Entscheidungsstichwort (Thema)
Kriegsopferversorgung. Zusammenhangsbeurteilung. Anhörung eines bestimmten Arztes. wesentlicher Verfahrensmangel
Orientierungssatz
Ein wesentlicher Verfahrensmangel bei der Feststellung der Voraussetzungen für die Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Versorgungsleiden durch Verletzung von SGG § 109 liegt vor, wenn das Gericht im zweiten Rechtszug einen Beweisantrag der Klägerin übergeht, einen bestimmten ärztlichen Sachverständigen zur Zusammenhangsfrage zu hören. Daran ändert nichts, daß der von der Klägerin benannte Sachverständige im ersten Rechtszug als "Privatgutachter" schon eine ärztliche Stellungnahme abgegeben hatte und vom SG im Verhandlungstermin vernommen worden war, wenn besondere Umstände das Verlangen der Klägerin rechtfertigen, den Arzt ihres Vertrauens auch im zweiten Rechtszug zu hören.
Normenkette
SGG § 109 Abs. 1 S. 1; BVG § 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 20.04.1967) |
SG Regensburg (Entscheidung vom 06.10.1964) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. April 1967 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Ehemann der Klägerin ist im April 1958 gestorben; er hatte seit 1941 Wehrdienst geleistet und war anschließend vom Februar 1945 bis Dezember 1948 in polnischer Gefangenschaft gewesen und bezog u.a. wegen Erschöpfungszustands nach polnischer Gefangenschaft, Herzmuskelschadens mit Stauung am kleinen Kreislauf (Bronchitis) vom Dezember 1948 bis Ende September 1953 Versorgungsrente und zwar nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. vom 1. Dezember 1948 an und um 30 v.H. vom 1. September 1950 bis zum 30. September 1953.
Die Klägerin beantragte im Mai 1958 die Gewährung von Witwenrente, hatte jedoch bei der Verwaltung keinen Erfolg (ablehnender Bescheid des Versorgungsamtes R vom 11. Dezember 1959; Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes Bayern vom 11. Mai 1960). Das Sozialgericht (SG) Regensburg verurteilte mit Urteil vom 6. Oktober 1964 den Beklagten vom 28. April 1958 an Hinterbliebenenversorgung zu gewähren. Die Belastungen der Kriegsgefangenschaft hätten das zum Tode führende Bronchialleiden mitverursacht. Im Berufungsverfahren beantragte die Klägerin mit Schriftsatz vom 1. Februar 1967 vorsorglich den Sachverständigen Dr. med. G, dessen Privatgutachten sie im ersten Rechtszug vorgelegt hatte und der im ersten Rechtszug zur Erläuterung seines Gutachtens vernommen worden war, auch in der Berufungsinstanz zu hören. Im Verhandlungstermin vom 20. April 1967 wiederholte die Klägerin den Antrag, Dr. G als Sachverständigen zu hören. Das Landessozialgericht (LSG) hob mit Urteil vom 20. April 1967 die erstinstanzliche Entscheidung auf und wies die Klage gegen den Bescheid des Versorgungsamtes R vom 11. Dezember 1959 idF des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 1960 ab. Das Berufungsgericht folgte nicht, wie das SG, dem im ersten Rechtszug von der Klägerin beigebrachten Privatgutachten des Dr. G, der den Zusammenhang zwischen Tod und den Belastungen der Kriegsgefangenschaft bejaht hat, sondern dem Gutachten des Prof. Dr. L vom 24. Februar 1964 und der lungenfachärztlichen Stellungnahme des Regierungsmedizinalrats Dr. T (versorgungsärztliche Untersuchungsstelle R) vom 7. Juni 1963 und vom 19. November 1964. Es verneinte den ursächlichen Zusammenhang, weil das zum Tode führende Bronchitisleiden erst 1957 begonnen habe und zu diesem Zeitpunkt acht beschwerdefreie Jahre vorausgegangen seien.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt die Klägerin, das LSG habe seine allgemeine Sachaufklärungspflicht (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) verletzt, aber auch die besondere Sachaufklärungspflicht nach § 109 SGG. Die widersprechenden ärztlichen Gutachten und die Tatsache, daß die ursprüngliche Annahme widerlegt worden sei, der Beschädigte habe eine Cysten- und Wabenlunge gehabt, hätten weitere Gutachten zur Zusammenhangsfrage nötig gemacht. Da das LSG ferner den mit Schriftsatz vom 1. Februar 1967 benannten Sachverständigen, den Lungenfacharzt Dr. G, im zweiten Rechtszug nicht gehört habe, sei § 109 SGG verletzt; die Klägerin habe den Antrag auch noch in der mündlichen Verhandlung vom 20. April 1967 uneingeschränkt aufrechterhalten.
Die Revision der Klägerin ist form- und fristgerecht eingereicht und begründet worden (§ 164 Abs. 1 SGG). Da das LSG die Revision nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und eine Gesetzesverletzung in der Zusammenhangsfrage (§ 1 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -) nicht gerügt ist, ist die Revision nur statthaft, wenn die Klägerin mit Erfolg rügt, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Es mag dahingestellt bleiben, ob die Rüge, das LSG habe seine Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) mangelhaft erfüllt, durchgreift; die Klägerin rügt jedenfalls ordnungsgemäß (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) und zu Recht, das LSG habe die Vorschrift des § 109 SGG verletzt.
Nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG muß auf Antrag des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Der Antrag auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes braucht nicht ausdrücklich als Antrag nach § 109 bezeichnet zu werden (SozR SGG § 109 Nr. 26); der Antrag muß auch nicht von vornherein mit der Erklärung verbunden sein, daß der Antragsteller die Untersuchungs- und Gutachtenskosten vorzuschießen und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig zu tragen bereit ist. Mithin genügte im vorliegenden Falle der Antrag der Klägerin im Schriftsatz vom 1. Februar 1967 und in der mündlichen Verhandlung vom 20. April 1967, Dr. G in der Berufungsinstanz als Sachverständigen zu hören. Der Antrag kann auch hilfsweise gestellt werden (SozR SGG § 109 Nr. 17); das LSG hat also einem Hilfsantrag, wie er im Schriftsatz vom 1. Februar 1967 gestellt worden war, nachzukommen. Über diesen Antrag, der den Anforderungen des § 109 SGG genügt, hat das LSG nicht entschieden. Da der Gutachter im zweiten Rechtszug noch nicht gehört worden war (SozR SGG § 109 Nr. 6, Nr. 13 und Nr. 14), bedeutet das Übergehen des Beweisantrages einen wesentlichen Verfahrensmangel (SozR SGG § 109 Nr. 35). Daran ändert nichts, daß der von der Klägerin benannte Sachverständige im ersten Rechtszug als "Privatgutachter" schon eine ärztliche Stellungnahme abgegeben hatte und vom SG im Verhandlungstermin vernommen worden war. Denn besondere Umstände rechtfertigten das Verlangen der Klägerin, daß der Lungenfacharzt Dr. G als Arzt ihres Vertrauens auch im zweiten Rechtszug gehört wurde. Solche Umstände sind dadurch gegeben, daß sich die ursprüngliche Beurteilung der Zusammenhangsfrage durch die Verwaltung auf eine Fehldiagnose (angeborene Cysten- und Wabenlunge) stützte, die später von den Sachverständigen, von der Verwaltung und vom Gericht aufgegeben wurde. Mußte sich sonach der bezeichnete Sachverständige im ersten Rechtszug noch gegen die Auffassung wenden, daß der Ehemann der Klägerin eine angeborene Cysten- und Wabenlunge gehabt habe, so verlagerte sich die Beweisfrage im zweiten Rechtszuge darauf, ob der Tod durch wehrdienstunabhängige Ursachen, die sich erst nach dem zweiten Weltkrieg eingestellt haben, herbeigeführt worden ist. Insbesondere war zu klären, ob das zum Tod führende Bronchitisleiden noch den wehrdienstbedingten Belastungen zuzurechnen ist (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 22. November 1966 - 8 RV 89/66 -). Dr. G konnte bei seiner bisherigen Beurteilung die im zweiten Rechtszug vom Lungenfacharzt Reg.Med.Rat Dr. T abgegebene, auf "neuer" medizinischer Tatsache beruhende, fachärztliche Stellungnahme vom 19. November 1964, der das LSG gefolgt ist, noch nicht berücksichtigen. Die Klägerin konnte aber verlangen, daß das LSG eine erschöpfende medizinische Beurteilung des Dr. G in seine Beweiswürdigung einbezog. Der Klägerin kann auch nicht entgegengehalten werden, daß sie den Antrag nach § 109 SGG erst in der letzten mündlichen Verhandlung (20. April 1967) gestellt hat, weil der zuerst gestellte Antrag vom 1. Februar 1967 schon vor der am 27. Februar 1967 verfügten Ladung zum Verhandlungstermin vom 16. März 1967 und zu dem auf den 20. April 1967 verlegten Schlußtermin liegt.
Das Gericht darf einen Antrag nach § 109 SGG auch dann nicht ablehnen, wenn es die beweiserheblichen medizinischen Fragen für geklärt hält (SozR SGG § 109 Nr. 30). Das LSG konnte daher unter keinem der erörterten Gesichtspunkte den Antrag der Klägerin, Dr. G in der Berufungsinstanz zu hören, übergehen.
Der Verfahrensmangel des LSG ist wesentlich, weil nicht auszuschließen ist, daß der von der Klägerin benannte Sachverständige medizinische Gründe zur Zusammenhangsfrage hätte vorbringen können, welche die Überzeugung des Gerichts beeinflußt hätten. Auf diesem wesentlichen Verfahrensmangel beruht daher auch die angefochtene Entscheidung.
Auf die Revision der Klägerin war daher das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen