Entscheidungsstichwort (Thema)

Wegfall der Grundlohnkürzung nach dem KVdRG

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein Anspruch auf Wegfall der Grundlohnkürzung nach KVdRG Art 2 § 6 für die Jahre 1961 und 1962 war jedenfalls dann nicht verwirkt, wenn der Antrag Ende 1963 beim Bundesversicherungsamt gestellt wurde.

 

Orientierungssatz

Rechtsstaatliche Erwägungen (Rückwirkungsverbot) oder Gründe des Vertrauensschutzes stehen der sachlichen Prüfung eines Antrages nach KVdRG Art 2 § 6 jedenfalls dann nicht entgegen, wenn der Antrag nur verhältnismäßig kurze Zeit nach Ablauf des Jahres, auf den er sich bezieht, gestellt worden ist; für eine Zeitgrenze von 1 Jahr bietet das Gesetz keinen Anhalt.

 

Normenkette

GG Art. 20 Abs. 3 Fassung: 1949-05-23; KVdRG Art. 2 § 6 Fassung: 1956-06-12

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. Juni 1970 aufgehoben, soweit über die Anschlußberufung der Klägerin entschieden worden ist.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten in der Revisionsinstanz noch darüber, ob der Grundlohn, nach dem die Beiträge der bei der klagenden Landkrankenkasse versicherten Rentner zu berechnen sind, in den Jahren 1961 und 1962 gemäß § 385 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF zu kürzen war, oder ob die Kürzung nach einer inzwischen aufgehobenen Übergangsvorschrift in Art. 2 § 6 des Gesetzes über Krankenversicherung der Rentner (KVdR) vom 12. Juni 1956 unterbleiben mußte. Die Klägerin hatte für die genannten Jahre Ende 1963 den Wegfall der Grundlohnkürzung beantragt, ihren Antrag aber im März 1964 zunächst zurückgenommen, nachdem das - für die Entscheidung über den Antrag zuständige - Bundesversicherungsamt (BVA) Bedenken erhoben hatte: Weder die Träger der Rentenversicherung noch die beitragspflichtigen Rentenantragsteller hätten nach fast zwei Jahren noch mit einer rückwirkenden Beitragserhöhung zu rechnen brauchen. Da das BVA der Klägerin jedoch zugesagt hatte, es werde bei der Prüfung eines neuen für 1963 zu stellenden Antrags unter bestimmten Voraussetzungen die Fehlbeträge der Klägerin in der KVdR aus den Vorjahren mitberücksichtigen, beantragte diese im November 1964 einen Wegfall der Grundlohnkürzung für das Jahr 1963, obwohl die KVdR-Ausgaben dieses Jahres, für sich betrachtet, die Klägerin nicht unangemessen belastet hatten. Als das BVA auch gegen den neuen Antrag Bedenken äußerte, wiederholte die Klägerin im April 1965 ihren Antrag für die Jahre 1961 und 1962.

Die gegen den ablehnenden Bescheid des BVA erhobene Klage wurde vom Sozialgericht (SG) abgewiesen, soweit sie die Jahre 1961 und 1962 betraf; für das Jahr 1963 verpflichtete das SG das BVA zur Erteilung eines neuen Bescheides. Die Berufungen der Beklagten und der beigeladenen Landesversicherungsanstalt (DVA) hatten Erfolg. Das LSG wies die Klage auch insoweit ab, als sie das Jahr 1963 betraf; zugleich wies es die Anschlußberufung der Klägerin für die Jahre 1961 und 1962 zurück: Für diese Jahre habe das BVA einen Wegfall der Grundlohnkürzung ohne Ermessensfehlgebrauch ablehnen dürfen; dabei könne dahinstehen, ob nach Rücknahme des ersten Antrags im März 1964 eine spätere Wiederholung zulässig gewesen sei, denn schon der erste, beim BVA im Januar 1964 eingegangene Antrag sei verspätet gewesen (Urteil vom 9. Juni 1970, gegen das das LSG die Revision insoweit zugelassen hat, als über die Anschlußberufung der Klägerin entschieden worden ist).

Die Klägerin hat die zugelassene Revision eingelegt und beantragt, das BVA zu verpflichten, einen Wegfall der Grundlohnkürzung für die Jahre 1961 und 1962 zuzulassen. Schutzwürdige Interessen der Rentenversicherungsträger würden dadurch nicht verletzt, zumal erst das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. August 1968 endgültige Klarheit über die Höhe der vorzunehmenden Grundlohnkürzungen gebracht habe. Im übrigen sei im Vergleich zu den Nachzahlungen der Rentenversicherungsträger auf Grund dieses Urteils der hier streitige Betrag von etwa 15.000 DM unbedeutend.

Die Beklagte und die beigeladene LVA sind dem Vorbringen der Klägerin entgegengetreten und beantragen unter Hinweis auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils, die Revision zurückzuweisen. Die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II

Die Revision der Klägerin ist zulässig und begründet.

Entgegen der Ansicht des LSG kann der angefochtene Bescheid des BVA, mit dem der Ende 1963 gestellte Antrag auf Zulassung des Wegfalls einer Grundlohnkürzung für die Jahre 1961 und 1962 als verspätet abgelehnt worden ist, mit der vom BVA gegebenen Begründung nicht aufrechterhalten bleiben.

Wie der Senat schon in einem anderen Fall entschieden hat, in dem die Krankenkasse einen entsprechenden Antrag für die Jahre 1964 und 1965 erst in der Mitte des folgenden Jahres (1966) gestellt hatte, war in diesem Zeitpunkt die - an keine gesetzliche Frist gebundene - Antragsbefugnis der Krankenkasse nicht verwirkt: Denn die Rentenversicherungsträger hätten, da die Zulassung des Wegfalls einer Grundlohnkürzung ohnehin rückwirkende Kraft habe, nicht darauf vertrauen dürfen und sich auch nicht darauf eingerichtet, daß eine solche Zulassung nicht noch nachträglich erfolgen würde (Urteil vom 23. November 1971, SozR Nr. 3 zu KVdR Art. 2 § 6, auf dessen den Beteiligten bekannten Inhalt Bezug genommen wird). Wenn die Beklagte hiergegen einwendet, sie habe auch im vorliegenden Fall die Antragsbefugnis der Krankenkasse nicht als "verwirkt", sondern nur ihre Ausübung wegen Verzögerung der Antragstellung aus rechtsstaatlichen Gründen (Rückwirkungsverbot) als unzulässig angesehen, so verkennt sie, daß das Rechtsinstitut der Verwirkung auf dem gleichen Gedanken des Vertrauensschutzes beruht wie das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Rückwirkungsverbot (vgl. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 30. Auflage, § 242 Anm. 9 d, bb). Die Beklagte sagt also, wenn sie sich auf dieses Verbot beruft, im Ergebnis nichts anderes, als daß die Klägerin ihr Antragsrecht nicht mehr ausüben könne, weil sie es aus rechtsstaatlichen Gründen "verwirkt" habe. Daß eine solche "Verwirkung" in dem früher entschiedenen Fall nicht eingetreten war, hat der Senat in dem genannten Urteil näher ausgeführt. Der vorliegende Fall unterscheidet sich davon nur insofern, als hier der Antrag der Klägerin für die Jahre 1961 und 1962 erst gegen Ende des folgenden Jahres (1963) gestellt und - nach Rücknahme im März 1964 - dann im April 1965 wiederholt worden ist. Diese Unterschiede rechtfertigen jedoch keine abweichende Entscheidung.

Ob dabei einem erstmals im April 1965 für die Jahre 1961 und 1962 gestellten Antrag Bedenken entgegengestanden hätten, braucht nicht erörtert zu werden. Die Klägerin hatte ihren Antrag für die genannten Jahre schon Ende 1963 gestellt und war zu seiner Rücknahme nur dadurch veranlaßt worden, daß das BVA den Antrag als verspätet bezeichnet hatte. Da diese Belehrung objektiv unrichtig war, wie die Rechtsprechung inzwischen geklärt hat, kann der Klägerin die Rücknahme des Antrags und die Tatsache, daß sie ihn erst ein Jahr später wiederholt hat, nicht zum Nachteil gereichen. Ebenso wie ein Schuldner, der seinen Gläubiger von der rechtzeitigen Geltendmachung eines Anspruchs abgehalten hat, sich nach Treu und Glauben nicht auf den Eintritt der durch sein Verhalten verursachten Verjährung berufen darf (vgl. Palandt aaO, Überblick vor § 194, 3), kann auch hier der Klägerin die Verzögerung des Antrages über Ende 1963 hinaus nicht entgegengehalten werden. Zu jenem Zeitpunkt war aber die Ausübung ihrer Antragsbefugnis jedenfalls noch nicht unzulässig geworden.

Da sie ihren Antrag hiernach für die fraglichen Jahre rechtzeitig gestellt hat, muß dieser nunmehr unter Beachtung der Grundsätze, die der Senat im Urteil vom 27. August 1968 aufgestellt hat (SozR Nr. 2 zu KVdR Art. 2 § 6), sachlich geprüft werden. Zur Nachholung dieser Prüfung ist der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen worden, das auch die abschließende Kostenentscheidung treffen wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670208

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