Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufung. Zulässigkeit
Orientierungssatz
Verwirft das LSG eine Berufung als unzulässig, obwohl es eine Sachentscheidung hätte treffen müssen, so leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel (vgl BSG 1955-10-27 4 RJ 105/54 = BSGE 1, 283).
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 30.01.1968) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. Januar 1968 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
1957 wurden beim Kläger allgemeine Leistungsminderung nach Haftzeit sowie traumatische Hirnleistungsschwäche nach Schädelbruch mit Hirnquetschung und Narben sowie Knochendefekt (über dem rechten Scheitelbein) als Schädigungsfolgen anerkannt und Versorgungsbezüge nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. gewährt. In einem weiteren, auf § 62 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) gestützten Bescheid vom 13. Oktober 1960 wurde die Leistungsminderung nach Haftzeit nicht mehr als Schädigungsfolge aufgeführt und die MdE unter Berücksichtigung des erlernten Berufs gemäß § 30 Abs. 2 BVG mit 60 v. H. beziffert. Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 26. Juli 1966 zurückgewiesen. Die Berufung sei zulässig, weil das Sozialgericht (SG) eine allgemeine Leistungsminderung nach Haftzeit als nicht - mehr - feststellbar erachtet habe (§ 150 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Eine solche liege entgegen der Auffassung der Sachverständigen der Universität Gießen auch nicht mehr vor.
Auf die gegen dieses Urteil eingelegte Revision des Klägers hat der erkennende Senat mit Urteil vom 26. April 1967 das LSG-Urteil vom 26. Juli 1966 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen, weil die Rüge des Klägers zutreffe, daß das LSG seinen Anspruch auf höhere Bewertung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit übergangen habe. Nach der Zurückverweisung hat das LSG mit Urteil vom 30. Januar 1968 die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Es hat ausgeführt: Nach der Zurückverweisung des Rechtsstreits sei es an die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts nur insoweit gebunden, als sie der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt worden sei; im übrigen sei das LSG an seine eigene rechtliche Beurteilung gebunden, da keine weiteren Ermittlungen erfolgt seien, die einen abweichenden Tatbestand ergeben hätten. Im Urteil vom 26. Juli 1966 sei über zwei verschiedene und voneinander unabhängige Ansprüche zu entscheiden gewesen, nämlich einmal über die weitere Anerkennung von Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen i. S. des § 1 BVG und die deshalb zu gewährende Rente und zum anderen über die Höhe der wegen eines etwaigen besonderen beruflichen Betroffenseins bestehenden MdE. Über diese Fragen habe auch das angefochtene Urteil des SG Wiesbaden vom 24. März 1966 entschieden. Sei aber in einem Urteil über mehrere selbständige materiell-rechtliche Ansprüche entschieden worden, so sei die Zulässigkeit eines Rechtsmittels für jeden Anspruch selbständig zu prüfen (BSG 3, 135, 141; 6, 11 ff, 14, 15; 11, 167, 170). Da Gegenstand der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) lediglich die Frage gewesen sei, ob der Kläger beruflich besonders betroffen sei, und sich das BSG mit dem übrigen Inhalt der Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils vom 26. Juli 1966 nicht auseinandergesetzt habe, weil es nur hinsichtlich dieser Frage einen gerügten Verfahrensmangel als vorliegend angenommen habe, seien im übrigen die Ausführungen des Urteils vom 26. Juli 1966 für den erkennenden Senat des LSG bindend geworden, da er insoweit an seine eigene frühere Rechtsauffassung gebunden sei. Das Urteil des BSG binde den erkennenden Senat nur in der Weise, daß über den Anspruch auf Gewährung einer höheren MdE wegen eines besonderen beruflichen Schadens neu zu befinden sei. In diesem Umfang sei der Rechtsstreit