Leitsatz (amtlich)

Die Wahl des 1942-04-30 als Stichtag in ArVNG Art 2 § 10 Abs 1 Buchst a hat nichts daran geändert, daß RVO § 1263a Abs 1 Nr 1 aF auch auf Versicherungsfälle vor dem 1942-05-01 anzuwenden ist, über die vor dem 1945-04-01 noch nicht rechtskräftig entschieden war.

 

Leitsatz (redaktionell)

An der Rechtsprechung des BSG, wonach die Vorschrift des RVO § 1263a Abs 1 Nr 1 aF auf alle Versicherungsfälle vor dem 1942-05-01 anzuwenden ist, über die am 1945-03-31 noch nicht rechtskräftig entschieden war, wird festgehalten.

 

Normenkette

RVO § 1263a Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1949-06-17; ArVNG Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. a; RVO § 1262a Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1949-06-17

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. November 1958 und des Sozialgerichts Köln, Zweigstelle Aachen, vom 14. Februar 1958 sowie der Bescheid der Beklagten vom 3. Juli 1956 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Witwenrente in gesetzlicher Höhe vom 1. Februar 1956 an zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Ehemann der Klägerin war bis 1936 selbständiger Landwirt. Er hat in dieser Zeit Rentenversicherungsbeiträge nicht entrichtet. Anschließend hat er vom 10. Februar 1936 bis zu seinem Tode am 2. Mai 1940, der Folge eines Arbeitsunfalls war, in einem invalidenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden. Die Klägerin erhält eine Unfallhinterbliebenenrente von der Rheinischen Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft.

Für die Zeit der versicherungspflichtigen Beschäftigung des Ehemannes der Klägerin sind 217 Wochenbeiträge zur Invalidenversicherung nachgewiesen. Die Klägerin beantragte am 19. Januar 1956, ihr Witwenrente aus der Invalidenversicherung zu gewähren. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, für ihren Ehemann sei im Zeitpunkt seines Todes die Wartezeit nicht erfüllt gewesen und sie könne auch nicht als erfüllt gelten. Es seien nur 217 Wochenbeiträge = 50 Monatsbeiträge nachgewiesen; Ersatzzeiten gemäß § 1263 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF lägen nicht vor. § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF könne nicht angewendet werden, weil die Vorschrift erst am 1. Mai 1942 in Kraft getreten und der Ehemann der Klägerin vor diesem Zeitpunkt verstorben sei.

Das Sozialgericht (SG) hat die gegen den ablehnenden Bescheid erhobene Klage abgewiesen, und das Landessozialgericht (LSG) hat die hiergegen eingelegte Berufung zurückgewiesen. Das LSG hat ausgeführt: Der Klägerin stehe Witwenrente nicht zu, weil die Wartezeit zur Zeit des Todes des Ehemannes nicht erfüllt gewesen sei und auch nicht als erfüllt gelten könne. Die Wartezeit habe nach § 1262 RVO in der bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Fassung der Vereinfachungsverordnung (VVO) vom 17. März 1945, die nach Art. 26 aaO auch für frühere Versicherungsfälle anzuwenden sei, 60 Beitragsmonate oder 260 Beitragswochen betragen. Zwar gelte nach § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF die Wartezeit auch ohne Rücksicht auf die zurückzulegende Versicherungszeit dann als erfüllt, wenn der Versicherte infolge eines Arbeitsunfalls gestorben sei. Diese Vorschrift könne jedoch entgegen der Ansicht des 4. Senats des Bundessozialgerichts - BSG - (Urteil vom 24. 4. 1958 - 4 RJ 244/56 - in BSG 7, 146) auf Versicherungsfälle vor dem 1. Mai 1942 keine Anwendung finden. Dies werde durch die Gesetze über die Reform der Rentenversicherung bestätigt. Die Klägerin habe deshalb einen Anspruch auf Witwenrente für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 nicht. Für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 sei ein solcher Anspruch ebenfalls nicht begründet, weil auch für diese Zeit nach den in Betracht kommenden Vorschriften des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl I, 45) Voraussetzung sei, daß der Ehemann der Klägerin eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt habe. Auch aus den Übergangsbestimmungen des Neuregelungsgesetzes könne eine der Klägerin günstige Entscheidung nicht hergeleitet werden.

Das LSG hat die Revision zugelassen, weil es von einer Entscheidung des BSG abgewichen und die hier maßgebende Rechtsfrage auch von grundsätzlicher Bedeutung ist.

Mit der Revision beantragt die Klägerin,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils, des Urteils des Sozialgerichts Köln vom 14. Februar 1958 und des Bescheides der Beklagten vom 3. Juli 1956 diese zu verurteilen, der Klägerin Witwenrente vom 1. Februar 1956 ab zu gewähren,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.

Sie rügt die Verletzung des Art. 17 VVO vom 17. März 1945, des § 4 des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes (SVAG) vom 17. Juni 1949 und der §§ 1255, 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF. Sie trägt dazu vor, im Gegensatz zur Rechtsauffassung des Berufungsgerichts müsse die Vorschrift des § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF ohne zeitliche Beschränkung oder sonstige Einschränkung rückwirkend auch auf Versicherungsfälle vor dem 1. Mai 1942 angewendet werden. Der gegenteiligen Ansicht des LSG könne nicht beigetreten werden. Der Anspruch der Klägerin sei auch für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 begründet. Dies folge aus § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF i.V.m. Art. 2 § 5 ArVNG.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen,

Sie meint, das LSG habe die als verletzt gerügten materiell-rechtlichen Vorschriften zutreffend ausgelegt und angewendet.

Die von der Klägerin form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision (§§ 164, 166 Abs. 2 SGG) ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und damit zulässig. Sie ist auch begründet.

