Leitsatz (redaktionell)

1. Zum Begriff der schädigenden Vorgänge, die infolge einer mit der zwangsweisen Umsiedlung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind.

2. Die in BVG § 5 Abs 1 Buchst d aufgeführten Tatbestände der militärischen Besetzung deutschen oder ehemals deutschen Gebietes, der zwangsweisen Umsiedlung und der Verschleppung bestehen gleichberechtigt nebeneinander.

 

Normenkette

BVG § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz in Mainz vom 4. Februar 1957 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der im Jahre 1937 geborene Kläger wurde im Februar 1943 mit seiner Mutter und seinen Geschwistern aus der Ukraine zurückgeführt und zunächst in Oberschlesien, dann im Lager E in Niederösterreich untergebracht. Am 15. Oktober 1944, einen Monat nach der Ankunft des Klägers in E, ordnete die Lagerleitung eine gemeinsame Fahrt nach M zur Fertigstellung der Einbürgerungsurkunden an. Die Fahrt wurde mit einem Traktor und zwei Anhängern durchgeführt, die mit je etwa 70 stehenden Personen überladen waren. Auf einer abschüssigen Strecke kippte der letzte Anhänger um, wobei der Kläger Kopfverletzungen erlitt Seit dem Jahre 1948 traten bei dem Kläger Bewußtseinsstörungen und anfallartige Erscheinungen auf. Diese Leiden wurden als "traumatische Epilepsie" diagnostiziert. Von November 1950 an befindet sich der Kläger, abgesehen von kurzen Unterbrechungen, in einer Nervenklinik.

Am 24. November 1950 hat der Kläger beantragt, ihm wegen der Folgen des im Oktober 1944 erlittenen Unfalls Versorgung zu gewähren. Das Versorgungsamt (VersorgA.) L hat diesen Antrag mit Bescheid vom 23. Januar 1952 abgelehnt, weil der Unfall erst nach zwanzigmonatigem Aufenthalt im Bergungsort eingetreten sei und daher mit der militärischen Besetzung, mit Kriegshandlungen oder mit der vorausgegangenen Umsiedlung in keinem ursächlichen Zusammenhang gestanden habe.

Mit Urteil vom 5. April 1955 hat das Sozialgericht (SG.) Speyer diesen Bescheid aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab 1. November 1950 Versorgungsgebührnisse nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 100 v. H. wegen "symptomatischer Epilepsie" zu gewähren. Das SG. hat die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Buchstabe d des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) als erfüllt angesehen, da die Umsiedlung des Klägers nicht vor dem Einbürgerungsakt beendet gewesen, der Unfall also infolge einer mit der zwangsweisen Umsiedlung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sei.

Das Landessozialgericht (LSG.) Rheinland-Pfalz hat die Berufung des Beklagten mit Urteil vom 4. Februar 1957 als unbegründet zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, der Weitertransport des Klägers mit anderen Umgesiedelten von Oberschlesien nach Österreich im September 1944 sei unstreitig eine behördliche Maßnahme im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG, da sie mit der Verschärfung des Luftkriegs, aber auch mit der Vorbereitung der Verteidigung des Reichsgebiets gegen die heranrückenden russischen Truppen in ursächlichem Zusammenhang gestanden habe. Die Fahrt von E nach M am 15. Oktober 1944 müsse ihrer Anordnung und ihrer Durchführung nach als eine nachträgliche Auswirkung derjenigen behördlichen Maßnahmen verstanden werden, die den Kläger im Rahmen einer Umsiedlung oder Flucht von der Ukraine bis nach Niederösterreich geführt haben. Der Umstand, daß die gemeinsame Fahrt zur Abholung der Einbürgerungsurkunden von der Lagerleitung befohlen worden sei, und die Art und Weise der Durchführung dieser Fahrt seien ausschließlich mit der fortbestehenden Flüchtlingseigenschaft des Klägers und der anderen Betroffenen zu erklären. Die Fahrt nach M sei daher als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG anzusehen, wobei dahingestellt bleiben könne, ob auch die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Buchstaben c und d BVG erfüllt seien.

Das LSG. hat die Revision zugelassen "wegen der grundsätzlichen Frage, wann die behördlichen Maßnahmen im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG als beendet anzusehen sind".

Gegen das am 26. Februar 1957 zugestellte Urteil des LSG. hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 20. März 1957, beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen am 22. März 1957, Revision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 10. April 1957, eingegangen am 12. April 1957, begründet. Der Beklagte beantragt dem Sinne nach,

das Urteil des LSG. Rheinland-Pfalz vom 4. Februar 1957 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen,

hilfsweise, die Urteile des LSG. Rheinland-Pfalz vom 4. Februar 1957 sowie des SG. Speyer vom 5. April 1955 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid des Versorgungsamts Landau vom 23. Januar 1952 abzuweisen.

Der Beklagte stützt die Statthaftigkeit der Revision auf § 162 Abs. 1 Nr. 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und rügt eine Verletzung der §§ 103, 106 SGG, 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG. Er wendet sich in erster Linie gegen die Feststellung des LSG., daß der Weitertransport des Klägers von Oberschlesien nach E mit der Verschärfung des Luftkriegs und der Vorbereitung der Verteidigung des Reichsgebiets gegen die herannahenden Russen in ursächlichem Zusammenhang gestanden habe. Tatsächlich sei, wie schon im Berufungsverfahren vorgetragen, Oberschlesien erst im Januar 1945 durch russische Truppen unmittelbar bedroht worden. Das LSG. hätte daher den Zusammenhang des Weitertransports nach E mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung nicht als unstreitige Tatsache hinstellen dürfen, sondern den Sachverhalt insoweit weiter aufklären müssen. Das angefochtene Urteil sei aber auch dann nicht haltbar, wenn der Transport nach E noch als behördliche Maßnahme im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchstabe b oder als Fortsetzung der Flucht gemäß § 5 Abs. 1 Buchstabe c BVG anzusehen sein sollte; denn die behördliche Maßnahme oder die Flucht seien mit der Unterbringung des Klägers in E beendet gewesen, hier habe er eine Unterkunft gefunden, in der ihm ein längeres Verweilen zuzumuten gewesen sei. Die Fahrt nach M zur Beschaffung der Einbürgerungsurkunden habe mit der Evakuierung oder Flucht in keinem versorgungsrechtlich anzuerkennenden Zusammenhang gestanden, sie habe nicht mehr dem Fluchtzweck, dem "Sich-in Sicherheit-bringen", sondern der Eingliederung der Flüchtlinge nach Abschluß der Flucht gedient. Entsprechendes müsse gelten, wenn man den Kläger als Umgesiedelten im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchstabe d BVG ansehen wolle.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 Abs. 1 SGG) und daher zulässig; sie ist auch begründet.

Der Kläger hat nur dann einen Anspruch auf Versorgung nach dem BVG, wenn seine auf den am 15. Oktober 1944 erlittenen Unfall zurückzuführende Gesundheitsstörung durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung (§ 1 Abs. 2 Buchstabe a BVG) verursacht worden ist. Eine unmittelbare Kriegseinwirkung in diesem Sinne liegt vor, wenn einer der Tatbestände des § 5 Abs. 1 BVG verwirklicht ist. Von diesen Tatbeständen hat das LSG. nur den unter Buchstabe b angeführten Schädigungstatbestand herangezogen. Es hat aber zu Unrecht angenommen, daß dessen Voraussetzungen erfüllt seien.

Als unmittelbare Kriegseinwirkungen nach § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG gelten, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen, behördliche Maßnahmen in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung. Voraussetzung ist also, daß die behördlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege und außerdem in einem unmittelbaren ursächlichen Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung stehen. Unter den behördlichen Maßnahmen im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG sind behördliche Anordnungen zu verstehen, die sich entweder an Einzelpersonen oder an einen Teil der Bevölkerung oder an die gesamte Bevölkerung richten, um diese zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Dazu gehört auch die behördlich angeordnete Räumung (Evakuierung) gefährdeter Gebiete (vgl. BSG. 4 S. 128). Das LSG. hat hierzu festgestellt, daß der Weitertransport des Klägers von Oberschlesien nach Niederösterreich im September 1944 eine behördliche Maßnahme gewesen sei, die mit der Verschärfung des Luftkriegs, aber auch mit der Vorbereitung der Verteidigung des Reichsgebiets gegen die heranrückenden russischen Streitkräfte in ursächlichem Zusammenhang gestanden habe. Gegen diese Feststellungen wendet sich der Beklagte mit seiner aus § 103 SGG hergeleiteten Revisionsrüge und behauptet, Oberschlesien sei erst im Januar 1945 unmittelbar bedroht gewesen. Es kann jedoch dahingestellt bleiben, ob der Verfahrensmangel hinreichend substantiiert ist und ob er vorliegt, denn der Kläger kann aus § 1 Abs. 2 Buchstabe a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG selbst dann keinen Anspruch auf Versorgung herleiten, wenn der behördlich angeordnete Transport von Oberschlesien nach Enzersdorf mit der Verschärfung des Luftkriegs und der Vorbereitung von Kampfhandlungen im Zusammenhang gestanden hat. Ein solcher Anspruch setzt nicht nur eine unmittelbare Kriegseinwirkung, im vorliegenden Fall also eine behördliche Maßnahme in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung voraus, sondern darüber hinaus eine gesundheitliche Schädigung, die in ursächlichem Zusammenhang mit der behördlichen Maßnahme stehen muß. Daran fehlt es im vorliegenden Fall, weil die behördliche Maßnahme im Sinne dieser Vorschrift nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des LSG., an die das Revisionsgericht gebunden ist (§ 163 SGG), mit der Aufenthaltnahme des Klägers im Lager E wenigstens vorläufig abgeschlossen war und somit nicht mehr im Zusammenhang mit dem Unfall auf der Fahrt nach Mistelbach gestanden haben kann. Die behördlich angeordnete Räumung gefährdeter Gebiete hat nur den Zweck, die Zivilbevölkerung oder einen Teil davon aus der gefährdeten Zone in ein weniger gefährdetes Gebiet zu verlegen. Sie ist daher grundsätzlich abgeschlossen, wenn der Evakuierte die behördlich zugewiesene Unterkunft am weniger gefährdeten neuen Aufenthaltsort erreicht und von ihr Besitz ergriffen hat (vgl. BSG. 4 S. 128). Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob es sich bei der zugewiesenen Wohnung um ein Privatquartier oder um ein Lager handelt. Voraussetzung ist nur, daß die zugewiesene Unterkunft nicht von vornherein nur einem kurzfristigen Zwischenaufenthalt dienen sollte. War die behördlich angeordnete Evakuierung des Klägers - wie vom LSG. festgestellt - mit seiner Unterbringung im Lager E wenigstens vorläufig beendet, so bestand von diesem Zeitpunkt ab jedenfalls nach § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG kein Versorgungsschutz mehr, weil alle Tätigkeiten des Klägers nach diesem Zeitpunkt nicht mehr auf Grund der behördlichen Evakuierungsmaßnahme verrichtet worden sein können. Deshalb war auch die etwa einen Monat nach der Ankunft des Klägers in E von der Lagerleitung angeordnete und durchgeführte Fahrt nach M zur Fertigstellung der Einbürgerungsurkunden keine Maßnahme der Evakuierung mehr; sie stand mit Kampfhandlungen oder deren Vorbereitung in keinem unmittelbaren Zusammenhang. Der Umstand, daß der Kläger auch nach Abschluß der Evakuierung den Weisungen der Lagerleitung unterworfen blieb und sich daher der von dieser angeordneten Fahrt nach M nicht entziehen konnte, kann jedenfalls bei der Beurteilung dieser Fahrt als behördliche Evakuierungsmaßnahme im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG keine Bedeutung gewinnen. Dahingestellt bleiben kann, ob nach Unterbringung der Evakuierten überhaupt noch Maßnahmen als "nachträgliche Auswirkung der Evakuierung" denkbar sind. Um eine solche Maßnahme dem § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG unterordnen zu können, müßte diese Maßnahme selbst noch in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder deren Vorbereitung stehen. Das ist nicht der Fall, wenn sie nur in entfernterem Zusammenhang mit Kampfhandlungen steht, nämlich erst als Folge einer bereits durchgeführten Evakuierung. Auch im vorliegenden Fall stand die Fahrt von Enzersdorf nach Mistelbach nach der Darstellung des LSG. mit der behördlich angeordneten Räumung Oberschlesiens, d. h. mit Kampfhandlungen oder deren Vorbereitung nicht mehr in einem unmittelbaren Zusammenhang, so daß auch von einer unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG nicht gesprochen werden kann. Die gegenteilige Ansicht des LSG. findet im Wortlaut des Gesetzes keine Stütze und widerspricht dem § 5 BVG, der, wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 15. November 1955 (BSG. 2 S. 29; vgl. ferner: BSG. 4 S. 128 (131, 132); Wilke, KOV. 1953 S. 33 (34)) ausgesprochen hat, nach seinem Sinn und Zweck eng auszulegen ist.

Der Versorgungsanspruch des Klägers ist auch nicht nach § 5 Abs. 1 Buchstabe c BVG begründet. Danach gelten als unmittelbare Kriegseinwirkung solche Einwirkungen, denen der Beschädigte durch die besonderen Umstände der Flucht vor einer aus kriegerischen Vorgängen unmittelbar drohenden Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt war. Ob diese Vorschrift im vorliegenden Fall schon deshalb nicht zur Anwendung kommen kann, weil der Kläger auf behördliche Anordnung und in geregelter Weise aus Oberschlesien evakuiert worden ist, um den späteren Eintritt einer aus kriegerischen Vorgängen drohenden Gefahr zu verhindern (vgl. BSG. 4 S. 128 (132)), kann dahingestellt bleiben. Selbst wenn der Transport des Klägers von Oberschlesien nach Enzersdorf als Flucht anzusehen wäre, wozu allerdings ausreichende tatsächliche Feststellungen fehlen, hätte der Kläger keinen Anspruch nach § 5 Abs. 1 Buchstabe c BVG; denn ebenso wie der Evakuierte ist auch der Flüchtende nur dann versorgungsrechtlich geschützt, wenn die schädigende Einwirkung auf seine Gesundheit innerhalb der örtlichen und zeitlichen Grenzen des Fluchtweges stattgefunden hat (vgl. BSG. 3 S. 263). Zweck sowohl der Evakuierung als auch der Flucht ist, das Leben des Evakuierten bzw. Flüchtenden in Sicherheit zu bringen und seine Unversehrtheit zu erhalten; insoweit sind die in § 5 Abs. 1 unter den Buchstaben b und c geregelten Tatbestände wesensgleich. Die Flucht kann daher - ebenso wie die Evakuierung - zeitlich und örtlich nur so lange dauern, wie dieser Zweck die Handlungen des Flüchtenden bestimmt und nach den äußeren Umständen Leib und Leben noch nicht gesichert sind. Sie endet räumlich dort, wo der Flüchtende eine Unterkunft gefunden hat, in der ihm ein längeres Verweilen zugemutet werden kann, und zeitlich in dem Augenblick, in dem er von dieser Unterkunft Besitz ergriffen hat. Das war bei dem Kläger mit der Ankunft in E und seiner Unterbringung im dortigen Lager nach der Darstellung des LSG. der Fall, so daß von diesem Zeitpunkt ab kein Versorgungsschutz nach § 5 Abs. 1 Buchstabe c BVG mehr bestand.

Der Senat hatte schließlich zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Buchstabe d BVG erfüllt sind. Nach dieser Vorschrift gelten als unmittelbare Kriegseinwirkung, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen, u. a. solche schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der zwangsweisen Umsiedlung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind. Diese Vorgänge stehen neben den anderen in § 5 Abs. 1 Buchstabe d BVG erwähnten schädigenden Vorgängen, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen oder ehemals deutsch besetzten Gebietes oder mit einer Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 26.4.1960, 10 RV 258/57; ebenso BSG. in SozEntsch. BSG. IX/3 Nr. 13 zu § 5 BVG). Der Anwendung des § 5 Abs. 1 Buchstabe d BVG stände deshalb nicht der Umstand entgegen, daß der Transport des Klägers nach Enzersdorf nicht durch Maßnahmen alliierter Truppen und Dienststellen oder einzelner Angehöriger von ihnen während der Besetzung deutschen oder ehemals deutsch besetzten Gebietes verursacht worden ist (vgl. die insoweit mißverständliche Verwaltungsvorschrift Nr. 5 zu § 5 BVG). Die vom LSG. bisher getroffenen Feststellungen reichen zwar aus, den Anspruch des Klägers aus § 1 Abs. 2 Buchstabe a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchstaben b und c BVG zu verneinen, sie genügen jedoch nicht, um zu entscheiden, ob der Kläger im Februar 1943 zwangsweise aus der Ukraine "umgesiedelt" worden ist. Trifft dies zu, so hat das LSG. aufzuklären, ob und in welchem Umfang der Zweck der Umsiedlung über eine anderweitige örtliche Unterbringung hinausging, ob und wann danach die Umsiedlung örtlich und zeitlich abgeschlossen war, und ob insbesondere der Transport des Klägers von Oberschlesien nach Enzersdorf im September 1944 sowie die Fahrt von Enzersdorf nach Mistelbach noch als Teil der Umsiedlungsmaßnahme anzusehen ist.

Auf die Revision des Beklagten mußte daher das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das LSG. aufzuklären haben, ob die im Februar 1943 durchgeführte "Zurückführung" des Klägers aus der Ukraine als Umsiedlungsaktion anzusehen ist und welcher Zweck und welches Ziel mit der Umsiedlung verfolgt wurde. Dies könnte zunächst bedeutsam sein für die Frage, ob mit der Verbringung nach Oberschlesien der Zweck der Umsiedlung schon erfüllt war, oder ob die weitere Zurückführung von Oberschlesien nach Niederösterreich auch noch als Teil der in der Ukraine begonnenen Umsiedlung anzusehen ist. Unter Umständen wird zu klären sein, ob der Weitertransport von Oberschlesien als eine neue zwangsweise Umsiedlung mit dem Zweck der späteren Ansiedlung in Niederösterreich zu betrachten ist. Zweck und Ziel der Umsiedlung wird auch bedeutsam sein für die Beantwortung der Frage, wann die Umsiedlung beendet und ob die Fahrt nach Mistelbach noch eine Umsiedlungsmaßnahme war. Während des Krieges sind Umsiedlungen vorgenommen worden, ohne daß dazu nähere obrigkeitliche Regelungen vorlagen. Mitunter handelte es sich bei diesen als Umsiedlung bezeichneten Maßnahmen aber um Maßnahmen einer Evakuierung oder behördlich gelenkten und geregelten Flucht. Deshalb wird im vorliegenden Fall das LSG. zu klären haben, ob mit der Verbringung des Klägers nach Niederösterreich dessen Umsiedlung in dem Sinne bezweckt war, daß er anderweitig seßhaft gemacht und politisch und sozial am Ort seiner Seßhaftmachung eingegliedert werden sollte. Diese Klärung wird für das LSG. wichtig sein, weil im Gegensatz zur Evakuierung (§ 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG) und zur Flucht (§ 5 Abs. 1 Buchstabe c BVG) eine Umsiedlung nicht in jedem Falle schon dann beendet ist, wenn der Umgesiedelte von der ihm zugewiesenen Unterkunft - selbst wenn ihm ein längeres Verweilen darin zugemutet werden kann - Besitz ergriffen hat. Eine zwangsweise Umsiedlung dient in der Regel einem anderen Zweck als die behördlich angeordnete Räumung gefährdeter Gebiete oder die Flucht vor einer aus kriegerischen Vorgängen drohenden Gefahr. Bei der Umsiedlung steht nicht das "In-Sicherheit-Bringen" im Vordergrund, vielmehr sind für sie - im einzelnen unterschiedlich - außen- oder innenpolitische, meist bevölkerungspolitische Gründe bestimmend. Im Unterschied zur Evakuierung und Flucht ist auch mit der Umsiedlung stets der endgültige Verlust der bisherigen Heimat verbunden. Es wird demnach vornehmlich der Zweck dafür bestimmend sein, ob es sich um eine Evakuierung, Flucht oder Umsiedlung gehandelt hat und wann diese Maßnahme beendet war. Es dürfte für das LSG. naheliegen, unter diesen Gesichtspunkten zu prüfen, ob die Abholung der Einbürgerungsurkunden noch einer Umsiedlungsmaßnahme zuzurechnen ist. Sodann wird das LSG. weiter zu prüfen haben, ob die gesundheitliche Schädigung des Klägers auf der Fahrt nach Mistelbach infolge einer mit der zwangsweisen Umsiedlung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten ist (vgl. dazu BSG. 2 S. 99 (102, 103)).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324498

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