in der Lage an das LSG zurückgelangt, in der er bei diesem anhängig gewesen sei. Dabei sei zunächst die Zulässigkeit der Berufung zu prüfen gewesen; denn mit der Zurückverweisung habe das BSG nicht darüber entschieden, ob die Berufung überhaupt zulässig sei. Mit dieser Frage habe sich das BSG gar nicht befaßt, weshalb insoweit auch keine Bindung bestehe. Da im vorliegenden Fall von dem MdE-Streit weder die Grundrente noch die Schwerbeschädigteneigenschaft abhänge, sei die Berufung nach § 148 Nr. 3 SGG unzulässig. Sie sei auch nicht nach § 150 SGG zulässig, weil sie weder zugelassen noch der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung i. S. des BVG streitig sei. Einen Verfahrensmangel habe der Kläger im Revisionsverfahren nur hinsichtlich des Verfahrens des LSG, aber nicht des SG gerügt.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger als Verfahrensmängel die Verletzung der §§ 103, 128, 123 und 157 SGG. Ferner verstoße das Urteil des LSG gegen den Grundsatz der reformatio in peius, weil der Kläger nun gegenüber dem Urteil des BSG vom 26. April 1967 schlechter gestellt sei. Es gehe nicht an, nunmehr die Berufung als unzulässig anzusehen. Außerdem sei dem Kläger das rechtliche Gehör versagt worden, weil er vor Urteilsfällung auf die veränderte rechtliche Beurteilung seines Falles durch das Gericht nicht rechtzeitig hingewiesen worden sei und daher zur Frage der Zulässigkeit der Berufung überhaupt nicht habe Stellung nehmen können. Das LSG hätte die Frage der beruflichen Betroffenheit entsprechend der Entscheidung des BSG vom 26. April 1967 eingehend klären müssen. In dieser Unterlassung liege ein Verstoß gegen die §§ 103 und 128 SGG. Die Entscheidung des LSG sei im übrigen auch widerspruchsvoll, da es in den Gründen heiße, daß das LSG an seine eigene frühere Rechtsauffassung gebunden sei, jedoch trotzdem die früher als zulässig angesehene Berufung nunmehr als unzulässig verworfen worden sei.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und nach dem Klageantrag zu entscheiden;
hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt. Er bestreitet, daß der Kläger keine Gelegenheit gehabt habe, zu dem ausführlich begründeten Antrag des Beklagten auf Verwerfung der Berufung als unzulässig Stellung zu nehmen. Ein Verstoß gegen das Verbot der Schlechterstellung liege nicht vor.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und auch statthaft, da der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt hat, der vorliegt (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164, 166 SGG). Zutreffend rügt die Revision, daß das LSG die Berufung nach der Zurückverweisung des Rechtsstreits nicht als unzulässig hätte verwerfen dürfen.
Nach § 150 Nr. 3 SGG ist die Berufung ungeachtet der §§ 144 bis 149 SGG zulässig, wenn das SG eine geltend gemachte Gesundheitsstörung nicht als feststellbar erachtet hat. Vorliegend hat das SG im Urteil vom 24. März 1966 ausgeführt, die als Haftfolgen bezeichneten nachteiligen Auswirkungen auf den Gesundheitszustand des Klägers seien nach ärztlicher Auffassung als behoben anzusehen; dem habe der Kläger widersprochen und geltend gemacht, daß eine Änderung nicht eingetreten sei. Das SG hat hierzu festgestellt: "irgendwelche objektiv nachweisbaren Haftfolgen allein konnten nicht bestätigt werden." Das LSG hat daraus im Urteil vom 26. Juli 1966 zutreffend gefolgert, daß das SG eine Gesundheitsstörung als nicht feststellbar erachtet habe (§ 150 Nr. 3 SGG). Da der Kläger auch im früheren Berufungsverfahren Folgen seiner Haftzeit geltend gemacht hat (vgl. Schriftsatz vom 20. Mai 1966 S. II und X), hat das LSG sonach damals die Berufung ohne Rechtsirrtum als statthaft angesehen. Hieran hat sich auch nach der Zurückverweisung der Sache an das LSG nichts geändert, zumal der Kläger auch im erneuten Verfahren vor dem LSG sich gegen die "geringschätzige Bewertung seiner Haftzeit" gewandt hat (vgl. Schriftsatz vom 7. Dezember 1967).