Das LSG ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF auf Versicherungsfälle vor dem 1. Mai 1942 keine Anwendung finde. Der 4. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 24. April 1958 - 4 RJ 244/56 - (BSG 7, 146) nicht nur unter ausführlicher Darstellung der Gesetzesentwicklung, sondern auch unter eingehender Abwägung der sich gegenüberstehenden zwei Auffassungen über die Auslegung der maßgebenden Vorschriften dargelegt, warum Art. 26 VVO vom 17. März 1945 (RGBl I, 41) allein die Schlußfolgerung zuläßt, daß Art. 17 VVO und damit § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF auf alle Versicherungsfälle anzuwenden ist, für die am 31. März 1945 ein das Versicherungsverhältnis abschließender Bescheid noch nicht ergangen war, so daß für alle in § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF geregelten Tatbestände jede zeitliche Beschränkung hinsichtlich des Eintritts des Versicherungsfalles entfällt. Das LSG hat sich in dem angefochtenen Urteil gegen diese Ansicht mit neuen Gründen gewandt. Es meint, die Fiktion der Erfüllung der Wartezeit bei Arbeitsopfern sei für Neuversicherungsfalle (ab 1. Januar 1957) in § 1252 Nr. 1 RVO nF geregelt. Nach der Übergangsvorschrift des Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. a ArVNG gelte nun § 1252 Nr. 1 RVO nF auch für Altversicherungsfälle, die nach dem 30. April 1942 eingetreten seien. Hier sei also wieder der 1. Mai 1942 als Stichtag für die erweiternde Anwendung der fiktiven Wartezeiterfüllung auf Altversicherungsfälle festgesetzt worden. Aus dieser Neuregelung ergebe sich, daß auch der Gesetzgeber der Ansicht sei, daß dem § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF nur eine zeitlich begrenzte Rückwirkung auf Versicherungsfälle nach dem 30. April 1942 zukomme.

Dem LSG ist zwar zuzugeben, daß aus der Wahl des Datums des 30. April 1942 in Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. a ArVNG in der Tat herausgelesen werden kann, der Gesetzgeber sei von der vom LSG vertretenen Ansicht ausgegangen. Das Gericht ist jedoch bei der Gesetzesanwendung nicht an eine vom Gesetzgeber möglicherweise gehabte Rechtsauffassung gebunden, sondern hat bei der Gesetzesanwendung lediglich von einem vom Gesetzgeber erteilten Gesetzesbefehl auszugehen. Ein Gesetzesbefehl liegt nun in Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. a ArVNG nur hinsichtlich der Vorschrift des § 1252 Nr. 1 RVO nF vor, also für die Fälle, in denen diese Vorschrift zur Anwendung zu kommen hat. Im vorliegenden Fall ist die Entscheidung jedoch nicht nach dieser Vorschrift zu treffen, sondern die Frage nach der Erfüllung der Wartezeit ist nach altem Recht aus § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF zu beantworten. Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. a ArVNG schreibt aber nicht vor, daß die alte Vorschrift des § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO nur vom 1. Mai 1942 an anzuwenden ist. Die praktische Bedeutung des Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. a ArVNG liegt darin, daß von dieser Regelung nunmehr auch die seit dem 1. Mai 1942 eingetretenen Versicherungsfälle erfaßt werden, für die am 31. März 1945 ein das Versicherungsverhältnis abschließender rechtskräftiger Bescheid bereits ergangen war und die deshalb nicht unter Art. 26 VVO fielen. Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. a ArVNG hat somit an der von dem 4. Senat in dem angeführten Urteil - dem der erkennende Senat sich anschließt - herausgearbeiteten Rechtslage nichts geändert.

Nach § 1255 Abs. 2 RVO aF, der auf den vorliegenden Fall gemäß Art. 2 § 5 ArVNG weiter anzuwenden ist, ist die Hinterbliebenenrente zu gewähren, wenn für den Verstorbenen zur Zeit seines Todes die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten ist. Zwischen den Beteiligten besteht nur noch Streit darüber, ob im Zeitpunkt des Todes des Ehemannes der Klägerin die Wartezeit als erfüllt anzusehen ist. Das ist über die gesetzliche Fiktion des § 1263 a RVO i.d.F. des Art. 17 der VVO vom 17. März 1945 der Fall, denn nach dieser Vorschrift gilt die Wartezeit ohne Rücksicht auf die zurückgelegte Versicherungszeit immer dann als erfüllt, wenn der Versicherte infolge eines Arbeitsunfalls gestorben ist, wie dies hier bei dem Ehemann der Klägerin der Fall ist. Da § 1263 a RVO aF auch auf den Arbeitsunfall des Ehemannes der Klägerin anzuwenden ist, bedarf es entgegen der Ansicht des LSG nicht des Nachweises der Erfüllung der Wartezeit im Wege der Beitragsentrichtung von mindestens 60 Beitragsmonaten nach § 1262 RVO aF. Da somit die Voraussetzungen des § 1255 Abs. 2 RVO aF für die Gewährung der Hinterbliebenenrente an die Klägerin erfüllt sind, ist die Revision begründet, und der Senat konnte auch gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 SGG in der Sache entscheiden. Die Beklagte war auf die Klage unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides vom 3. Juli 1956 und der Urteile des SG Köln, Zweigstelle Aachen, vom 14. Februar 1958 und des LSG Nordrhein-Westfalen vom 21. November 1958 zur Gewährung der Witwenrente vom Ablauf des Antragsmonats an (§ 1286 RVO aF) zu verurteilen, und zwar gemäß Art. 2 § 5 ArVNG auch über den 31. Dezember 1956 hinaus.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2277252

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