Leitsatz (amtlich)
Wer bei einer der in den RVO §§ 537 bis 540 aufgeführten Tätigkeiten unter Alkoholeinfluß verunglückt, entbehrt nicht schon deshalb des Versicherungsschutzes, weil es bei ihm infolge des Alkoholgenusses zu einem Leistungsabfall gekommen ist; solange er noch zu einer ernstlichen Arbeit fähig ist, entfällt der Versicherungsschutz nur, wenn der Alkoholeinfluß die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls ist (Vergleiche BSG 1960-06-30 2 RV 86/56 = BSGE 12, 242).
Normenkette
RVO § 542 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Januar 1957 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerin, die seit Oktober 1955 in zweiter Ehe verheiratet ist, verlangt Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung aus Anlaß des tödlichen Unfalls ihres ersten Ehemannes, des Gipsers A B. Dieser war am 23. September 1953 in einem Rohbau in F mit Arbeiten beschäftigt, die der Gipsermeister G auszuführen hatte. Um 9 Uhr morgens hatte er zum Frühstück eine Flasche Wein getrunken; in der von 12 bis 13 Uhr dauernden Mittagspause trank er wiederum eine Flasche Wein. Nachdem er bis etwa 14 Uhr im zweiten Obergeschoß gearbeitet hatte, begab er sich in das erste Obergeschoß und besah sich dort in Vertretung des abwesenden Meisters u.a. die von dem Gipsergesellen M geleistete Arbeit. Dann ging er zu der Lucke zurück, in welche die vom Erdgeschoß heraufführende Leiter hineinragte und von der aus eine andere Leiter zum zweiten Obergeschoß führte. Die Luke war nach zwei Seiten ungesichert; außerdem war eine Sprosse der oberen Leiter durch ein Lattenstück ersetzt. Unmittelbar nachdem der Ehemann der Klägerin zu der Lucke gegangen war - ob er sich nach oben oder nach unten begeben wollte, ist ungeklärt -, hörten seine Arbeitskameraden einen Aufschlag. Man fand den Verunglückten bewußtlos und aus Schädel und Mund blutend im Erdgeschoß unter der Luke. Er hatte sich einen doppelten Schädelbasisbruch mit Hirnquetschung zugezogen; der Tod trat am folgenden Tage ein.
Gegen den Gipsermeister G wurde ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung durchgeführt. Es endete mit einem Freispruch, der damit begründet wurde, daß trotz der nachgewiesenen Verstöße gegen die Unfallverhütungsvorschriften (UVV.) die Möglichkeit bestehe, daß der Ehemann der Klägerin infolge des Alkoholgenusses verunglückt sei. In diesem Verfahren wurde auf Grund einer Blutprobeuntersuchung angenommen, der Blutalkoholgehalt des Verunglückten habe im Zeitpunkt des Unfalls 1,50 0 / 00 betragen.
Durch Bescheid vom 26. März 1954 lehnte die Beklagte den Entschädigungsanspruch der Klägerin ab, weil ihr Ehemann dadurch einer selbst geschaffenen Gefahr erlegen sei, daß er sich in einen Zustand der Alkoholbeeinflussung versetzt habe, in dem er nicht mehr fähig gewesen sei, sich mit der erforderlichen Sicherheit und Körperbeherrschung in dem Gefahrenbereich eines Bauhofs zu bewegen.
Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG.) Speyer durch Urteil vom 10. März 1955 den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese für verpflichtet erklärt, den Unfall des Ehemannes der Klägerin vom 23. September 1953 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Es hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin eine vorläufige Rente von monatlich 70,- DM zu zahlen. Das SG. hat ausgeführt: Es könne nicht mit genügender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, daß der Unfall allein oder überwiegend dem Alkoholgenuß zuzuschreiben sei; als wesentliche Ursache des Unfalls sei vielmehr der Verstoß gegen die UVV. anzusehen, der die schon vorhandene Betriebsgefahr noch erhöht habe. Eine Lösung vom Betrieb sei daher nicht eingetreten.
Die Berufung der Beklagten ist durch Urteil des Landessozialgerichts (LSG.) Rheinland-Pfalz vom 24. Januar 1957 zurückgewiesen worden. Die Entscheidung ist im wesentlichen wie folgt begründet: Solange ein unter Alkoholeinfluß stehender Versicherter nicht wirklich unfähig sei, die ihm obliegende Arbeit zu verrichten, löse er sich nicht vom Betrieb, es sei denn, daß der Unfall nicht auf die versicherte Tätigkeit, sondern auf den Alkoholgenuß ursächlich zurückzuführen sei. Dies sei bei dem Ehemann der Klägerin, der bis zum Unfall, wenn auch wegen des erheblichen Alkoholgenusses vielleicht nicht mehr so gut wie sonst, aber trotzdem noch für den Betrieb seines Meisters gearbeitet habe, nicht der Fall gewesen. Da er während der Arbeitszeit auf der Arbeitsstätte verunglückt sei, sei zu vermuten, daß ein Arbeitsunfall vorliege. Zwar sprächen für die Möglichkeit, daß der Ehemann der Klägerin infolge des Alkoholgenusses abgestürzt sei, die Aussagen der Zeugen M und H sowie der hohe Blutalkoholgehalt. Dagegen sei aber anzuführen, daß der Verunglückte bis unmittelbar vor dem Unfall seiner Arbeit nachgegangen sei. So werde durch die angeführte Möglichkeit nicht die stärkere Vermutung, daß der Unfall ein echter Arbeitsunfall gewesen sei, widerlegt. Hinzu komme, daß die eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls begründende Betriebsgefahr noch dadurch erhöht worden sei, daß der Arbeitgeber gerade an der Stelle, an welcher der Ehemann der Klägerin verunglückt sei, die vorgeschriebenen Sicherungsmaßnahmen nicht getroffen gehabt habe. Das Gericht sei daher der Überzeugung, daß der Alkoholgenuß des Verunglückten nicht die wesentliche Ursache des Unfalls gebildet, dieser vielmehr in einem inneren Zusammenhang mit dem Betrieb gestanden habe. - Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 18. Februar 1957 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 13. März 1957 Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht rügt die Revision: Das LSG. hätte die im Strafverfahren gegen G gehörten Zeugen M und H vernehmen müssen, weil sie wesentliche Bekundungen über die Trunkenheit des Verunglückten in den Stunden vor dem Sturz gemacht hätten. Ferner hätte das LSG. die vom Arbeitgeber unterlassenen Sicherungsmaßnahmen nicht in den Vordergrund rücken dürfen, ohne genau festzustellen, welcher Art diese Verstöße gewesen seien und ob sie irgendeinen Zusammenhang mit dem Unfall gehabt hätten oder hätten haben können. In sachlich-rechtlicher Hinsicht führt die Revision aus: Das Verhalten des Verunglückten habe schon wegen des hohen Blutalkoholgehalts nicht mehr im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden. Bei einem Blutalkoholgehalt von 1,5 0 / 00 entfalle nicht nur bei Kraftfahrern der Versicherungsschutz ohne weiteres (BSG. 3 S. 116), sondern auch bei jedem anderen Versicherten, vor allem bei einem Arbeiter in einem gefahrvollen Rohbau; denn ein solcher Alkoholeinfluß schließe jede ordnungsmäßige Arbeitsverrichtung aus. Im übrigen komme es für die Entscheidung im vorliegenden Falle nicht darauf an, welche rechtliche Bedeutung man dem ursächlichen Zusammenhang zwischen Alkoholgenuß und Unfall beimesse. Der Anspruch der Klägerin sei jedenfalls deshalb unbegründet, weil nicht ein Verstoß gegen die UVV., sondern die Angetrunkenheit des Verunglückten die alleinige Ursache für den Sturz in das Erdgeschoß gewesen sei.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie setzt Zweifel in die Statthaftigkeit der Revision, weil der Zulassungsausspruch nicht in der Urteilsformel enthalten ist. In der Sache selbst stützt sie ihre Ausführungen weitgehend auf die Begründung des Berufungsurteils.
II
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt; es bestehen auch keine rechtlichen Bedenken gegen ihre Statthaftigkeit, denn sie ist wirksam zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Die Zulassung ist am Ende der Entscheidungsgründe, von der Rechtsmittelbelehrung klar getrennt, eindeutig ausgesprochen worden; sie braucht, wie das Bundessozialgericht (BSG.) sowohl hinsichtlich der Revision als auch hinsichtlich der Berufung wiederholt entschieden hat, nicht in der Urteilsformel enthalten zu sein (vgl. z.B. BSG. 2 S. 69 und 246; 8 S. 147). Die Revision ist somit zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.
Nach der neueren, mit der Auffassung des Berufungsgerichts übereinstimmenden Rechtsprechung des Senats zur alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit verliert ein Kraftfahrer den ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit nicht ohne weiteres dadurch, daß er nicht mehr verkehrssicher fahren kann; der Zusammenhang bleibt vielmehr erhalten, solange der Kraftfahrer noch in der Lage ist, eine dem Unternehmen förderliche Tätigkeit auszuüben (Urteil vom 30. 6. 1960 - 2 RU 86/56). Dieser Rechtsgrundsatz gilt nicht nur für Kraftfahrer, sondern allgemein für Versicherte, die eine der in den §§ 537 bis 540 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aufgeführten Tätigkeiten unter Alkoholeinfluß ausüben. Solange der Alkoholgenuß nicht zur Arbeitsunfähigkeit, sondern nur zu einem Leistungsabfall geführt hat und der Versicherte noch fähig ist, bei den ihm obliegenden Verrichtungen eine ernstliche Arbeit zu leisten, ist seine Verhaltensweise noch der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung geht in solchen Fällen nur verloren, wenn es an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis fehlt. Dies trifft - wie sich aus dem oben angeführten Urteil zum Ausschluß des Versicherungsschutzes wegen alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit ergibt - zu, wenn der Alkoholeinfluß die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls ist.
Das Urteil des LSG. läßt nicht eindeutig erkennen, ob der Blutalkoholgehalt des Verunglückten im Zeitpunkt des Unfalls 1,50 oder 1,51 0 / 00 betragen hat. Für die Entscheidung des Falles ist dies jedoch nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Wesentlich ist die tatsächliche Feststellung des LSG., der Ehemann der Klägerin seit trotz des vorausgegangenen Alkoholgenusses fähig geblieben, seine Arbeit zu verrichten, und er habe sie auch noch nach der Mittagspause bis gegen 14 Uhr verrichtet. Diese Feststellung ist von der Revision nicht mit wirksamen Rügen angegriffen worden. Die Revision hat in dieser Hinsicht nur vorgebracht, das LSG. hätte zur weiteren Erforschung des Sachverhalts die Zeugen M und H vernehmen müssen, weil diese vor dem Schöffengericht wesentliche Bekundungen über die Trunkenheit des Verunglückten gemacht hätten. Die Verfahrensweise des LSG. läßt jedoch eine Verletzung der Pflicht zur Sachaufklärung nicht erkennen. Die Niederschrift über die eingehende Vernehmung der beiden Zeugen vor dem Schöffengericht enthält keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Ehemann der Klägerin infolge Alkoholbeeinflussung nicht nur in seiner Arbeitsleistung beeinträchtigt, sondern darüber hinaus zu der ihm obliegenden Arbeit unfähig gewesen wäre. Infolgedessen brauchte sich das LSG. von seinem - nach den vorstehenden Ausführungen auch zutreffenden - Rechtsstandpunkt aus nicht gedrängt zu fühlen, die oben genannten Zeugen noch einmal selbst zu hören. Dies gilt um so mehr, als die Beklagte nicht behauptet, die Bekundungen der beiden Zeugen vor dem Schöffengericht seien unrichtig oder unvollständig gewesen. Schließlich hat die Revision auch nur die "ordnungsmäßige Arbeitsfähigkeit" des Verunglückten in Zweifel gezogen, nicht aber behauptet, er sei völlig arbeitsunfähig gewesen. Die Richtigkeit einer solchen Behauptung hätte bei einem Blutalkoholgehalt von 1,50 oder 1,51 0 / 00 auch nicht aus einem Erfahrungssatz hergeleitet werden können.
Da ein bloßer Leistungsabfall, wie dargelegt wurde, auch wenn er auf eine Alkoholbeeinflussung zurückzuführen ist, den ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit grundsätzlich bestehen läßt und deshalb für sich allein den Versicherungsschutz nicht ausschließt, hängt die Entscheidung im vorliegenden Falle davon ab, ob die Alkoholbeeinflussung den Unfall verursacht oder mitverursacht hat und - bejahen falls - ob sie die rechtlich allein wesentliche Ursache war. Die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils lassen es zweifelhaft erscheinen, ob das LSG. die erste dieser beiden Fragen, also die Frage nach der Verursachung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne bejaht hat. Der Senat neigt dazu, die Ausführungen des LSG. so zu verstehen, als sei die Verursachung des Unfalls durch die Alkoholbeeinflussung zwar möglich, aber im Hinblick auf die in einem Rohbau bestehende allgemeine Betriebsgefahr und das Fehlen vorgeschriebener Sicherungsmaßnahmen nicht hinreichend wahrscheinlich. Ist dies das Ergebnis der Beweiswürdigung des LSG., so ist die rechtshindernde Tatsache der alkoholbedingten Verursachung des Unfalls nicht erwiesen (vgl. BSG. 7 S. 249 (254)) und somit der Versicherungsschutz nicht ausgeschlossen. An die Beweiswürdigung des LSG. ist das BSG. nach § 163 SGG gebunden. Die Verfahrensrüge der Revision, das LSG. hätte die Art der Verstöße gegen die UVV. näher feststellen und auch klären müssen, ob die Verstöße einen Zusammenhang mit dem Unfall gehabt hätten oder hätten haben können, ist unbegründet. Das LSG. hat festgestellt, daß die Luke "entgegen den UVV. nach zwei Seiten nicht gesichert war". Außerdem hat es ausgeführt, die eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls begründende Betriebsgefahr sei noch dadurch erhöht worden, daß gerade an der Unfallstelle die vorgeschriebenen Sicherungsmaßnahmen nicht getroffen gewesen seien. Selbst wenn aber die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils so zu verstehen sein sollten, daß das LSG. die Mitverursachung des Unfalls durch die Alkoholbeeinflussung des Verunglückten bejaht hat, so ist die Alkoholbeeinflussung, wie das LSG. mit Recht ausgeführt hat, bei der gegebenen Sachlage nicht die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls. Die Betriebsgefahren der Arbeitsstätte, vor allem im Hinblick auf die nicht ausreichend gesicherte Luke, wurden durch den Blutalkoholgehalt von 1,50 oder 1,51 0 / 00 nicht so sehr in den Hintergrund gedrängt, daß im Verhältnis zu ihm jene Gefahren als rechtlich nicht wesentliche Mitursachen unberücksichtigt bleiben müßten (vgl. hierzu die o.a. Entscheidung vom 30. 6. 1960). Das LSG. hat daher den Unfall, den der Ehemann der Klägerin am 23. September 1953 erlitten hat, mit Recht als einen Arbeitsunfall gewertet.
Die Revision der Beklagten war daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 9 |
NJW 1960, 2264 |
MDR 1960, 960 |