Leitsatz (redaktionell)
Es besteht kein Versorgungsanspruch für im Jahr 1957 in Oberschlesien erfolgte Mißhandlungen einer Deutschen durch polnische und russische Zivilisten.
Normenkette
BVG § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. Mai 1970 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die am 19. Januar 1952 geborene Klägerin begehrt Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen eines Vorfalls, der sich im Jahre 1957 in ihrer damaligen Heimatstadt G/Oberschlesien zugetragen hat. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) hatte die Mutter der Klägerin im April 1957 ihre Tochter zum Bahnpostamt in G mitgenommen, um dort Briefmarken für einen Brief an ihre Schwester in Westdeutschland zu kaufen. Als ein vorbeigehender Zivilist polnischer oder russischer Nationalität diesen Wunsch hörte, trat er nach der Mutter der Klägerin, riß ihr die Klägerin aus der Hand und schleuderte diese auf den Steinfußboden der Bahnhofshalle. Die Klägerin klagte über starke Rückenschmerzen und hatte Fieber. Die Behandlung durch einen polnischen Arzt brachte keinen Erfolg. Die Eltern der Klägerin meldeten den Unfall nicht, weil sie Furcht vor den polnischen Behörden hatten und der Auffassung waren, daß Deutsche von polnischen Behörden und polnischer Polizei weder Recht noch Schutz erhalten würden. Im Jahre 1958 wurde die Klägerin mit ihren Eltern umgesiedelt und kam im Januar 1959 nach W. Der vom Vater der Klägerin gestellte Versorgungsantrag wurde vom Versorgungsamt (VersorgA) W durch Bescheid vom 4. Oktober 1967 abgelehnt. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes - LVersorgA - N vom 2. Januar 1968).
Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die Klage durch Urteil vom 19. März 1969 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 4. Mai 1970 als unbegründet zurückgewiesen und in den Entscheidungsgründen ausgeführt, die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG seien nicht gegeben. Im Jahre 1957 sei die eigentliche militärische Besetzung Oberschlesiens durch russische Truppen längst abgeschlossen und eine polnische Zivilverwaltung eingerichtet gewesen; die polizeilichen Aufgaben seien durch polnische Polizei wahrgenommen worden. Dafür, daß es sich bei dem unbekannten Zivilisten um einen Angehörigen der russischen Besatzungsmacht gehandelt habe, habe die Beweisaufnahme keine genügend sicheren Anhaltspunkte ergeben. Nach den Zeugenerklärungen sei zwar anzunehmen, daß die polnischen Behörden aus eigener Machtvollkommenheit den dort noch ansässigen Deutschen keinen Schutz gewährt und auch Angriffe auf sie nicht verhindert hätten. Ursache hierfür seien die allgemeine politische Nachkriegssituation und die deutsch-feindliche Einstellung der polnischen Behörden und der polnischen Polizei gewesen. Diese Einstellung sei wahrscheinlich auch Ausfluß der Ereignisse, die sich zwischen 1939 und 1945 in Polen ereignet hätten. Hiermit werde zwar ein Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg hergestellt; das Verhalten gegenüber der deutschen Bevölkerung stelle aber keine unmittelbare Kriegseinwirkung mehr dar. Dabei sei es nicht unwesentlich, daß sich der angeschuldigte Vorfall erst 12 Jahre nach Kriegsende ereignet habe, als die Verhältnisse bereits konsolidiert gewesen seien. Auch die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG seien nicht gegeben, weil der schädigende Vorgang keiner Gefahrenquelle entsprungen sei, der eine Verbindung mit typischem Kriegsgeschehen eigentümlich sei.
Gegen das ihr am 25. Juni 1970 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 20. Juli 1970 Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 25. September 1970 durch einen Schriftsatz vom 15. September 1970 eingegangen beim BSG am 16. September 1970, begründet.
Die Klägerin beantragt,
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unter Aufhebung des angefochtenen Urteils, des Urteils des SG Düsseldorf vom 19. März 1969 sowie des Bescheides vom 4. Oktober 1967 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Januar 1968 den Beklagten zu verurteilen, das Wirbelsäulenleiden der Klägerin anzuerkennen, entsprechend dem Schweregrad der gesundheitlichen Schädigung die Minderung der Erwerbsfähigkeit festzusetzen und hierfür ab Antragstellung Rente zu gewähren; |
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die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in sämtlichen Rechtszügen dem Beklagten aufzuerlegen; |
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hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. |
Die Klägerin rügt die Verletzung materiellen Rechts, nämlich des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG, und trägt dazu vor, das LSG habe angenommen, daß die polnischen Behörden aus eigener Machtvollkommenheit den noch in Gleiwitz wohnenden Deutschen im Jahre 1957 keinen Schutz gewährt hätten, so daß diese Personengruppe den Übergriffen anderer, nicht-deutscher Personen schutz- und rechtlos ausgeliefert gewesen sei. Die Ursache hierfür sei in den Ereignissen zu sehen, die sich von 1939 bis 1945 in Polen abgespielt hätten. Damit sei aber ein Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg gegeben, so daß die anspruchsbegründenden Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG vorlägen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin gegen das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 4. Mai 1970 als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und daher zulässig. Sachlich konnte sie keinen Erfolg haben.
Die Klägerin erfüllt die persönlichen Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nr. 1 BVG. Sie hat ihren Versorgungsantrag im Juni 1967 gestellt. Auf sie ist daher das BVG in der seit diesem Zeitpunkt geltenden Fassung, also idF des Dritten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts vom 28. Dezember 1966 (BGBl I S. 750 - 3. NOG -), anzuwenden.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Klägerin, die keinen militärischen oder militärähnlichen Dienst geleistet hat (vgl. § 1 Abs. 1 BVG), ein Versorgungsanspruch dann zusteht, wenn die Schädigung, die sie durch die Mißhandlung im April 1957 erlitten hat, durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung i.S. des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG herbeigeführt worden ist. Das ist nur dann der Fall, wenn einer der Tatbestände des § 5 BVG erfüllt ist (vgl. BSG 2, 29; 2, 265; Urteile des erkennenden Senats vom 23. Juli 1969 - 10 RV 156/g - und vom 17. April 1970 - 10 RV 210/68 -), denn diese Vorschrift enthält eine Aufzählung der Tatbestände, bei deren Vorliegen allein das Vorhandensein einer unmittelbaren Kriegseinwirkung i.S. des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG anzunehmen ist (vgl. BSG aaO). Die in § 5 Abs. 1 Buchst. a - c BVG genannten Tatbestände scheiden hier von vornherein aus. Danach sind Kampfhandlungen und damit unmittelbar zusammenhängende militärische Maßnahmen, behördliche Maßnahmen in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung und Einwirkungen, denen der Beschädigte durch die besonderen Umstände der Flucht vor einer Kriegsgefahr ausgesetzt war, als unmittelbare Kriegseinwirkung anzusehen. Der von der Klägerin geschilderte und von dem LSG festgestellte Schädigungssachverhalt fällt unter keine dieser Alternativen.
Entgegen der Auffassung der Klägerin sind auch die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG nicht gegeben. Nach dieser Vorschrift gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen, schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen oder ehemals deutsch besetzten Gebietes ... zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind. Das BSG hat bereits wiederholt ausgesprochen, daß dieser Schädigungstatbestand eine Gefahrenquelle besonderer Art voraussetzt, die charakteristisch für die militärische Besetzung deutschen oder vormals deutsch besetzten Gebietes gewesen sein muß, die also dieser Besetzung "eigentümlich" ist (vgl. BSG 2, 99; 4, 234; 6, 288; 8, 203; 12, 13; Urteil BSG vom 23. November 1971 - 8 RV 463/71 -). Der Begriff "Besetzung" erstreckt sich dabei nicht nur auf den Vorgang der Inbesitznahme, sondern auch auf den Zustand des