Leitsatz (redaktionell)

Bei den Umsiedlungen des 2. Weltkrieges kam es - anders als bei den Evakuierungen und der Flucht - nicht allein auf die Erhaltung von Leib oder Leben der Umsiedler an, so daß eine Beendigung der Umsiedlung dann noch nicht eingetreten sein kann, wenn der Umgesiedelte aus seiner früheren Heimat in ein davon entferntes Lager gelangte, auch wenn dieses Lager möglicherweise in jener Gegend lag, in der der Umgesiedelte einmal seine Heimat finden sollte. Eine zwangsweise Umsiedlung ist vielmehr - dem Zweck dieser Maßnahme entsprechend - grundsätzlich erst mit der Seßhaftmachung und der endgültigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Eingliederung am Ort der Seßhaftmachung beendet.

 

Orientierungssatz

Zur Frage, wann eine "Zwangsweise Umsiedlung" iS von BVG § 5 Abs 1 Buchst d beendet ist (Lageraufenthalt, Abholen der Einbürgerungsurkunde).

 

Normenkette

BVG § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. Dezember 1967 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Der im März 1937 geborene Kläger gelangte im Februar 1943 mit seiner Mutter und weiteren volksdeutschen Einwohnern aus seinem Heimatort S bei S (Ukraine) im Rahmen einer von deutschen Behörden angeordneten Aktion zunächst in ein Lager nach L. Mit weiteren Transporten erreichte er Ende Juni 1943 ein Lager bei R in Oberschlesien. Im September 1944 durften er und seine Mutter mit Erlaubnis der Lagerleitung in R zur landsmannschaftlichen Zusammenführung mit einem Transport in ein Lager nach E/Niederösterreich übersiedeln, in das andere Volksdeutsche verbracht worden waren, die aus der Umgebung des Heimatortes des Klägers stammten. Am 15. Oktober 1944 sollten auf Anordnung der dortigen Lagerleitung in M die Einbürgerungsurkunden abgeholt werden. Zu der Fahrt wurde ein Traktor mit zwei Anhängern benutzt, auf denen je 50 bis 70 Personen dichtgedrängt standen. Auf der Fahrt nach Mistelbach stürzte auf einer abschüssigen Straße der letzte Anhänger um; hierbei erlitt der Kläger Kopfverletzungen. Seit 1948 treten bei ihm Bewußtseinsstörungen und anfallsartige Erscheinungen auf, die verschiedene medizinische Gutachter als traumatische Epilepsie bezeichneten.

Der im November 1950 gestellte Versorgungsantrag des Klägers wurde vom Versorgungsamt durch Bescheid vom 23. Januar 1952 abgelehnt. Das Sozialgericht (SG) Speyer verurteilte mit Urteil vom 5. April 1955 den Beklagten, dem Kläger ab 1. November 1950 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v.H. wegen "symptomatischer Epilepsie" zu gewähren; das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz wies durch Urteil vom 4. Februar 1957 die Berufung des Beklagten zurück. Auf die Revision des Beklagten hob das Bundessozialgericht (BSG) durch Urteil vom 24. November 1960 - 10 RV 324/57 - das Urteil des LSG auf und verwies die Sache an das LSG zurück, weil es in dem angefochtenen Urteil an ausreichenden Feststellungen darüber fehlte, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch des Klägers auf Versorgung gemäß § 5 Abs. 1 Buchst. d Bundesversorgungsgesetz (BVG) vorlägen. In einem Erörterungstermin vor dem LSG am 22. März 1962 nahm der Kläger die Klage zurück; der Beklagte verpflichtete sich, den Versorgungsantrag des Klägers unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG zu überprüfen und einen neuen rechtsbehelfsfähigen Bescheid mit Wirkung vom 1. November 1950 an zu erteilen.

Das Versorgungsamt lehnte nach Erhebung neuer Beweise den Versorgungsantrag des Klägers durch Bescheid vom 10. September 1962 erneut ab, weil die zwangsweise Umsiedlung mit der Ankunft im Lager E beendet gewesen sei. Der Widerspruch des Klägers war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 9. Januar 1963). Das SG hat mit Urteil vom 18. Januar 1966 den Beklagten verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung einer "traumatischen Epilepsie" als Schädigungsfolge Versorgung nach einer MdE um 100 v.H. vom 1. November 1950 an zu gewähren.

Das LSG hat weitere Ermittlungen angestellt und mit Urteil vom 7. Dezember 1967 die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen. In der Begründung hat es ausgeführt, daß die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG im vorliegenden Fall gegeben seien. Der Unfall des Klägers stehe im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg, weil der Krieg im Osten wesentliche Bedingung dafür sei, daß der Kläger in das Reichsgebiet abtransportiert wurde; sonst hätte er seinen Heimatort nicht verlassen müssen. Die Verlegung des Klägers und seiner Mutter von R nach E sei rechtlich ohne Bedeutung. Die Schädigung des Klägers auf der Fahrt von E nach M sei durch die behördliche Anordnung des Lagerleiters in E, an der Fahrt nach M teilzunehmen, um dort die Einbürgerungsurkunde abzuholen, eingetreten.

Die Räumung des Ortes S und der Transport der dort ansässig gewesenen Volksdeutschen in das Reichsgebiet müsse insgesamt als eine Umsiedlung angesehen werden. Diese Maßnahme weise anfangs zwar auch Merkmale einer Evakuierung oder einer organisierten Flucht vor den Gefahren der näherrückenden Front auf; jedoch seien die Volksdeutschen aus Schöntal später in eine Umsiedlungsaktion einbezogen worden, wie sich aus ihrem Transport aus dem Auffanglager L in das Reichsgebiet ergebe. Zu dieser Zeit sei die Front noch östlich des Dnjepr verlaufen, so daß von einer Flucht oder Evakuierung nicht gesprochen werden könne. Dies ergebe sich insbesondere aus der verwaltungsmäßigen Durchführung des Transportes, dem der Kläger angehörte. Wie sich aus der Einbürgerungsurkunde der Mutter des Klägers und einer von ihr vorgelegten Namensliste ergebe, seien für diese Maßnahme die "Deutsche Umsiedlungs-Treuhand G.m.b.H." (DUT) und die "Einwanderer-Zentralstelle" (EwZ) verantwortlich gewesen. Diese Dienststellen hätten zum Befehlsbereich des Reichsführers SS gehört, dem durch Führererlaß vom 7. Oktober 1939 die "Zurückführung der für die endgültige Heimkehr in das Reich in Betracht kommenden Reichs- und Volksdeutschen" zur Aufgabe gemacht worden sei.

Diese Umsiedlung sei auch zwangsweise erfolgt. Nach einem Erlaß des Reichsführers SS habe jeder Volksdeutsche, der sich nicht in die der Vorbereitung der Umsiedlung dienende "Deutsche Volksliste der Ukraine" eintragen ließ, in ein Konzentrationslager eingeliefert werden müssen. Der Zwang ergebe sich ferner auch daraus, daß nach den Zeugenaussagen von deutscher Seite das Verlassen der Heimat angeordnet worden sei und sich dieser Maßnahme niemand habe entziehen können. Entgegen der Auffassung des Beklagten sei die zwangsweise Umsiedlung des Klägers in das Reichsgebiet durch den Wechsel des Lagers von R nach E noch nicht beendet gewesen. Insoweit sei nur eine gewisse Lockerung des Zwanges eingetreten, weil den Umsiedlern erlaubt worden sei, aus dem Sammellager R in ein landsmannschaftlich homogen besetztes Lager überzuwechseln. Ein Ende des Zwangsaufenthaltes könne darin nicht gesehen werden, da die Umsiedler ohne die deutsche Staatsangehörigkeit außerhalb eines Lagers nicht existenzfähig gewesen seien und ohne Einbürgerung weder Arbeit noch Lebensmittelkarten erhalten hätten. Der Kläger habe auch in E den Anordnungen der Lagerleitung folgen müssen und seinen Aufenthalt nicht frei bestimmen können. Es komme nicht darauf an, ob die zwangsweise Umsiedlung des Klägers schon vor der zum Unfall führenden Fahrt beendet gewesen sei. Es sei nicht erforderlich, daß der schädigende Vorgang "während" der zwangsweisen Umsiedlung eingetreten sei; das Gesetz verlange mit dem Wort "infolge" nur einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem schädigenden Vorgang und einer mit einer zwangsweisen Umsiedlung zusammenhängenden besonderen Gefahr, der auch noch nach dem Ende der Umsiedlung bestehen könne. Selbst wenn der Umsiedlerweg beendet gewesen sei, könne noch ein schädigender Vorgang eintreten, der auf einer mit der zwangsweisen Umsiedlung zusammenhängenden und fortbestehenden besonderen Gefahr beruhe.

Der Kläger habe seine Verletzung durch eine mit der zwangsweisen Umsiedlung zusammenhängende besondere Gefahr erlitten.

Er habe den Anordnungen der Lagerleitung Folge leisten müssen, weil er noch nicht deutscher Staatsangehöriger gewesen sei. Von dem durch den Lagerführer befohlenen und organisierten Sammeltransport nach M sei eine besondere Gefahr ausgegangen, weil dieser Transport mit völlig unzureichenden und absolut überbesetzten Transportmitteln durchgeführt worden sei. Auf jedem der beiden Anhänger hätten etwa 50 bis 70 Personen eng gedrängt stehen müssen; ihre einzige Sicherung habe in den 50 bis 80 cm hohen Bordwänden der Anhänger bestanden. Ein in der Wahl seines Transportmittels freier deutscher Staatsbürger wäre auch im Oktober 1944 nicht gezwungen gewesen, eine Fahrt unter solchen Umständen durchzuführen. Die besondere Unfallgefahr stehe im Zusammenhang mit der zwangsweisen Umsiedlung, denn ohne sie hätte der Kläger nicht an dem Sammeltransport teilnehmen und in M erscheinen müssen.

Die Höhe des Versorgungsanspruchs sei zutreffend festgestellt, weil die traumatische Epilepsie des Klägers eine MdE um 100 v.H. bedinge, wie sich vor allem aus dem Gutachten des Landeskrankenhauses M ergebe.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Beklagte hat gegen dieses ihm am 8. Januar 1968 zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom 29. Januar 1968, eingegangen beim BSG am 30. Januar 1968, Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet.

Er beantragt:

1)

Das angefochtene Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 7. Dezember 1967 und das Urteil des SG Speyer vom 18. Januar 1966 werden aufgehoben.

2)

Die Klage gegen den Bescheid des Versorgungsamtes Landau vom 10. September 1962 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 1963 wird abgewiesen.

Der Beklagte rügt eine Verletzung des § 1 Abs. 2 i.V.m. § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG durch das LSG und führt hierzu insbesondere aus, daß es nach dem Beweisergebnis schwer falle, eine zwangsweise Umsiedlung zu verneinen. Zweck und Ziel dieser Maßnahme sei die Wiederansiedlung der Volksdeutschen im Warthegau und in den Gebieten von Lublin und Galizien gewesen. Dieser Zweck habe wegen des Ausgangs des zweiten Weltkrieges nicht erreicht werden können. Faktisch sei die Umsiedlung mit dem Erreichen des Lagers R im Jahre 1943 örtlich und zeitlich beendet gewesen. Hiermit sei der Zweck der Umsiedlung erreicht gewesen, weil von hier aus die Möglichkeit bestanden habe, die Volksdeutschen, wie geplant, in geschlossenen Ortschaften anzusiedeln. Da der Kläger von Juni 1943 bis September 1944 im Lager R verblieben sei, könne man nicht nur von einer vorläufigen Aufenthaltsnahme sprechen. Der anschließende Weitertransport nach E und die Fahrt nach M seien somit nicht mehr Teil der Umsiedlungsmaßnahme und auch keine neue zwangsweise Umsiedlung gewesen. Da die Mutter des Klägers die Erlaubnis erhalten habe, in das Lager E überzuwechseln, könne keine zwangsweise Umsiedlung mehr vorgelegen haben. Die später durchgeführte Fahrt nach M zur Entgegennahme der Einbürgerungsurkunde habe ausschließlich dem eigenen Interesse der Umsiedler gedient und könne mit Kriegsereignissen nicht in Zusammenhang gebracht werden. Der Unfall sei daher nicht infolge einer der zwangsweisen Umsiedlung eigentümlichen Gefahr eingetreten; die Gefahr sei letzten Endes vom Beförderungsmittel selbst ausgegangen und sei nicht unbedingt typisch für eine zwangsweise Umsiedlung.

Zur Darstellung des weiteren Vorbringens des Beklagten wird auf seine Revisionsbegründung vom 29. Januar 1968 verwiesen.

Der Kläger beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Zur Darstellung seines Vorbringens wird auf die Revisionserwiderung vom 18. April 1968 verwiesen.

Da die Beteiligten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt haben (Schriftsätze des Klägers vom 26. Februar und 4. März 1971; Schriftsatz des Beklagten vom 26. Februar 1971) konnte der Senat gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und daher zulässig. Die Revision ist aber nicht begründet.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Kläger wegen der Folgen des auf der Fahrt von Enzersdorf nach Mistelbach erlittenen Unfalls einen Versorgungsanspruch hat. Zwischen den Beteiligten ist nur noch streitig, ob die Vorgänge, die zu der Schädigung des Klägers, also der traumatischen Epilepsie, geführt haben, den Tatbestand des § 1 Abs. 2 Buchst. a i.V.m. § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG erfüllen. Nach § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG steht einer Schädigung im Sinne des Abs. 1 eine unmittelbare Kriegseinwirkung gleich. Nach § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen, schädigende Vorgänge, die infolge einer ... mit der zwangsweisen Umsiedlung ... zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind. Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger als Volksdeutscher aus seinem früheren Heimatort S in der Ukraine über ein Lager in L mit seiner Mutter in ein Lager in R im Rahmen einer Umsiedlungsaktion gebracht worden ist und dazu ausgeführt, daß diese Aktion vom Lager L aus als Umsiedlung - und nicht etwa als Flucht oder Evakuierung - angesehen werden muß. Der Beklagte hat gegen die - auch nach Ansicht des Revisionsgerichts zutreffende - Auffassung des LSG, daß es sich insoweit um eine Umsiedlung im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG handelt, keine Bedenken geäußert. Er hat auch gegen die Feststellung des LSG, daß der Kläger an jener Umsiedlung nicht freiwillig, sondern zwangsweise teilgenommen hat, keine begründeten Revisionsrügen erhoben. Demnach steht für den Senat gemäß § 163 SGG bindend fest, daß der Kläger zumindest vom Lager Lemberg aus durch eine zwangsweise Umsiedlung nach R, also in das frühere Reichsgebiet, gelangt ist. Der Beklagte meint allerdings, daß diese zwangsweise Umsiedlung in R beendet war und der Übertritt des Klägers vom Lager R in das Lager E nicht mehr zur zwangsweisen Umsiedlung im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG gerechnet werden kann, mit der weiteren Folge, daß die von E nach M unternommene Fahrt zur Entgegennahme der Einbürgerungsurkunde mit der zwangsweisen Umsiedlung des Klägers in keinem Zusammenhang mehr steht, so daß der auf dieser Fahrt eingetretene Unfall kein schädigendes Ereignis im Sinne des BVG mehr sein würde. Dieser Auffassung des Beklagten kann nicht gefolgt werden; denn er geht dabei offensichtlich fälschlicherweise davon aus, daß eine Umsiedlung stets dann beendet ist, wenn die Umsiedler in einem bestimmten Lager angekommen sind. Eine solche Betrachtungsweise wird aber dem Sinn und Zweck der von den Behörden des früheren Deutschen Reiches vorgenommenen Umsiedlungsaktionen und damit auch des Begriffes "zwangsweise Umsiedlung" im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG nicht gerecht. Anders als bei der Evakuierung und der Flucht, bei denen der davon Betroffene bezweckt, sein Leben in Sicherheit zu bringen und seine körperliche Unversehrtheit zu erhalten, so daß diese Maßnahmen zeitlich und räumlich nur solange andauern können, als dieser Zweck die Handlungen des Betroffenen bestimmt und nach den äußeren Umständen Leib oder Leben noch nicht gesichert sind (s. dazu BSG in SozR BVG § 5 Nr. 6), ist es Zweck der Umsiedlungen im zweiten Weltkrieg gewesen, ganze Familien und Volksgruppen unter Mitnahme eines Teils der beweglichen Habe zur Seßhaftmachung und endgültigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Eingliederung an den Ort der Seßhaftmachung unter Verlust der bisherigen Heimat zu verbringen (vgl. dazu Urteile des erkennenden Senats vom 24. November 1960 - 10 RV 324/57 - und vom 17. April 1970 - 10 RV 210/67 -). Bei diesen Umsiedlungen kam es also - anders als bei den Evakuierungen und der Flucht - nicht allein auf die Erhaltung von Leib oder Leben der Umsiedler an, so daß eine Beendigung der Umsiedlung dann noch nicht eingetreten sein kann, wenn der Umgesiedelte aus seiner früheren Heimat in ein davon entferntes Lager gelangte, auch wenn dieses Lager möglicherweise in jener Gegend lag, in der der Umzusiedelnde einmal seine Heimat finden sollte. Das Ende der Umsiedlung muß grundsätzlich von dem Zwecke dieser Maßnahme her gesehen werden, also von der Absicht der Umsiedlungsbehörden, den Umgesiedelten wieder seßhaft zu machen mit der Folge seiner endgültigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Eingliederung an dem für die Seßhaftmachung bestimmten Ort. Ob man - hiervon abweichend - von einer Beendigung der Umsiedlung nach Ankunft in einem bestimmten "letzten Lager" sprechen kann, wenn die Behörden aus bestimmten Gründen die Einweisung der Umgesiedelten an einen bestimmten Ort noch nicht vornehmen können und bereits von dem Lager aus zumindest in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung die Umgesiedelten eine Eingliederung erfahren, kann dahinstehen; jedenfalls hat weder der Beklagte behauptet noch das LSG insoweit Feststellungen getroffen, daß die im Lager R befindlichen, aus der Ukraine umgesiedelten Personen solchen ihrer Eingliederung in das Wirtschaftsleben des früheren Deutschen Reiches dienenden behördlichen Maßnahmen unterworfen waren, oder daß es ihnen in anderer Weise möglich war, sich wirtschaftlich einzugliedern. Da der in § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG enthaltene Begriff "Umsiedlung" gerade jene im zweiten Weltkrieg vorgenommenen Umsiedlungsaktionen erfassen und die dabei eingetretenen Schädigungen unter den in dieser Bestimmung weiter aufgestellten Voraussetzungen entschädigen will, muß auch hinsichtlich des Zeitpunktes der Beendigung einer "zwangsweisen Umsiedlung" davon ausgegangen werden, daß sie grundsätzlich erst mit der Seßhaftmachung und der endgültigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Eingliederung am Ort der Seßhaftmachung beendet ist. Daraus folgt aber für den vorliegenden Fall, daß die Umsiedlung des Klägers mit seiner Ankunft und seinem längeren Verweilen im Lager Ratibor noch nicht beendet war; der Beklagte hat nicht einmal behauptet, daß der Kläger in R seßhaft werden sollte; vielmehr hat der Beklagte in seiner Revisionsbegründung ausdrücklich sogar vorgebracht, daß die mit dem Kläger umgesiedelten Personen wahrscheinlich in anderen Teilen des früheren Deutschen Reiches angesiedelt werden sollten.

Ebenso kann der Auffassung des Beklagten nicht gefolgt werden, daß die "zwangsweise Umsiedlung" des Klägers durch den Wechsel des Lagers - also den Übertritt vom Lager R in das Lager E - beendet worden ist, so daß alle späteren Ereignisse nicht mehr "infolge" dieser Umsiedlung eingetreten sind. Das LSG hat hierzu festgestellt, daß der Kläger durch die Übersiedlung in das Lager E nicht aus dem "Zwang der Umsiedlung" entlassen worden war, vielmehr war nur insoweit eine Lockerung dieses Zwanges eingetreten, "die darin bestand, daß den Umsiedlern erlaubt wurde, sich aus dem Sammellager R in ein landsmannschaftlich homogen besetztes Lager transportieren zu lassen". Soweit der Beklagte sich gegen diese Feststellungen wendet und sich hierbei auf die Erklärung der Mutter des Klägers vom 9. Januar 1956 vor der Stadtverwaltung in F bezieht, will er damit offenbar eine Verletzung des § 128 SGG, also des Rechts zur freien Beweiswürdigung durch das LSG rügen. Diese Rüge greift jedoch nicht durch. Die Mutter des Klägers hat in F in Bezug auf die Übersiedlung in das Lager E am 9. Januar 1956 nur erklärt: "Mit der Verschärfung des Luftkrieges wurden wir dann im September 1944 nach Österreich weitergeleitet". Der Beklagte hat jedenfalls substantiiert (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) nicht dargetan, inwieweit das LSG auf Grund dieser Erklärung der Mutter des Klägers und ihres sonstigen Vorbringens gegenüber dem LSG bei seiner oben wiedergegebenen Feststellung die Grenzen seines Rechts zur freien Beweiswürdigung im Sinne des § 128 SGG verletzt haben soll; insbesondere hat der Beklagte keine Tatsachen und Beweismittel dafür bezeichnet, daß das LSG zwingend zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen müssen. War aber - wie oben ausgeführt - die Umsiedlung des Klägers mit seiner Ankunft im Lager R und seinem dortigen Verbleiben für einen längeren Zeitraum noch nicht beendet und blieb er nach den bindenden Feststellungen des LSG trotz der Übersiedlung in das Lager E noch weiter unter dem "Zwang der Umsiedlung" auch in diesem Lager, so ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn das LSG auf Grund dieser Feststellung zu der Auffassung gelangt ist, daß der weitere Aufenthalt des Klägers in dem zuletzt genannten Lager noch zu der "zwangsweisen Umsiedlung" im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG gehört.

Im Gegensatz zur Auffassung des Beklagten hat das LSG zutreffend erkannt, daß die Fahrt des Klägers von E nach M im Oktober 1944 zur Entgegennahme der Einbürgerungsurkunde keine "private" Fahrt gewesen ist. Hierbei kann es dahinstehen, ob - wie das LSG meint - auch nach Abschluß einer Umsiedlung eingetretene schädigende Ereignisse selbst dann den Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG erfüllen können, wenn sie nicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit der zwangsweisen Umsiedlung stehen, sondern nur "infolge" dieser Umsiedlung eingetreten sind, also nur entfernt mit ihr zusammenhängen. Nach den Feststellungen des LSG waren jedenfalls die Abholung der Einbürgerungsurkunde und die damit zusammenhängende Fahrt nach Mistelbach durch den Kläger rechtlich noch als ein Teil der zwangsweisen Umsiedlung im Sinne der bezeichneten Bestimmung anzusehen. Das LSG hat nämlich - vom Beklagten unangegriffen und daher für den Senat gemäß § 163 SGG bindend - festgestellt, daß der Kläger im Lager Enzersdorf, von dem die Unglücksfahrt ausging, den Anordnungen der Lagerverwaltung unterworfen war, und daß die Lagerleitung angeordnet hatte, daß auch der Kläger an dieser Fahrt zur Abholung der Einbürgerungsurkunde teilnehmen mußte. Die Abholung der Einbürgerungsurkunde muß rechtlich deshalb als Teil der "zwangsweisen Umsiedlung" angesehen werden, weil durch die Überreichung der Einbürgerungsurkunde ein mit der Umsiedlung beabsichtigter Zweck, nämlich die politische Eingliederung des volksdeutschen Klägers, erreicht werden sollte. War aber die Fahrt von Enzersdorf nach Mistelbach ein Akt der zwangsweisen Umsiedlung im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst d BVG, so hat sich der auf dieser Fahrt eingetretene Unfall "infolge der zwangsweisen Umsiedlung" ereignet.

Der schädigende Vorgang, also jener Unfall und die dabei entstandene Gesundheitsstörung entspringen auch - wie das LSG zutreffend entschieden hat - einer mit der zwangsweisen Umsiedlung "zusammenhängenden besonderen Gefahr" im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG. Die Einfügung des Wortes "besondere" vor dem Wort "Gefahr" in § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG bringt zwar eine Einschränkung der zu berücksichtigenden Gefahrenquelle zum Ausdruck; Gefahren, die in ähnlicher Weise auch ohne die zwangsweise Umsiedlung hätten eintreten können, sollen als Versorgungstatbestand ausscheiden, selbst wenn sie im Einzelfall mit der Umsiedlung zusammenhängen (s. dazu auch Breith. 1964, 601). Das BSG hat aber zu dem Begriff der "besonderen Gefahr" in § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG ständig die Auffassung vertreten, daß eine derartige Gefahr dann vorliegt, wenn diese der militärischen Besetzung, der zwangsweisen Umsiedlung oder Verschleppung "eigentümlich" ist (zuletzt noch Urteil des erkennenden Senats vom 17. April 1970 - 10 RV 210/67). Das LSG hat für den Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt, daß die von der Leitung des Lagers Enzersdorf nach Mistelbach angeordnete Fahrt mit einem Traktor und zwei Anhängern durchgeführt worden ist, die seitlich durch etwa 50 cm hohe Bretter begrenzt waren, ferner, daß auf den Anhängern jeweils etwa 50 bis 70 Personen dichtgedrängt standen. Dem LSG ist darin beizupflichten, daß selbst unter Berücksichtigung der allgemeinen Verhältnisse Ende 1944 ein derart der Sicherheit im Personenverkehr widersprechendes Verkehrsmittel von einer Person, die eine längere Strecke mit einem Fahrzeug hätte zurücklegen müssen, vernünftigerweise keineswegs benutzt worden wäre. Es kann also keine Rede davon sein, daß der Kläger, der durch die Anordnung der Lagerleitung zur Benutzung jenes Fahrzeuges gezwungen war, "in ähnlicher Weise" auch ohne die zwangsweise Umsiedlung in jene Gefahr geraten wäre und somit den Unfall erlitten hätte. Das LSG hat ferner bindend festgestellt, daß der Kläger bei dem Unfall auf der Fahrt nach Mistelbach eine Kopfverletzung erlitten hat, die zu der bei ihm bestehenden traumatischen Epilepsie geführt hat; weiterhin hat das LSG bindend festgestellt, daß diese traumatische Epilepsie vom Antragsmonat - November 1950 - an mit einer MdE um 100 v.H. zu bemessen ist (§ 30 BVG). Somit hat das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend entschieden, so daß die Revision des Beklagten gegen das Urteil des LSG als unbegründet zurückzuweisen war (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670384

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