Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 29.07.1954) |
Tenor
Unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Juli 1954 wird die Sache an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe
Der Kläger wurde als Soldat im ersten Weltkrieg verwundet. Mit Bescheid vom 5. Juni 1952 erkannte das Versorgungsamt Essen verschiedene Gesundheitsstörungen als Folgen der Verwundung an, lehnte jedoch die Gewährung einer Rente ab, da die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Gesundheitsstörungen nicht um 25 v.H. gemindert sei. Der Einspruch des Klägers blieb erfolglos, seine Klage wurde durch Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 16. März 1954 abgewiesen. In der Urteilsurkunde ist unter der Unterschrift des Vorsitzenden eine Rechtsmittelbelehrung angefügt, die der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle unterschrieben hat. Sie hat folgenden Wortlaut: „Dieses Urteil ist durch die Berufung anfechtbar. Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht in Essen, Rüttenscheider Straße 2 – Glückauf-Haus –, innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen (§ 151 SGG)”
Das Urteil wurde dem Kläger am 1. April 1954 zugestellt. Er legte gegen dieses Urteil mit einem Schriftsatz, der keine Tagesangabe enthält und an das Sozialgericht Düsseldorf gerichtet war, Berufung ein. Dort ging er am 29. April 1954 ein. Am 18. Mai 1954 sandte das Sozialgericht Düsseldorf die Berufungsschrift des Klägers an das Landessozialgericht Essen, wo sie am 20. Mai 1954 einging. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht Essen beantragte der Kläger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und erklärte, daß er das Berufungsschreiben im Konzept ohne Anschrift geschrieben und dann seiner Stenotypistin zur Reinschrift übergeben habe. Bei der Unterzeichnung der Berufungsschrift habe er sich auf die richtige Adressierung verlassen.
Das Landessozialgericht verwarf mit Urteil vom 29. Juli 1954 die Berufung als unzulässig. Nach der Begründung des Urteils war die am 20. Mai 1954 beim Landessozialgericht eingegangene Berufung verspätet eingelegt, weil die Berufungsfrist mit dem 3. Mai 1954 bereits abgelaufen war. Dem Wiedereinsetzungsantrag des Klägers gab das Landessozialgericht nicht statt, weil der Kläger die erforderliche Sorgfalt nicht aufgewendet und somit selbst verschuldet habe, daß die Berufung nicht fristgerecht beim Landessozialgericht einging.
Die Revision wurde nicht zugelassen. Das Urteil wurde dem Kläger am 21. August 1954 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 14. September 1954, eingegangen beim Bundessozialgericht am 17. September 1954, hat der Kläger gegen dieses Urteil Revision eingelegt und die Revision mit Schriftsatz vom 30. September 1954, eingegangen beim Bundessozialgericht am 8. Oktober 1954, begründet. Er beantragt dem Sinne nach.
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Juli 1954, das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 16. März 1954, den Einspruchsbescheid des Versorgungsamts Essen vom 18. Juli 1952 und den Bescheid des Versorgungsamts Essen vom 5. Juni 1952, soweit dieser die Anerkennung der Beschwerden im Rücken und in der Brust als Schädigungsfolgen ablehnt, aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, auch die Beschwerden im Rücken und in der Brust als Versorgungsleiden anzuerkennen und eine entsprechende Rente vom 1. November 1951 an zu zahlen sowie die Kosten des Rechtsstreits zu tragen,
hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Juli 1954 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Der Kläger rügt eine Verletzung der §§ 151, 64, 67 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und führt aus, daß die Rechtsmittelfrist zwar mit dem 3. Mai 1954 abgelaufen sei, seine Berufung jedoch bereits mit dem Eingang beim Urkundsbeamten des Sozialgerichts am 29. April 1954 wirksam eingelegt worden sei. Im übrigen hätte ihm aber, falls dieser Ansicht nicht gefolgt werde, die Wiedereinsetzung gewährt werden müssen. Den verspäteten Eingang der Berufung beim Landessozialgericht habe das Sozialgericht verschuldet. Bei sofortiger Weitergabe der Berufung wäre diese noch bis zum Ablauf der Berufungsfrist eingegangen. Bei sofortiger Rückgabe an ihn hätte er aber noch Zeit gehabt, selbst die Berufung beim Landessozialgericht rechtzeitig einzureichen. Das Versehen bei der Anschrift der Berufung sei entschuldbar. Er hätte sich darauf verlassen können, daß die Anschrift richtig gewesen sei, nachdem er in der Folgezeit von der Sache nichts mehr erfahren habe.
Zur Begründung seines sachlichen Begehrens beruft sich der Kläger auf seine bisherigen Ausführungen und beantragt, ein Sachverständigengutachten über seinen Gesundheitszustand einzuholen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, die Revision zurückzuweisen.
Er führt aus, daß weder der Kläger einen Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt habe noch die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG zulässig sei. Er hält die Auffassung, daß die Berufung mit ihrem Eingang beim Sozialgericht gemäß § 151 SGG wirksam eingelegt sei, für unzutreffend. Seiner Ansicht nach ist der verspätete Eingang der Berufung beim Landessozialgericht allein dem Verschulden des Klägers zuzuschreiben.
Das angefochtene Urteil konnte nicht aufrechterhalten werden.
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist auch statthaft. Da sie im angefochtenen Urteil nicht zugelassen wurde, ist sie nur unter den Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 3 SGG statthaft. Wenngleich der Kläger in seiner Revisionsbegründungsschrift vom 30. September 1954, die während der Revisionsbegründungsfrist eingegangen ist und in welcher daher gemäß § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG allein noch rechtzeitig Verfahrensmängel gerügt werden konnten, nicht wörtlich „Verfahrensmängel” erwähnt hat, so hatte er doch unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß er die Verwerfung seiner Berufung für unzutreffend halt und daß das Landessozialgericht auf seine Berufung hin eine Sachentscheidung hätte treffen müssen. Mit diesem Vorbringen rügt der Kläger einen Verfahrensmangel des Landessozialgerichts (BSG. 1 S. 283 und BSG. in SozR. SGG § 162 Bl. Da 3 Nr. 21). Allerdings ergeben die Tatsachen, die der Kläger zunächst für das Vorbringen des gerügten Verfahrensmangels angibt, diesen Mangel nicht. Mit dem Eingang der Berufungsschrift beim Sozialgericht war die Berufung noch nicht rechtswirksam eingelegt. Der § 151 SGG verlangt, daß die Berufung schriftlich beim Landessozialgericht eingelegt oder zur Niederschrift eines Urkundsbeamten – sei es des Sozialgerichts oder des Landessozialgerichts – erklärt wird. Der klare Wortlaut des Gesetzes erlaubt nicht, die Berufung bereits mit dem Eingang der Berufungsschrift beim Sozialgericht als eingelegt zu betrachten. Die Berufung war daher, wie das Landessozialgericht mit Recht angenommen hat, erst mit dem Zeitpunkt des Eingangs der Berufungsschrift beim Landessozialgericht wirksam eingelegt (BSG. in SozR. SGG § 151 Bl. Da 2 Nr. 3). Dem Landessozialgericht ist insoweit kein Rechtsirrtum unterlaufen, als es die Berufung mit dem 20. Mai 1954 als eingelegt ansah.
Der Kläger hat aber weiterhin für den von ihm gerügten Verfahrensmangel, das Landessozialgericht habe anstatt einer Sachentscheidung die Berufung verworfen, vorgebracht, daß ihm zu Unrecht die Wiedereinsetzung nicht gewährt worden sei. Er ist dabei selbst wie auch das Landessozialgericht davon ausgegangen, daß die Berufungsfrist mit dem 3. Mai 1954 abgelaufen war. Diese Ansicht ist aber rechtsirrig.
Nach § 66 Abs. 1 SGG beginnt die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei dem der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist. § 136 Abs. 1 Nr. 7 SGG schreibt vor, daß das Urteil die Rechtsmittelbelehrung enthält. Über das Rechtsmittel gegen das vom Kläger angefochtene Urteil des Sozialgerichts ist eine formgültige Belehrung im Sinne dieser Vorschriften nicht erteilt worden, weil die Rechtsmittelbelehrung nicht im Urteil enthalten ist (§ 136 Abs. 1 Nr. 7 SGG). Zwar enthalten auch andere Verfahrens Ordnungen eine dem § 66 SGG ähnliche Vorschrift, wonach die Rechtsmittelfristen nur zu laufen beginnen, wenn eine Rechtsmittelbelehrung erteilt ist (§ 9 Abs. 5 ArbGG, § 35 MRVO Nr. 165, § 32 VGG, § 21 BVerwGG). Jedoch enthält im Gegensatz zum SGG keine dieser Verfahrensordnungen Vorschriften darüber, von wem und in welcher Form die Rechtsmittelbelehrung zu erteilen ist. Nur das Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) schreibt im § 9 Abs. 4 vor, daß die Rechtsmittelbelehrung „auf den zur Zustellung an die Parteien bestimmten Ausfertigungen der Urteile … zu vermerken” ist. Bei dieser Fassung des § 9 Abs. 4 ArbGG hat das Bundesarbeitsgericht eine Rechtsmittelbelehrung für formgültig und ausreichend angesehen, die der einer Partei zugestellten Urteilsausfertigung auf einem besonderen vorgedruckten Zettel ohne Kopf und Unterschrift beigefügt war (BAG. Urt. v. 2.12.1954 im BABl. 1955 S. 359). Für die nach dem SGG zu fordernde Form der Rechtsmittelbelehrung, die gemäß § 136 Abs. 1 Nr. 7 im Urteil enthalten sein muß, kann diese Entscheidung wegen der unterschiedlichen Fassung der gesetzlichen Vorschriften über die Form der Rechtsmittelbelehrung keine Bedeutung haben. Das hat auch das Bundesarbeitsgericht selbst in der Begründung der erwähnten Entscheidung hervorgehoben. Das SGG hat dadurch daß es die Rechtsmittelbelehrung zum Bestandteil des schriftlich abgefaßten Urteils gemacht hat, den Beteiligten das Recht eingeräumt, die Rechtsmittelbelehrung von den Gericht zu erhalten, welches das Urteil gefällt hat. Das Maß der den Beteiligten gewährleisteten Rechtssicherheit ist aber nicht erreicht, wenn bei einem Urteil des Sozialgerichts nicht der Vorsitzende, sondern, wie im vorliegenden Fall, der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle die Rechtsmittelbelehrung erteilt hat. Sie kann daher ungeachtet ihres Inhalts als eine Rechtsmittelbelehrung, wie sie § 66 SGG voraussetzt, nicht angesehen werden (so auch BSG. Urt. vom 20.12.1956 – 3 RK 22/55 –). Da somit vom Sozialgericht eine formgerechte Rechtsmittelbelehrung nicht erteilt war, so bewirkte dieser Mangel gemäß § 66 Abs. 2 SGG, daß die Frist zur Einlegung der Berufung ein Jahr betrug, also erst am 1. April 1955 endete, ohne daß es darauf ankam, ob gerade auf diesen Mangel es zurückzuführen ist, daß die Berufung erst nach Ablauf der normalen Berufungsfrist von einem Monat (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt wurde (BSG. 1, 254 [256]). Die mit Eingang der Berufungsschrift beim Landessozialgericht am 20. Mai 1954 eingelegte Berufung war daher nicht verspätet, so daß für das Landessozialgericht kein Anlaß bestand, über den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu entscheiden.
Diesen Umstand hat der Kläger allerdings nicht für den von ihm gerügten Verfahrensmangel – Erlaß eines Prozeßurteils anstatt eines Sachurteils – angeführt. Zur Rüge von Verfahrensmängeln, insbesondere von solchen, die verschiedene Ursachen haben können – wie im vorliegenden Fall die Rüge des ergangenen Prozeßurteils anstatt eines Sachurteils –, ist allerdings im allgemeinen die Bezeichnung gerade der Tatsachen zu fordern (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG), die den Mangel ergeben (BSG. 1, 199 [201] und 1, 227 [230]). Die Rüge, das Vordergericht habe zu Unrecht die Wiedereinsetzung nicht gewährt, setzt aber voraus, daß tatsächlich der Rechtsbehelf verspätet war. Wie der Dritte Senat des Bundessozialgerichts entschieden hat – von dessen Ansicht abzuweichen der erkennende Senat keinen Anlaß hat – liegt in solchem Falle in der Rüge, die Wiedereinsetzung sei zu Unrecht nicht gewährt worden, im Zweifel gleichzeitig die Rüge, das Vordergericht habe den Rechtsbehelf zu Unrecht als verspätet angesehen (BSG. Urt. v. 20.12.1956 – 3 RJ 88/54 – = SozR, SGG § 162 Bl Da 16 Nr. 66), Darauf ist aber der Revisionsangriff nach seinem Sinn vorwiegend gerichtet. Ist somit in dem Vorbringen des Klägers die Rüge enthalten, das Landessozialgericht habe zu Unrecht die Berufung als verspätet angesehen, so macht diese Rüge die Revision zulässig; denn tatsächlich war wegen der unterbliebenen Rechtsmittelbelehrung die Berufungsfrist im Zeitpunkt des Eingangs der Berufungsschrift beim Landessozialgericht am 20. Mai 1954 noch nicht abgelaufen. (§ 66 Abs. 2 SGG).
Auf diesem Verfahrensmangel beruht auch das angefochtene Urteil, weil andernfalls das Landessozialgericht an Stelle des Prozeßurteils ein Sachurteil erlassen hätte. Bei einem Verfahrensmangel „beruht” im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG die Entscheidung bereits auf diesem Mangel, wenn nur die Möglichkeit einer anderweitigen Entscheidung bei Vermeidung des Verfahrensmangels bestand. Die Revision ist somit auch begründet. Das angefochtene Urteil mußte aufgehoben werden. In der Sache selbst konnte der Senat keine Entscheidung treffen, da jegliche Feststellungen des Landessozialgerichts über die Voraussetzungen für die Gewährung der vom Kläger begehrten Rente fehlen. Die Sache mußte daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 926569 |
NJW 1957, 926 |