Das LSG hat im übrigen das Urteil des erkennenden Senats vom 26. April 1967, mit dem der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen worden ist, in seinem zweiten Urteil vom 30. Januar 1968 in mehrfacher Hinsicht unrichtig ausgelegt. Es trifft zwar zu, daß sich die Entscheidung des BSG nur mit der Frage der besonderen beruflichen Betroffenheit befaßt hat, dies jedoch deshalb, weil nur insoweit die - durchgreifende - Rüge eines Verfahrensmangels erhoben worden war. Daraus durfte das LSG jedoch nicht schließen, daß sein Urteil vom 26. Juli 1966 "im übrigen", d. h. bezüglich der Haftfolgen, bindend geworden sei. Denn dieses Urteil war ohne Einschränkung mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und damit die Sache - abgesehen von der durch das Revisionsurteil eingetretenen Bindung - in dieselbe prozessuale Lage wie vor Erlaß des Berufungsurteils zurückversetzt worden. Darüber hinaus hätten im vorliegenden Fall beim LSG über den Umfang der Zurückverweisung bei richtiger Würdigung des Sachverhalts und des uneingeschränkten Urteilstenors Zweifel gar nicht entstehen können; denn das Urteil vom 26. Juli 1966 hatte sich nicht mit der Frage einer besonderen beruflichen Betroffenheit befaßt (gerade deshalb war es ja aufgehoben worden), sondern nur mit der Frage, ob noch Folgen der erlittenen Haftzeit feststellbar sind. Somit konnten auch nur die Feststellungen des LSG, die die Haftfolgen betrafen, als aufgehoben angesehen werden. Wenn das LSG trotzdem angenommen hat, daß diese - aufgehobenen - Feststellungen bindend geworden seien, so hat es gegen die §§ 128, 170 Abs. 2 und 4 SGG verstoßen.
Des weiteren trifft es auch nicht zu, daß sich das BSG im Urteil vom 26. April 1967 mit der Frage der Zulässigkeit der Berufung nicht befaßt habe. Im Urteils-Tatbestand ist vielmehr als ein für die Frage der Zulässigkeit der Berufung wesentlicher Umstand ausdrücklich festgehalten worden, daß das LSG die Berufung als zulässig angesehen habe, weil das SG eine allgemeine Leistungsminderung nach Haftzeit als nicht feststellbar erachtet habe (§ 150 Nr. 3 SGG). Daß diese Auffassung vom BSG geteilt worden ist, ergibt sich daraus, daß der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wurde. Hätte das BSG die Berufung für unzulässig gehalten, so hätte es die nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG - grundsätzlich - statthafte Revision als unbegründet zurückweisen müssen, weil die Berufung zwar nicht als unbegründet hätte zurückgewiesen werden dürfen, wohl aber als unzulässig hätte verworfen werden müssen (vgl. hierzu BSG 2, 225, 228); denn die Unzulässigkeit der Berufung wäre bei der Prüfung der Begründetheit der Revision von Amts wegen zu beachten gewesen.
Nach alledem leidet das Verfahren des LSG, weil es die Berufung als unzulässig verworfen hat, obwohl es eine Sachentscheidung hätte treffen müssen, an einem wesentlichen Mangel (vgl. BSG 1, 283, 286). Die festgestellten Verfahrensverstöße machen die Revision bereits statthaft, weshalb nicht mehr geprüft zu werden brauchte, ob noch weitere Verfahrensmängel vorliegen. Die Revision ist auch begründet, da das LSG - statt des Prozeßurteils - bei einem Sachurteil möglicherweise eine dem Kläger günstigere Entscheidung getroffen hätte. Das angefochtene Urteil war daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und der Rechtsstreit, da der Senat in der Sache nicht selbst entscheiden konnte, an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen