, vielmehr anzunehmen sei, daß sie emigriert sei, weil sie mit den Zuständen in Polen nicht einverstanden gewesen sei. Diese Feststellungen sind gemäß § 163 SGG für das BSG bindend, da keine durchgreifenden Revisionsrügen gegen sie vorgebracht worden sind; insbesondere ist dem LSG insoweit kein Verfahrensfehler unterlaufen. Wenn die Klägerin rügt, das LSG hätte zu erkennen geben müssen, daß es bei seiner Entscheidung auf den Kausalzusammenhang zwischen Auswanderung und Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis abzustellen gedenke, so ist dies, wie dei Beklagte richtig vorträgt, in dem Richterbrief vom 21. März 1980 geschehen, so daß der behauptete Mangel des Verfahrens schon tatsächlich nicht vorliegt. Im übrigen verpflichtet § 62 SGG, wonach den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren ist, das Gericht nicht, alle denkbaren rechtlichen Gesichtspunkte mit den Beteiligten zu erörtern (BGH, Urteil vom 8. Oktober 1976 - VIII ZR 115/74 -, DB 75, 2274; vgl auch Beschluß des BVerfG vom 27. Juli 1971 - 2 BvR 443/70 -, BVerfGE 31, 364 ff, 370). Ein wesentlicher Verfahrensfehler, der die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz rechtfertigt, liegt erst dann vor, wenn das Vordergericht eine Überraschungsentscheidung gefällt hat (vgl Meyer-Ladewig aaO, § 62 Anm 8, § 120 Anm 20). Davon kann hier keine Rede sein.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660434

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