Entscheidungsstichwort (Thema)

Beitragsnachentrichtung nach WGSVG § 10 Abs. 1 iVm § 20 S. 2

 

Orientierungssatz

Zur Frage, ob insbesondere der Begriff der Aussiedlung einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verlassen der Heimat und der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis erfordert.

 

Normenkette

WGSVG § 10 Abs 1 Fassung: 1970-12-22, § 20 S 2 Fassung: 1970-12-22, § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2 Fassung: 1977-06-27; BVFG § 1 Abs 2 Nr 3

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 25.06.1980; Aktenzeichen L 9 An 13/80)

SG Berlin (Entscheidung vom 29.11.1979; Aktenzeichen S 4 An 3538/78)

 

Tatbestand

Streitig ist das Recht des am 15. Februar 1979 verstorbenen Ehemannes und Rechtsvorgängers der Klägerin Emil Kohn zur Nachentrichtung von Rentenversicherungsbeiträgen nach den §§ 9, 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG).

Der 1913 in Transsylvanien (Siebenbürgen) geborene Ehemann der Klägerin war als Jude rassisch Verfolgter. Von Geburt hatte er die ungarische, seit 1918 besaß er die rumänische und seit 1959 die israelische Staatsangehörigkeit. Unterbrochen durch die Zeit der Verfolgungsmaßnahmen von 1942 bis 1945 war er von 1933 bis 1948 und von 1949 bis 1958 durchgehend in Rumänien versicherungspflichtig beschäftigt. Von dort wanderte er Ende 1958 mit der Klägerin nach Israel aus. Seinen Antrag vom 26. November 1975 ua auf Nachentrichtung von Beiträgen lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 29. Mai 1978 und Widerspruchsbescheid vom 21. September 1978 mit der Begründung ab, daß die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht ausreichend glaubhaft gemacht worden sei. Klage (Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 29. November 1979) und Berufung (Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 25. Juni 1980) sind ohne Erfolg geblieben. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt:   Trotz erheblicher Bedenken gegen die Zugehörigkeit des Ehemannes der Klägerin zum deutschen Sprach- und Kulturkreis wegen dessen völliger Ungeübtheit im deutschen Sprachgebrauch könne diese Frage offenbleiben, weil jedenfalls kein Zusammenhang zwischen der Auswanderung der Eheleute und einer möglichen Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis bestehe; denn aus dem Gesamtvorbringen der Klägerin und ihres verstorbenen Ehemannes ergebe sich kein Hinweis, daß die behauptete Deutschsprachigkeit Mitursache oder Beweggrund des Verlassens des Heimatlandes Rumänien gewesen sei; nach den Umständen sei vielmehr anzunehmen, daß die Auswanderung von Rumänien nach Israel Ende 1958 entweder aus Unzufriedenheit mit dem Leben in einem kommunistischen Staat oder einem engen Zugehörigkeitsgefühl zum Judentum oder aus beiden Gründen erfolgt sei.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision hat die Klägerin die Verletzung des § 20 WGSVG gerügt und zunächst gemeint, es komme nicht darauf an, ob der Anspruchsteller das Vertreibungsgebiet wegen seiner Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis verlassen habe. Auch wenn aber mit dem Urteil des 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 5. November 1980 - 11 RA 74/79 - ein Zusammenhang zwischen dem Verlassen der Heimat und der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis zu fordern sei, habe das LSG es hier unterlassen, sie auf dieses Erfordernis aufmerksam zu machen; die Frage sei bisher nie erörtert worden; die entsprechenden Feststellungen des LSG beruhten nur auf Vermutungen bzw Unterstellungen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und den

Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, der fehlende Nötigungszusammenhang sei gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für das BSG bindend festgestellt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben; der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Das LSG hat offengelassen, ob der Ehemann der Klägerin, wie von der Beklagten und vom SG angenommen, schon wegen fehlender Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis kein Recht zur Beitragsnachentrichtung hatte. Statt dessen hat es die Verneinung des Nachentrichtungsrechts nach §§ 9, 10 WGSVG mit dem Fehlen eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen einer etwaigen Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen der Heimat begründet. Das Erfordernis eines solchen Zusammenhanges war bis dahin nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden, wie sich den Akten des SG und des LSG, die beide ohne mündliche Verhandlung entschieden haben, entnehmen läßt. Insbesondere ist die Klägerin vom LSG nicht auf den genannten Gesichtspunkt hingewiesen worden. Darin liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG). Dieser Verfahrensfehler ist von der Klägerin mit dem noch innerhalb der Revisionsbegründungsfrist eingegangenen Schriftsatz vom 9. Januar 1981 formgerecht gerügt worden und führt, da das angefochtene Urteil darauf beruhen kann, zu dessen Aufhebung.

Die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen für eine eigene Sachentscheidung durch das Revisionsgericht nicht aus. Der Rechtsstreit ist deshalb an das LSG zurückzuverweisen.

Soweit es bei der neuen Entscheidung des LSG auf die Frage der Zugehörigkeit des Ehemannes der Klägerin zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ankommen sollte, wird das LSG die Ausführungen des Senats in der heute entschiedenen Sache 12 RK 56/80 berücksichtigen können. Ob ein Verfolgter, der - wie offenbar der Ehemann der Klägerin - die Vergünstigungen des Fremdrentengesetzes (FRG) nur als Aussiedler iS des § 1 Abs 2 Nr 3 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) in Anspruch nehmen kann, für die Anwendung des FRG außer der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis noch weitere Voraussetzungen erfüllen muß, ob insbesondere der Begriff der Aussiedlung einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verlassen der Heimat und der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis erfordert, hängt von der Auslegung des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG und des § 20 iVm § 19 Abs 2 Buchst a 2. Halbsatz WGSVG ab.

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), das über die Anwendung des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG vor allem in Streitigkeiten über die Erteilung eines Vertriebenenausweises zu entscheiden hat, hatte früher einen solchen Zusammenhang mit Rücksicht auf den Gesetzeswortlaut ("... verlassen hat oder verläßt") nicht gefordert. Demgegenüber hat der Bundesgerichtshof (BGH) im Entschädigungsrecht, soweit dieses auf § 1 BVFG und damit auch auf dessen Absatz 2 Nr 3 verweist (so § 4 Abs 1 Nr 1 Buchst e BEG, früher auch § 150 Abs 1 BEG), stets die positive Feststellung eines Kausalzusammenhangs (Nötigungstatbestand) für erforderlich gehalten, an dessen Voraussetzungen dabei allerdings nur geringe Anforderungen gestellt (vgl die Nachweise in BSGE 50, 279, 282 f). Seit 1977 hat sich das BVerwG dieser Auffassung insofern genähert, als es nunmehr ebenfalls verlangt, daß auch Aussiedler noch von den Nachwirkungen der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen gegen die deutsche Bevölkerung betroffen gewesen sein und aus diesem Grunde die Heimat verlassen haben müssen; der fortdauernde Vertreibungsdruck, der sich vor allem in der Vereinsamung derjenigen niederschlage, die in dem von Deutschen weitgehend entvölkerten Gebieten zurückgeblieben seien, habe bei ihnen "die Funktion einer Vertreibungsmaßnahme"; eine solche fortdauernde Bedrückung könne im Regelfall unterstellt werden; wenn jedoch eindeutige Anhaltspunkte dafür vorlägen, daß der Aussiedler die Heimat aus vertreibungsfremden Gründen verlassen habe (zB aus politischen oder kriminellen Gründen oder zum Zwecke einer Familienzusammenführung), so sei diesen nachzugehen (so zuletzt Urteil vom 4. Februar 1981, Buchholz 412.3 § 1 BVFG Nr 25).

Ob dieser Rechtsprechung des BVerwG zu § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG auch für das FRG (vgl dessen § 1 Buchst a) zu folgen ist - wofür vieles spricht, vor allem die Verbindlichkeit einer nach dem BVFG ausgesprochenen Anerkennung der Vertriebeneneigenschaft für die Versicherungsträger bei Anwendung des FRG (vgl § 15 Abs 5 BVFG und Verbandskommentar zu § 1 FRG Anm 4) - und, wenn die Frage zu bejahen wäre, ob diese Rechtsprechung dann nicht auch für § 20 WGSVG maßgebend sein muß, da verfolgte Vertriebene kaum anders behandelt werden können als nicht verfolgte, mindestens nicht schlechter als diese gestellt werden können, hat der Senat bisher nicht entschieden. Er hält eine solche Entscheidung auch hier nicht für erforderlich und tunlich, zumal sie - als eine die Aufhebung des LSG-Urteils nicht tragende Begründung - das LSG ohnehin nicht binden würde. Es kommt hinzu, daß selbst dann, wenn von der strengeren Auffassung des BGH auszugehen wäre (dafür BSGE 50, 279), nicht ausgeschlossen erscheint, daß der Ehemann der Klägerin bei der Auswanderung nach Israel die auch vom BGH und vom BSG aaO S. 282 für die Feststellung eines "Nötigungstatbestandes" lediglich geforderten "geringen" Voraussetzungen erfüllte.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660592

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