Leitsatz (amtlich)

Für Zeiten des Kriegsdienstes im ersten Weltkrieg, in denen einem Versicherten gleichzeitig Invalidenrente nach RVO § 1255 Abs 3 idF vom 1911-07-19 (sogenannte Krankenrente) gewährt worden ist, sind Steigerungsbeträge nach AusbauG RV § 119 nicht zu gewähren.

 

Normenkette

RVO § 1255 Abs. 3 Fassung: 1911-07-19; RVAusbauG § 119 Fassung: 1937-12-21

 

Tenor

Auf die Revision der Beigeladenen werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 12. Oktober 1962 und des Sozialgerichts Aurich vom 2. Juni 1961 aufgehoben, soweit sie die rentensteigernde Anrechnung der Kriegsdienstzeit des Klägers von Oktober 1918 bis zum September 1919 betreffen; insoweit wird die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Klägers im Revisionsverfahren sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger war seit 1912 pflichtversichert in der Invalidenversicherung und leistete von 1916 bis 1919 Kriegsdienst; 1918 wurde er verwundet, war anschließend im Lazarett und wurde am 8. September 1919 aus dem Militärdienst entlassen. Nach der Verwundung gewährte ihm die Beigeladene nach Wegfall des Krankengeldes eine Invalidenrente wegen vorübergehender Invalidität vom 11. Oktober 1918 an bis nach Kriegsende. Nach dem ersten Weltkrieg war der Kläger als Angestellter beschäftigt und leistete Beiträge zur Reichsversicherungsanstalt für Angestellte. Im März 1956 wurde er berufsunfähig. Mit Bescheid vom 26. Mai 1959 gewährte ihm die Beklagte Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Dezember 1958 an. Mit der Klage begehrte der Kläger die Gewährung der Rente von einem früheren Zeitpunkt an, die Berücksichtigung von Steigerungsbeträgen auch für die Zeit des Rentenbezugs während des Kriegsdienstes über die Anrechnung weiterer Beiträge. Das Sozialgericht Aurich (SG) verurteilte die Beklagte, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Januar 1957 zu gewähren und bei der Berechnung der Rente zusätzlich noch die Zeit von Oktober 1918 bis September 1919 als Kriegsdienstzeit zu berücksichtigen; im übrigen wies es die Klage ab. Die Beigeladene legte Berufung ein, die Beklagte stellte im Berufungsverfahren keinen Antrag. Durch Urteil vom 12. Oktober 1962 verwarf das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beigeladenen als unzulässig, soweit sie den Rentenbeginn betraf, im übrigen wies es die Berufung als unbegründet zurück: Die Kriegsdienstzeit sei Ersatzzeit auch dann gewesen, wenn der Versicherte während dieser Zeit Rente bezogen habe; für den jetzigen Versicherungsfall seien die alten Beitragszeiten und Ersatzzeiten nicht durch die frühere Rente "verbraucht"; die alte Rentenbezugszeit berühre den neuen Versicherungsfall nicht, sie schalte die gleichzeitige Kriegsdienstzeit als Ersatzzeit für den neuen Versicherungsfall nicht aus. Die Revision ließ das LSG zu. Das Urteil wurde der Beklagten und der Beigeladenen am 5. November 1962 zugestellt.

Am 14. November 1962 legte die Beigeladene Revision ein, sie beantragte,

das angefochtene Urteil abzuändern und das Urteil des SG Aurich vom 2. Juni 1961 insoweit aufzuheben, als es zur zusätzlichen Berücksichtigung der Zeit von Oktober 1918 bis September 1919 als Ersatzzeit verpflichtet.

Am 30. November 1962 begründete die Beigeladene die Revision: Nach dem Recht, von dem hier für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 auszugehen sei, solle durch die Ersatzzeiten und ihre Anrechnung auf die Wartezeit verhütet werden, daß der Versicherte Nachteile erleide, wenn er durch nicht in seiner Person liegende Gründe gehindert gewesen sei, eine versicherungspflichtige Beschäftigung auszuüben und dabei Pflichtbeiträge zu entrichten; Zeiten, in denen der Versicherte aus in seiner Person liegenden Gründen an der Entrichtung von Beiträgen gehindert gewesen sei, seien keine Ersatzzeiten gewesen; habe ein Versicherter wegen Invalidität Rente bezogen, so sei er nach damaligem Recht auch dann, wenn er eine an sich versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt habe, wegen seiner Invalidität - also aus in seiner Person liegenden Gründen - versicherungsfrei gewesen, diese Zeit habe damit nicht als Ersatzzeit dienen können, daran ändere sich nichts, wenn der Versicherte während des Rentenbezugs Kriegsdienst geleistet habe; Zeiten, in denen ein Versicherter nach § 1236 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF auch im Falle einer Beschäftigung gehindert gewesen wäre, Beiträge zu entrichten, seien nicht über § 1263 RVO aF deshalb als Ersatzzeiten und damit als Beitragszeiten für die Erfüllung der Wartezeit zu werten, weil sie gleichzeitig Kriegsdienstzeiten gewesen seien.

Die Beklagte schloß sich den Ausführungen der Beigeladenen an.

Der Kläger äußerte sich im Revisionsverfahren nicht.

II.

Die Revision der Beigeladenen ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist auch begründet.

Die Beigeladene wendet sich gegen das Urteil des LSG nur insoweit, als das LSG zu dem Ergebnis gelangt ist, bei der Berechnung der Rente des Klägers wegen Berufsunfähigkeit seien auch für die Zeit vom 11. Oktober 1918 bis zum 8. September 1919 Steigerungsbeträge aus der Rentenversicherung der Arbeiter (Invalidenversicherung) zu gewähren. Das LSG hat diese Frage zutreffend nach dem bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Recht der Invalidenversicherung beurteilt; denn der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit ist nach der bindenden Feststellung des LSG im März 1956 eingetreten, es handelt sich ferner um einen Fall der Wanderversicherung im Sinne des § 87 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), die Zeit von Oktober 1918 bis zum September 1919 liegt vor dem Eintritt des Klägers in die Angestelltenversicherung (Art. 2 §§ 6 und 28 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG - vom 23. Februar 1957 - BGBl I, 88 -). Das LSG hat aber zu Unrecht auf den vorliegenden Fall § 119 des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937 - AusbauG - (RGBl I, 1393) angewandt. Nach dieser Vorschrift werden in der Invalidenversicherung für Zeiten, in denen der Versicherte während des Weltkriegs dem Deutschen Reich ... Kriegs-, Sanitäts- oder ähnliche Dienste geleistet hat, Steigerungsbeträge gewährt, wenn die Versicherung vorher bestanden hat. Dies gilt jedoch nicht für Dienstzeiten, in denen - wie das LSG dies hier für die Zeit vom 11. Oktober 1918 bis zum 8. September 1919 festgestellt hat - gleichzeitig Invalidenrente nach § 1255 Abs. 3 RVO in der Fassung vom 19. Juli 1911 (sog. Krankenrente) gewährt worden ist. Aus dem Wortlaut des § 119 AusbauG ergibt sich diese Einschränkung zwar nicht; die richtige Auslegung des § 119 AusbauG kann aber nur unter Beachtung der Ersatzzeitenregelung gewonnen werden (vgl. RVA in AN 1943, 184, 185). Durch § 119 AusbauG ist erstmals auch in der Invalidenversicherung die Gewährung von Steigerungsbeträgen für Kriegsdienstzeiten eingeführt worden. Diese Vorschrift ist nur eine Ergänzung der Ersatzzeitenregelung in § 1263 Abs. 1 Ziffer 3 RVO aF (in der Fassung vor dem 1. Januar 1938); mit dieser Vorschrift ist lediglich das Recht der Invalidenversicherung, das bis dahin eine Anrechnung der Kriegsdienstzeit nur als Ersatzzeit für die Erfüllung der Wartezeit, aber ohne Gewährung von Steigerungsbeträgen gekannt hat, dem Recht in den anderen Versicherungszweigen angeglichen worden, in denen bereits die Kriegsdienst-Zeit auch rentensteigernd berücksichtigt wurde. Die damalige Regelung in der Angestelltenversicherung und in der knappschaftlichen Pensionsversicherung zeigt aber, daß Steigerungsbeträge nur gewährt wurden für Kriegsdienstzeiten, die auch Ersatzzeiten waren; sowohl nach § 37 Abs. 1 Satz 1 AVG (in der Fassung vor dem 1. Januar 1938) als auch nach § 47 Abs. 1 Satz 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) wurden insoweit Steigerungsbeträge nur gewährt, "für Ersatzzeiten im Sinne des § 32 Abs. 1 Satz 1" der damaligen Fassung des AVG - aF -. § 32 Abs. 1 Satz 1 AVG aF bestimmte: "Als Ersatzzeiten für die Erfüllung der Wartezeit gelten die vollen Kalendermonate, in denen der Versicherte während des Weltkrieges dem Deutschen Reichs ... Kriegs-, Sanitäts- oder ähnliche Dienste geleistet hat"; diese Regelung ist in der Angestelltenversicherung und in der knappschaftlichen Pensionsversicherung auch nach Inkrafttreten des AusbauG bestehen geblieben (vgl. § 118 AusbauG). Deshalb kann auch die Regelung in § 119 AusbauG für die Gewährung von Steigerungsbeträgen in der Invalidenversicherung nur in diesem Sinne verstanden werden; es ist nicht anzunehmen, daß das AusbauG, das gerade auch eine Vereinheitlichung des gesamten Rentenrechts hat verwirklichen wollen, insoweit für die Invalidenversicherung wieder eine von den übrigen Versicherungszweigen abweichende Regelung beabsichtigt hat. Zwar ist in § 119 AusbauG nicht - wie in § 37 Abs. 1 Satz 1 AVG aF durch Bezugnahme auf § 32 Abs. 1 Satz 1 AVG aF - auf die Ersatzzeitenregelung in der Invalidenversicherung hingewiesen; dies erklärt sich aber daraus, daß die dem § 32 Abs. 1 Satz 1 AVG aF entsprechende Vorschrift der RVO (§ 1263 Abs. 1 Ziffer 3 in der Fassung vor dem 1. Januar 1938) ebenso wie § 32 Abs. 1 Satz 1 AVG aF in die Neufassung der Rentengesetze durch das AusbauG nicht aufgenommen wurde; die Ersatzzeitenregelung hinsichtlich der Kriegsdienstzeit aus der Zeit vor dem 1. Januar 1938 wurde dagegen durch § 115 Abs. 2 AusbauG aufrechterhalten. Auch nach § 119 AusbauG können daher Steigerungsbeträge nur für Kriegsdienstzeiten gewährt werden, die Ersatzzeiten im Sinne des § 1263 RVO aF sind. Entgegen der Meinung des LSG ist aber die Zeit vom 11. Oktober 1918 bis 8. September 1919 im vorliegenden Fall nicht eine Ersatzzeit im Sinne des § 1263 Ziffer 3 RVO aF (in der Fassung vor dem 1. Januar 1957, diese Fassung entsprach dem § 1263 Abs. 1 Ziffer 3 in der Fassung vor dem 1. Januar 1938). Nach dieser Vorschrift sind zwar Kriegsdienstzeiten Ersatzzeiten, wenn - wie hier - die Versicherung vorher bestanden hat, sie gelten dann "für die Erfüllung der Wartezeit" als Beitragszeiten; die Kriegsdienstzeit ist aber von dem Zeitpunkt an keine Ersatzzeit mehr, von dem an dem Versicherten Invalidenrente zuerkannt worden ist. Auch diese Folgerung ergibt sich nicht aus dem Gesetzeswortlaut, jedoch aus dem Wesen der Ersatzzeit. Die Ersatzzeiten des § 1263 RVO aF sind, wie schon die Bezeichnung zum Ausdruck bringt und durch die Formulierung "gelten als Beitragszeiten" weiter umschrieben ist, Ersatz für Zeiten, für die mit Rücksicht auf besondere, im Gesetz festgelegte Tatbestände dem Versicherten die Entrichtung von Beiträgen regelmäßig nicht möglich gewesen ist; durch die Ersatzzeitenregelung soll der Versicherte so gestellt werden, wie er gestanden hätte, wenn er das Versicherungsverhältnis mit Beitragsleistung fortgesetzt hätte; die Ersatzzeiten ersetzen somit entgangene Beitrags zeiten. Fehlt es an einer durch die Ableistung von Kriegsdienst oder auch durch weitere Leistung von Kriegsdiensten entgangenen Beitragszeit deshalb, weil die Versicherung vorher nicht bestanden hat oder weil der Versicherte während der Kriegsdienstzeit aus dem Kreis der Versicherungsberechtigten ausgeschieden ist, dann ist die Ersatzzeitenregelung nicht anwendbar, weil in diesem Falle dem Versicherten nicht wegen der Ableistung von Kriegsdienst Beiträge verlorengehen (vgl. RVA in AN 1942, 573 Nr. 5495 und in AN 1943, 184 Nr. 5523). Dasselbe gilt auch für eine Zeit des Kriegsdienstes, die mit einer Rentenbezugszeit zusammenfällt, auch diese Zeit ist keine Ersatzzeit im Sinne des § 1263 Ziffer 3 RVO aF; mit dem Eintritt der Invalidität und der Gewährung von Rente trat - nach altem Recht - "absolute" Versicherungsfreiheit ein, sie bewirkte, daß für den Versicherten von diesem Zeitpunkt an keine Beiträge mehr entrichtet werden durften (vgl. §§ 1236, 1443 RVO aF). Demnach kann auch im vorliegenden Fall die Zeit vom 11. Oktober 1918 bis zum 8. September 1919 nicht als Ersatzzeit im Sinne des § 1263 Ziffer 3 RVO aF gewertet werden; der Kläger ist während dieses Zeitraums invalide gewesen und hat Rente bezogen; die Entrichtung von Beiträgen für den Kläger wäre während dieses Zeitraums daher auch dann nicht möglich gewesen, wenn er nicht weiter Kriegsdienst geleistet hätte; durch den Kriegsdienst über den 11. Oktober 1918 hinaus ist dem Kläger keine Beitragszeit entgangen, die durch die Ersatzzeitenregelung zu ersetzen wäre. Deshalb können für diesen Zeitraum auch keine Steigerungsbeträge nach § 119 AusbauG gewährt werden (vgl. auch Rundschreiben des RVA vom 6. Februar 1939, AN 1939 S. 102 Ziffer 10 und die dort angeführte Entscheidung vom 22. Oktober 1929, AN 1930, 28 ff.). Diese Zeit dient lediglich der Erhaltung der Anwartschaft (§ 1264 Abs. 3 RVO aF).

Die Revision der Beigeladenen ist somit begründet; die Urteile des LSG und des SG sind aufzuheben, soweit durch sie die Beklagte verurteilt worden ist, diese Zeit bei der Berechnung der Rente des Klägers rentensteigernd zu berücksichtigen; auch insoweit ist die Klage abzuweisen.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325477

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