Besetzthaltens. Deshalb kann auch noch einige Zeit ("einige Monate", vgl. BSG 8, 203) nach der Inbesitznahme deutschen Gebietes der Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG verwirklicht sein, wenn und solange die besondere, d.h. die der Besetzung eigentümliche Gefahr fortbestanden hat. Andererseits scheiden aber als "besondere Gefahren" i.S. dieser Vorschrift solche Umstände aus, die zwar mit der Besetzung zusammenhängen, jedoch ihrer Art nach auch ohne die Besetzung des Gebietes in ähnlicher Weise hätten eintreten können (vgl. BSG 6, 294; Urteil BSG vom 24. Juni 1971 - 8 RV 13/71 -). Solche allgemeinen Gefahren begründen keinen Versorgungsanspruch. Zu ihnen gehören, wie das BSG bereits entschieden hat (vgl. BSG 2, 99, 102), auch Handlungen einzelner Besatzungsangehöriger, die sie nicht in Ausübung ihres Dienstes, sondern aus persönlichen Motiven begangen haben, weil sich derartige Ereignisse überall und zu jeder Zeit aus dem Zusammenleben von Menschen ergeben können (vgl. Urteil BSG vom 23. November 1971 aaO). Das LSG hat nicht festzustellen vermocht, welcher Nationalität - polnisch oder russisch - der Täter gewesen ist, der die Klägerin mißhandelt hat. Jedenfalls aber hat das LSG aufgrund der eigenen Angaben der Klägerin die Feststellung getroffen, daß es sich um einen "Zivilisten" gehandelt hat. Begründen aber schon Handlungen einzelner Besatzungsangehöriger, die nicht in Ausübung des Dienstes und ohne Verbindung mit dem Dienst aus rein persönlichen Motiven begangen werden, keinen Versorgungsschutz, so kann ein Versorgungsschutz um so weniger angenommen werden, wenn ein Zivilist aus persönlichen Motiven, die zwar im einzelnen ungeklärt geblieben sind, aber möglicherweise seinem Haß gegen die Deutschen entsprangen, für die Schädigung verantwortlich ist.
Die Klägerin vermag ihren Anspruch auch nicht darauf zu stützen, daß - wie die Klägerin vorträgt - die polnischen Behörden den in den besetzten Gebieten noch ansässigen Deutschen keinen Schutz gewährt und Angriffe gegen die Deutschen nicht verhindert haben. Zwar trifft es zu, daß sich auch nach dem förmlichen Ende des Besatzungsregimes in einer gewissen Übergangszeit noch eine mit der militärischen Besetzung zusammenhängende besondere Gefahr auswirken kann. Das ist insbesondere für die Fälle angenommen worden, in denen das eigenverantwortliche Handeln der Zivilverwaltung aus kriegs- und besatzungsbedingten Gründen noch stark eingeschränkt war, so daß eine hinreichend funktionsfähige Verwaltung noch nicht vorhanden war (vgl. BSG 20, 114, 116; SozR BVG Nr. 26 zu § 5). So liegt hier der Fall jedoch nicht. Die Mißhandlung der Klägerin hat sich im April 1957, also 12 Jahre nach Kriegsende ereignet. Zu diesem Zeitpunkt war die polnische Zivilverwaltung nicht nur formell eingesetzt, sondern auch voll funktionsfähig. Das LSG hat unangegriffen und daher für den Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt, daß die Verhältnisse in Oberschlesien im Jahre 1957 konsolidiert waren und daß die polnischen Behörden auch nicht durch die noch im Lande befindlichen Russen daran gehindert waren, Übergriffe auf Deutsche abzuwehren. Kam es gleichwohl zu Angriffen und Mißhandlungen durch ortsansässige Zivilisten, so mögen dabei die Kriegsverhältnisse und Ereignisse aus den Jahren 1939 bis 1945 nachgewirkt haben. Diese Übergriffe entsprangen jedoch rein subjektiven Motiven; sie standen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Besetzung und können - mehr als 10 Jahre nach Kriegsende - nicht mehr als der Besetzung "eigentümlich" angesehen werden.
Die Klägerin ist auch nicht aufgrund einer nachträglichen Auswirkung kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben, zu Schaden gekommen (§ 5 Abs. 1 Buchst. e BVG). Nach der Rechtsprechung des BSG muß der Gefahrenbereich nicht nur in seiner Entstehung, sondern auch in seinem Fortbestand kriegseigentümlich sein (vgl. BSG 4, 230; 7, 183; 24, 200). Das aber lag hier nach den Feststellungen des LSG keinesfalls vor, denn der Angriff des unbekannten Zivilisten auf die Klägerin und ihre Mutter im Jahre 1957 hatte keine Verbindung mehr mit typischem Kriegsgeschehen. Aus diesem Grunde entfällt auch eine Anwendung des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG.
Das LSG hat daher zutreffend einen Versorgungsanspruch der Klägerin verneint. Ihre Revision ist somit unbegründet und mußte zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen