Entscheidungsstichwort (Thema)
Letzter wirtschaftlicher Dauerzustand
Leitsatz (redaktionell)
Vorübergehende Besonderheiten in den Unterhaltsverhältnissen sind bei der Bemessung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes grundsätzlich ohne Bedeutung. Eine die Unterhaltslage nachteilig verändernde zum Tode führende Krankheit ist nur dann auszuklammern, wenn die Krankheit als vorübergehender Zustand zu verstehen ist. Handelt es sich bei der Krankheit jedoch um einen Zustand, der ohne den Eintritt des Todes voraussichtlich fortbestanden hätte, ist sie in den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand einzubeziehen.
Normenkette
RVO § 1266 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 43 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 22.05.1975; Aktenzeichen L 10 An 82/74) |
SG Berlin (Entscheidung vom 20.05.1974; Aktenzeichen S 19 An 639/74) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. Mai 1975 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Mai 1974 sowie der Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 1974 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger aus der Versicherung seiner verstorbenen Ehefrau Witwerrente zu zahlen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Der am 7. September 1907 geborene Kläger begehrt aus der Versicherung seiner am 19. Januar 1914 geborenen und am 29. Oktober 1973 gestorbenen Ehefrau Witwerrente nach § 43 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG).
Der Kläger bezog seit längerer Zeit Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die durch Bescheid der Landesversicherungsanstalt Berlin vom 3. Dezember 1973 mit Wirkung vom 1. Oktober 1972 an in ein Altersruhegeld umgewandelt wurde. Die Erwerbsunfähigkeitsrente hatte bis zum 30. Juni 1973 554,80 DM und danach 617,80 DM betragen. Das Altersruhegeld belief sich für die gleichen Zeiten auf 596,60 DM und 664,30 DM.
Seine an einer Herzerkrankung (Aortenklappenstenose mit Herzmuskelschaden) leidende Ehefrau war zuletzt als Wirtschafterin tätig gewesen. Am 28. Juni 1972 erlitt sie einen akuten Herzanfall, der einen Krankenhausaufenthalt erforderte. Anschließend war die Versicherte arbeitsunfähig krank, worauf ihr schließlich zum 31. Dezember 1972 gekündigt wurde. Ihr monatliches Bruttoeinkommen hatte 935,- DM betragen. Vom 9. August 1972 bis zum 1. August 1973 erhielt sie ein tägliches Krankengeld von 24,50 DM (rund 760,- DM monatlich). Anschließend bezog sie aufgrund ihres Rentenantrages vom 8. Dezember 1972 von der Beklagten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von monatlich 250,30 DM. Als Eintritt des Versicherungsfalles wurde der 28. Juni 1972 zugrunde gelegt. Die Rente sollte an sich mit dem 1. Dezember 1972 beginnen, die Nachzahlung wurde jedoch wegen des gezahlten Krankengeldes an die Krankenkasse überwiesen. Der Rentengewährung lag ein vertrauensärztliches Gutachten zugrunde, wonach der Versicherten wegen der bei ihr bestehenden Aortenstenose und paroxysmalen Tachycardien eine geregelte berufliche Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert nicht mehr zumutbar erscheine. Es handele sich um einen Dauerzustand, eine Verbesserung der gestörten Hämodynamik sei allenfalls durch eine Operation, nicht aber durch konservative Maßnahmen zu erreichen.
Den Antrag des Klägers vom 20. November 1973, ihm aus der Versicherung seiner verstorbenen Ehefrau Dora S Hinterbliebenenrente zu gewähren, wies die Beklagte durch Bescheid vom 25. Januar 1974 zurück. Zur Begründung führte sie aus, es fehle an der Voraussetzung, daß die Versicherte den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten habe. Es sei von dem letzten wirtschaftlichen Dauerzustand auszugehen, der hier mit dem Beginn der Erwerbsunfähigkeitsrente der Versicherten, also am 1. Dezember 1972 begonnen habe. Die Rente der Verstorbenen sei aber erheblich niedriger gewesen als die des Klägers. Das über den Rentenbeginn (1. Dezember 1972) hinaus gezahlte und mit der Nachzahlung verrechnete höhere Krankengeld könne keine Berücksichtigung finden, weil es sich hierbei nur um eine vorübergehende Leistung gehandelt habe.
Die hiergegen erhobene Klage blieb erfolglos - Urteil des Sozialgerichts (SG) Berlin vom 20. Mai 1974 -. Die dagegen eingelegte Berufung wurde vom Landessozialgericht (LSG) Berlin durch Urteil vom 22. Mai 1975 zurückgewiesen. Es ist der Auffassung, der letzte maßgebende wirtschaftliche Dauerzustand habe hier im August 1973 begonnen. Darunter sei nämlich nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) - vgl insbesondere BSGE 35, 242 - der Zustand zu verstehen, der vor dem Tod des Versicherten eingetreten sei und ohne diesen Tod fortbestanden hätte. Zwar habe zwischen dem 2. August 1973 und dem Eintritt des Todes nur ein kurzer Zeitraum von rund 3 Monaten gelegen, und in der Regel könne eine verhältnismäßig kurze Zeit grundsätzlich nicht als Dauerzustand angesehen werden. Davon sei hier jedoch eine Ausnahme zu machen. Durch die Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente für die Versicherte ab August 1973 unter Wegfall des Krankengeldes sei eine wesentliche und dauernde Veränderung in den Einkommensverhältnissen der Eheleute eingetreten, die ohne den Tod auch weiterhin bestanden hätte. Entscheidend für die Ermittlung des "Dauerzustandes" könne nicht allein seine zeitliche Ausdehnung sein, sondern es komme in erster Linie darauf an, ob bei objektiver Betrachtungsweise aller Voraussicht nach eine nicht nur vorübergehende, sondern eine dauerhafte Situation eingetreten sei. Das aber sei hier dadurch geschehen, daß der Ehefrau des Klägers Erwerbsunfähigkeitsrente auf Dauer zugebilligt worden sei. Der Kläger könne sich auch nicht darauf berufen, daß die Hausarbeit seiner Ehefrau auf ihren Unterhaltsbeitrag anzurechnen und dieser daher höher als sein eigener gewesen sei. Zwar sei grundsätzlich auch die Hausarbeit der Ehefrau als Unterhaltsbeitrag anzusehen. Seien jedoch, wie hier, beide Eheleute Erwerbsunfähigkeitsrentner, so hebe sich die von ihnen zu leistende Hausarbeit grundsätzlich gegeneinander auf. Dabei komme es auch nicht darauf an, ob der Kläger seiner Verpflichtung, die Hälfte der Hausarbeit zu erbringen, auch tatsächlich nachgekommen sei. Eine Ausnahme sei nur denkbar, wenn er aus tatsächlichen Gründen keine Haushaltstätigkeit hätte erbringen können. Ein solcher Sachverhalt sei hier aber nicht erwiesen. Er ergebe sich auch nicht aus dem vorgelegten Attest des behandelnden Arztes des Klägers.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Der Kläger hat dieses Rechtsmittel nach Bewilligung des Armenrechts eingelegt mit dem Antrage,
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ihm gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, |
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das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Berlin vom 20. Mai 1974 sowie den Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 1974 aufzuheben und diese zu verurteilen, ihm aus der Versicherung seiner verstorbenen Ehefrau Hinterbliebenenrente zu gewähren. |
Gerügt wird unrichtige Anwendung des § 43 AVG. Maßgeblicher letzter wirtschaftlicher Dauerzustand müsse hier nach der Rechtsprechung des BSG die Zeit bis zur Erkrankung der Versicherten im Juni 1972 sein. Bis dahin habe diese den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten. Entgegen der Auffassung des LSG dürfe dagegen nicht ausschließlich auf den Zeitraum vom 2. August 1973 an abgestellt werden. Das sei schon deshalb nicht angängig, weil der damals eingetretene Zustand auch von den Betroffenen noch nicht als endgültig angesehen worden sei. Die Versicherte habe sich einer Herzoperation unterzogen, um ihre Krankheit beheben zu lassen. Kurz nach der Operation sei sie überraschend gestorben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
da das angefochtene Urteil der Rechtsprechung des BSG entspreche.
Entscheidungsgründe
Der Kläger hat gegen das ihm am 22. Juli 1975 zugestellte Urteil des LSG am 29. Januar 1976 Revision eingelegt, nachdem ihm durch Beschluß vom 7. Januar 1976 das Armenrecht bewilligt worden war, und in der Folgezeit sein Rechtsmittel innerhalb der verlängerten Revisionsbegründungsfrist rechtzeitig begründet. Damit war ihm zunächst die begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da er ohne sein Verschulden, nämlich infolge von Mittellosigkeit, an der rechtzeitigen Einlegung und Begründung der Revision verhindert war, § 67 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Die Revision ist auch begründet.
Nach § 43 Abs 1 AVG erhält der Ehemann nach dem Tode seiner versicherten Ehefrau Witwerrente, wenn die Verstorbene den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat.
Diese gesetzliche Regelung ist nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 1975 (SozR 2200 § 1266 Nr 2) derzeit geltendes Recht. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist maßgeblich, ob die Ehefrau den überwiegenden Familienunterhalt während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustands vor ihrem Tode bestritten hat. Der Begriff des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes ist nicht im Gesetz enthalten, sondern von der Rechtsprechung unter Berücksichtigung des Zweckes, nämlich der Unterhaltsersatzfunktion der Witwerrente, entwickelt worden. Deshalb ist als maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Unterhaltsverhältnisse der Dauerzustand zu wählen, der sich unter den vor dem Tode vorhandenen Zuständen als der letzte Dauerzustand darstellt, wobei vorübergehende Besonderheiten in den Unterhaltsverhältnissen grundsätzlich ohne Bedeutung sind (vgl hierzu im einzelnen insbesondere BSG 35, 243 ff).
In der Rechtsprechung des BSG ist bereits mehrfach erörtert worden, ob der danach maßgebende letzte wirtschaftliche Dauerzustand etwa mit dem Beginn der zum Tode führenden Krankheit enden müsse oder doch enden könne. Hierbei besteht Übereinstimmung, daß die Ausklammerung der Krankheitszeit nur dann in Betracht kommen kann, wenn die zum Tode führende Krankheit die Unterhaltslage nachteilig verändert hat. Zweifelhaft kann jedoch sein, ob und wann die zum Tode führende Krankheit als vorübergehender Zustand zu verstehen ist. Nach der Rechtsprechung des BSG kann mit einer solchen Betrachtungsweise nicht jede Zeit einer zum Tode führenden Krankheit ausgeklammert werden. Denn diese Zeit ist häufig kein vorübergehender Zustand, sondern ein solcher, der ohne den Eintritt des Todes voraussichtlich fortbestanden hätte. Insoweit kommt es jeweils auf die Verhältnisse des Einzelfalles entscheidend an.
Im vorliegenden Falle manifestierte sich das bei der Klägerin bereits seit längerer Zeit bestehende Herzleiden erstmalig am 28. Juni 1972. Damals konnte die Erkrankung aber noch nicht als "Vorstufe" des Todes (vgl BSGE 35, 243, 246) angesehen werden; sie wurde zu einer solchen vielmehr erst durch die kurz vor dem Tode durchgeführte Herzoperation. Außerdem ist die Zeitspanne zwischen der ersten Krankenhauseinlieferung Ende Juni 1972 und dem späteren Todestag (29. Oktober 1973) so groß, daß es unmöglich erscheint, allein auf die vorhergehende Zeit als den maßgebenden letzten wirtschaftlichen Dauerzustand zurückzugreifen. Vielmehr muß hier auch der Zeitraum berücksichtigt werden, in dem sich das Herzleiden der Klägerin endgültig und jedenfalls für die überschaubare nächste Zukunft manifestiert hatte. In diesem aber hatte die Klägerin Krankengeld bezogen, das höher als die Rente des Klägers war. Da es für fast ein Jahr bezogen wurde, bestimmte es wesentlich den maßgebenden letzten wirtschaftlichen Dauerzustand.
Unerheblich ist hierbei, daß der Versicherten ab 1. Dezember 1972 an sich kein Krankengeld mehr zustand, weil ihr für diesen Zeitraum später Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zugebilligt wurde (§ 183 Abs 3 Satz 1 RVO). Jedenfalls konnte das Krankengeld nicht zurückgefordert werden (§ 183 Abs 3 Satz 3 RVO), und es war für den Unterhalt der Familie verbraucht worden. Maßgebend können insoweit nur die tatsächlichen Verhältnisse sein, wobei das Krankengeld als Erträgnis einer Erwerbstätigkeit dem Unterhalt der Familie dient (vgl BSG in SozR Nr 57 zu § 1265 RVO und SozR 2200 § 1265 Nr 9). Danach hat die Klägerin fast bis zuletzt stets das höhere Einkommen gehabt und damit den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten. Dies muß somit als maßgebender letzter wirtschaftlicher Dauerzustand angesehen werden. Denn für eine gegenteilige Betrachtungsweise ist der anschließende Zeitraum bis zum Eintritt des Todes viel zu kurz. Würde allein auf diese Zeit "der Vorstufe" des Todes abgestellt, so müßte einer vorübergehenden Besonderheit eine ausschlaggebende Bedeutung zukommen, was nach der Rechtsprechung des BSG vermieden werden soll. Die von ihm entwickelte Rechtsprechung zum letzten wirtschaftlichen Dauerzustand will Raum für Billigkeitserwägungen schaffen (BSG 35, 243, 245). Gerade sie gebieten es hier, die letzten 3 Monate vor dem Tode als vorübergehenden Zustand außer Betracht zu lassen, weil sich erst in diesem Zeitraum die - über die Herzoperation - zum Tode führende Krankheit vermindernd auf den Beitrag der Versicherten zum Unterhalt ausgewirkt hat.
Hinzu kommt, daß der Tod der Versicherten unvorhergesehen eingetreten ist, weil sie die Operation, mit der ihre Erwerbsfähigkeit wiederhergestellt werden sollte, nicht überlebt hat.
Zu Unrecht hat daher das LSG den Zeitraum ab August 1973 als den maßgebenden letzten wirtschaftlichen Dauerzustand angesehen.
Damit sind entgegen der Auffassung des LSG die Voraussetzungen für die Gewährung einer Hinterbliebenenrente nach § 43 AVG gegeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen