Leitsatz (amtlich)

1. Zum Begriff der "Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung" (KOV-VfG § 40 Abs 2 Fassung: 1955-05-02).

2. Das Urteil des BSG vom 1957-12-10 11/9 RV 1076/56 = BSGE 6, 175-180 ist eine "Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung".

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Enthält der Umanerkennungsbescheid den Vermerk, "eine ärztliche Nachuntersuchung ist nicht mehr beabsichtigt", ist eine Herabsetzung der MdE nach ärztlicher Untersuchung gemäß BVG § 86 Abs 3 nicht möglich, jedoch ist zu prüfen, ob diese Herabsetzung nicht auf BVG § 62 Abs 1 gestützt werden kann.

2. Eine "ständige Rechtsprechung des BSG" iS des KOV-VfG § 40 Abs 2 Fassung: 1960-06-27 liegt vor, wenn 2 Senate dieselbe Rechtsauffassung vertreten und keine gegenteiligen Entscheidungen anderer Senate vorliegen.

 

Normenkette

KOVVfG § 40 Abs. 2 Fassung: 1955-05-02; KOVVfG § 40 Abs. 2 Fassung: 1960-06-27; BVG § 62 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, § 86 Abs. 3 Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 12. Dezember 1960 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger erhielt durch Bescheid der Außenstelle Lübeck der Landesversicherungsanstalt (LVA) Schleswig-Holstein vom 27. Januar 1948 nach den Vorschriften der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 wegen "Durchschuß der linken Hals- und Schulterseite mit Schädigung des Nervengeflechts und Einschränkung der Beweglichkeit des linken Schultergelenks" vom 1. August 1947 an Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. Durch Umanerkennungsbescheid vom 3. Juni 1952 gewährte das Versorgungsamt (VersorgA) Lübeck die Rente nach dem gleichen Grade der MdE ohne vorherige Nachuntersuchung auch nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Der Bescheid enthält den Vermerk: "Eine ärztliche Nachuntersuchung ist nicht mehr beabsichtigt". Im August und September 1954 wurde der Kläger nachuntersucht. Durch Bescheid vom 20. September 1954 gewährte das VersorgA Lübeck dem Kläger unter Hinweis auf § 86 Abs. 3 BVG vom 1. November 1954 an nur noch eine Rente nach einer MdE um 30 v.H. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt (LVersorgA) Schleswig-Holstein durch Bescheid vom 19. April 1955 zurück. Das Sozialgericht (SG) Lübeck verurteilte den Beklagten durch Urteil vom 26. September 1955, dem Kläger ab 1. November 1954 Rente nach einer MdE um 40 v.H. zu gewähren: Zwar binde der Vermerk in dem Umanerkennungsbescheid, Nachuntersuchung sei nicht mehr beabsichtigt, den Beklagten nicht, es sei jedoch die Bewertung der MdE mit 40 v.H. gerechtfertigt, weil der Kläger durch die Art der Schädigung in seinem Beruf besonders betroffen sei. Die Berufung des Klägers verwarf das Landessozialgericht (LSG) Schleswig am 25. März 1958 als unzulässig. Die Revision nahm der Kläger am 2. Juli 1958 zurück.

Am 3. Juli 1958 beantragte der Kläger beim VersorgA Lübeck, ihm im Hinblick auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. Dezember 1957 (BSG 6, 175) einen Bescheid nach § 40 Abs. 2 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) zu erteilen und ihm über den 31. Oktober 1954 hinaus Rente nach einer MdE um 50 v.H. zu gewähren. Das VersorgA lehnte den Antrag durch Bescheid vom 7. Februar 1959 ab, weil das Urteil des BSG vom 10. Dezember 1957 keine Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne von § 40 Abs. 2 VerwVG sei. Den Widerspruch wies das LVersorgA am 25. Juni 1959 zurück. Der Kläger erhob Klage bei dem SG Lübeck. Das SG wies die Klage durch Urteil vom 20. Juni 1960 ab. Das Schleswig-Holsteinische LSG hob durch Urteil vom 12. Dezember 1960 das Urteil des SG Lübeck vom 20. Juni 1960, den Widerspruchsbescheid vom 25. Juni 1959 sowie den Bescheid vom 7. Februar 1959 auf und verurteilte den Beklagten, "dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, durch den ihm vom 1. November 1954 an Rente nach einer MdE um 50 v.H. gewährt wird". Es führte aus, das Urteil des 11. Senats des BSG vom 10. Dezember 1957, dem sich inzwischen auch der 8. Senat des BSG in dem Urteil vom 11. Januar 1960 angeschlossen habe, sei eine Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne von § 40 Abs. 2 VerwVG aF; jenes Urteil habe für eine Anzahl gleichgelagerter Fälle eine Klärung gebracht; danach sei der Beklagte an den Vermerk, "eine Nachuntersuchung ist nicht mehr beabsichtigt", gebunden gewesen; er habe die Rente nicht nach § 86 Abs. 3 BVG herabsetzen dürfen und müsse dem Kläger infolgedessen nunmehr einen Bescheid nach § 40 Abs. 2 VerwVG erteilen; dies gebiete schon der Gleichheitssatz (Art. 3 des Grundgesetzes - GG-); dem stehe nicht entgegen, daß die MdE des Klägers tatsächlich weniger als 50 v.H. betrage; die Rechtskraft der Urteile des SG Lübeck vom 26. September 1955 und des LSG vom 25. März 1958 stehe der Erteilung eines neuen Bescheides ebenfalls nicht im Wege; die Verwaltung sei weder durch die Rechtskraft eines Urteils noch durch die Bindungswirkung eines Bescheides gehindert, den Antragsteller günstiger zu stellen als ihn das Urteil oder der Bescheid stelle; der Beklagte könne sich auch nicht darauf berufen, daß der Kläger die Aufforderung zur Nachuntersuchung befolgt habe, obgleich er hierzu nicht verpflichtet gewesen sei; auch die Voraussetzungen. des § 40 Abs. 2 VerwVG nF seien gegeben. Das LSG ließ die Revision zu.

Das Urteil wurde dem Beklagten am 17. Januar 1961 zugestellt. Am 21. Januar 1961 legte er Revision ein und beantragte,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 12. Dezember 1960 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Lübeck vom 20. Juni 1960 zurückzuweisen.

Am 3. März 1961 begründete er die Revision: Es treffe nicht zu, daß dem Kläger ein Bescheid nach § 40 Abs. 2 VerwVG erteilt werden müsse; dem stünden die nicht überzeugend widerlegten Gründe des Urteils des SG Lübeck sowie die Auffassung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) in dem Rundschreiben vom 24. September 1958 (BVBl 58, 136) entgegen; zu Unrecht habe das LSG seine Auffassung auf den "Gleichbehandlungsgrundsatz" gestützt; die tatsächliche MdE des Klägers betrage höchstens 40 v.H.; wenn ihm nach dem Urteil des LSG Rente nach einer MdE um 50 v.H. gewährt werde, bekomme er eine Rente, die ihm objektiv nicht zustehe; über den "Gleichbehandlungsgrundsatz" könne Unrecht nicht zu Recht werden; das LSG habe auch gegen § 141 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen; denn über die Höhe der Rente sei rechtskräftig durch das Urteil des SG Lübeck vom 26. September 1955 entschieden worden; die Rechtskraft dieses Urteils dürfe nicht durch einen neuen Bescheid durchbrochen werden.

Der Kläger beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft. Der Beklagte hat sie frist- und formgerecht eingelegt und begründet; sie ist daher zulässig. Die Revision ist auch begründet.

Nach § 40 Abs. 2 VerwVG in der Fassung vor Inkrafttreten des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960 (aF) ist auf Antrag des Berechtigten ein neuer Bescheid zu erteilen, wenn das BSG in einer Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung nachträglich eine andere Rechtsauffassung vertritt, als der früheren Entscheidung zugrunde gelegen hat. Der Antrag des Berechtigten ist dabei dahin zu verstehen, daß ihm die Versorgungsverwaltung im Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG einen günstigeren Bescheid erteile. Die Versorgungsverwaltung darf den Antrag ablehnen, wenn keine Entscheidung des BSG "von grundsätzlicher Bedeutung" vorliegt, wenn die Entscheidung des BSG den vorliegenden Sachverhalt nicht trifft oder wenn auch bei Berücksichtigung der Entscheidung des BSG eine günstigere Entscheidung nicht möglich ist. Im vorliegenden Falle hat die Versorgungsverwaltung die Bescheide vom 7. Februar 1959 und vom 25. Juni 1959 darauf gestützt, daß es sich bei dem Urteil des BSG vom 10. Dezember 1957 nicht um eine Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung handele. Dies trifft jedoch nicht zu.

Der Rechtsgedanke, der in § 40 Abs. 2 VerwVG aF zum Ausdruck gekommen ist, geht auf § 66 Abs. 1 Nr. 12 des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen vom 10. Januar 1922 (VerfG 1922) zurück (vgl. die amtl. Begründung zum Gesetz über das Verwaltungsverfahren der KOV, BT-Drucks. Nr. 4430, 1. Wahlperiode). Nach dieser Vorschrift könnte ein durch rechtskräftige Entscheidung abgeschlossenes Verfahren wieder aufgenommen werden, wenn das Reichsversorgungsgericht (RVG) in einer veröffentlichten grundsätzlichen Entscheidung nachträglich eine andere Rechtsauffassung vertrat als der früheren Entscheidung zugrunde gelegt worden war. Diese Regelung hat der damaligen Rechtslage entsprochen; § 141 VerfG 1922 hat bestimmt, daß die Senate des RVG ausdrücklich darüber zu beschließen haben, welche ihrer Entscheidungen als grundsätzlich anzusehen sind. Demgegenüber ist im SGG nicht vorgesehen, daß die Senate des BSG ihre Entscheidungen in bestimmten Fällen ausdrücklich als "grundsätzlich" zu bezeichnen haben. Wenn trotzdem in § 40 Abs. 2 VerwVG aF die Formulierung "Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung" aus § 66 Abs. 1 Nr. 12 VerfG 1922 übernommen worden ist, so hat dies mit der Regelung des Verfahrens des BSG im SGG nicht im Einklang gestanden; dem Gesetzgeber ist insoweit offenbar ein Versehen unterlaufen. Der Widerspruch zwischen § 40 Abs. 2 VerwVG aF und der Rechtslage nach dem SGG ist durch das Erste Neuordnungsgesetz vom 27. Juni 1960 beseitigt worden, die Worte "Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung" in § 40 Abs. 2 VerwVG sind jetzt ersetzt durch die Worte "in ständiger Rechtsprechung".

Als Entscheidungen von "grundsätzlicher Bedeutung" sind unter der Geltung des VerfG 1922 die Entscheidungen angesehen worden, die nicht nur für den Einzelfall bedeutsam gewesen sind (Arendts/Fuisting, Gesetz über das Verfahren in Versorgungssachen, § 141 Anm. 3). Diese Auslegung hat dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprochen. Es bestehen keine Bedenken, die Worte "Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung" in § 40 Abs. 2 VerwVG aF in gleicher Weise auszulegen. Unter einer Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne von § 40 Abs. 2 VerwVG aF ist eine Entscheidung zu verstehen, die über den Einzelfall hinaus der Einheit und Fortentwicklung des Rechts dient oder für eine Anzahl ähnlich liegender Fälle eine Klärung bringt (vgl. BSG 2, 129, 131 zu dem Begriff "grundsätzliche Bedeutung" in § 150 Nr. 1 SGG).

Dies ist bei dem Urteil des BSG vom 10. Dezember 1957 der Fall. In diesem Urteil hat das BSG ausgeführt, die Erklärung in dem Umanerkennungsbescheid, "eine ärztliche Nachuntersuchung ist nicht mehr beabsichtigt", sei ein rechtsgestaltender, den Betroffenen begünstigender Verwaltungsakt, der Beklagte sei daran grundsätzlich gebunden; der Verwaltungsakt schaffe die Rechtslage, die sonst erst entstehe, wenn eine ärztliche Nachuntersuchung nach § 86 Abs. 3 BVG durchgeführt sei; es entfalle also die Möglichkeit einer Neufeststellung nach § 86 Abs. 3 BVG. Die Frage nach der Bedeutung und Tragweite des Vermerks, "eine ärztliche Nachuntersuchung ist nicht mehr beabsichtigt", ist zunächst erheblich umstritten und zweifelhaft gewesen. Erst das Urteil des BSG vom 10. Dezember 1957 hat für zahlreiche Streitfälle dieser Art die Klärung gebracht, es hat auch der Fortentwicklung des Rechts gedient, ist also von "grundsätzlicher" Bedeutung. Dem steht, wie das LSG zutreffend hervorgehoben hat, nicht entgegen, daß die Entscheidung des BSG sich nicht auf eine Rechtsfrage des materiellen Versorgungsrechts oder des besonderen Verfahrensrechts der KOV bezieht, sondern daß sie eine in der Versorgungsverwaltung übliche Erklärung unter den Gesichtspunkten des allgemeinen Verwaltungsrechts würdigt. § 40 Abs. 2 VerwVG aF enthält keine Einschränkung dahin, daß Gegenstand der Entscheidung des BSG eine Frage des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts der Kriegsopferversorgung sein müsse; dies ist offenbar die Meinung in dem Rundschreiben des BMA vom 24. September 1958 (BVBl 58, 136), in dem es heißt, § 40 Abs. 2 VerwVG sei nicht anzuwenden, weil das Urteil des BSG vom 10. Dezember 1957 "keine für die Versorgungsleistung selbst maßgebliche Vorschrift" betreffe. Abgesehen davon, daß § 40 Abs. 2 VerwVG aF keinerlei Einschränkung enthält, ist auch die Frage, ob die Versorgungsverwaltung trotz des in einem früheren Bescheid enthaltenen Vermerks, "eine ärztliche Nachuntersuchung ist nicht mehr beabsichtigt", Versorgungsbezüge ganz oder teilweise entziehen darf, eine "für die Versorgungsleistung selbst maßgebliche Vorschrift". Mit Recht hat das LSG auch ausgeführt, daß nicht nur die Voraussetzungen des § 40 Abs. 2 VerwVG aF, sondern auch die Voraussetzungen des § 40 Abs. 2 VerwVG nF erfüllt sind; nachdem sich der 8. Senat des BSG in dem Urteil vom 21. Januar 1960 (BSG 11, 236) dem Urteil vom 10. Dezember 1957 angeschlossen hat und gegenteilige Entscheidungen anderer Senate nicht ergangen sind, liegt insoweit eine ständige Rechtsprechung des BSG im Sinne von § 40 Abs. 2 VerwVG nF vor.

Dem Erlaß eines "neuen Bescheides" (Zweitbescheides) nach § 40 Abs. 2 VerwVG aF steht auch das Urteil des SG Lübeck vom 26. September 1955 nicht entgegen. Durch dieses Urteil ist der Beklagte, der die MdE des Klägers von 50 auf 30 v.H. herabgesetzt und die Rente entsprechend ermäßigt hatte, verpflichtet worden, dem Kläger ab 1. November 1954 Rente nach einer MdE um 40 v.H. zu zahlen. Die Berufung des Klägers hat das LSG als unzulässig verworfen, die Revision hat der Kläger zurückgenommen, das Urteil des SG ist somit rechtskräftig geworden. Gleichwohl hat der Beklagte nunmehr einen "neuen Bescheid" erlassen dürfen und er hat ihn im vorliegenden Falle erlassen müssen. Zwar binden rechtskräftige Urteile in der Sozialgerichtsbarkeit die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist (§ 141 SGG); die Bedeutung der Rechtskraft eines Urteils ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht anders zu würdigen als in den übrigen Gerichtsbarkeiten (vgl. BSG 13, 181 ff). Im vorliegenden Falle ist aber von der Verwaltung und von den Gerichten in dem nunmehr anhängigen Verfahren nicht über denselben Streitgegenstand zu entscheiden wie in dem Verfahren, in dem das Urteil des SG vom 26. September 1955 (Urteil des LSG vom 25. März 1958) ergangen ist. Streitgegenstand in jenem Verfahren ist die Frage gewesen, ob der Bescheid vom 20. September 1954, der vom Beklagten auf § 86 Abs. 3 BVG gestützt worden war, rechtmäßig ist. Über diese Frage dürfen die Gerichte nicht ein zweites Mal entscheiden, der Grundsatz "ne bis in idem" gilt auch für die Sozialgerichtsbarkeit. Gegenstand des Streites in dem jetzt anhängigen Verfahren ist die Frage, ob die Verwaltung verpflichtet ist, dem Kläger einen neuen, ihm günstigeren Bescheid zu erteilen. Eine solche Verpflichtung zum Erlaß eines neuen, dem Betroffenen günstigeren Bescheides enthalten für die Rentenversicherung die §§ 1300 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nF, 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nF, für die KOV § 40 Abs. 2 VerwVG. Die Fälle der §§ 1300 RVO nF und 79 AVG nF (vgl. BSG 13, 181, 185 - 187) lösen eine neue Regelung aus, weil der Träger der Rentenversicherung sich davon überzeugt hat, daß der frühere Bescheid "zu Unrecht" ergangen ist, die Sach- oder Rechtslage in dem früheren Bescheid also unrichtig beurteilt und die materielle Rechtsbeziehung zwischen den Beteiligten durch den früheren Bescheid falsch geregelt worden ist. Im Falle des § 40 Abs. 2 VerwVG muß die Verwaltung den durch einen früher bindend gewordenen Bescheid geregelten Sachverhalt deshalb "neu" regeln, weil das BSG in einer Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung eine andere Rechtsauffassung vertreten hat als die, die sowohl die Verwaltung als etwa auch - wenn der Kläger den früheren Bescheid erfolglos angegriffen hat und das klagabweisende Urteil rechtskräftig geworden ist - die Gerichte vertreten haben; es kommt hier nicht darauf an, ob sie davon "überzeugt" ist, daß die Regelung in dem früheren Bescheid unrichtig sei. Der Betroffene, der durch einen früheren Bescheid belastet worden ist, hat im Falle des § 40 Abs. 2 alter und neuer Fassung Anspruch darauf, daß die Verwaltung den Sachverhalt unter den vom BSG für erheblich gehaltenen Gesichtspunkten neu prüft. Wenn die Verwaltung dies tut und wenn sie einen neuen Bescheid erläßt - mag sie in diesem neuen Bescheid eine für den Betroffenen günstigere Regelung ablehnen oder eine günstigere Regelung treffen -, so "verzichtet" sie damit auch nicht auf die Rechtskraft eines früheren klagabweisenden Urteils (vgl. Haueisen, NJW 1959, 2138); die Rechtskraft des früheren Urteils bezieht sich nur auf den Erstbescheid, der Zweitbescheid ist nicht Gegenstand des früheren Rechtsstreits gewesen, und zwar auch dann nicht, wenn der Zweitbescheid denselben Sachverhalt regelt, den der Erstbescheid geregelt hat. Die Versorgungsverwaltung hat deshalb den Antrag des Klägers vom 3. Juli 1958, ihm nach § 40 Abs. 2 VerwVG einen neuen Bescheid zu erteilen, mit den angefochtenen Bescheiden vom 7. Februar und 25. Juni 1959 auch nicht deshalb ablehnen dürfen, weil in dem rechtskräftigen Urteil des SG vom 26. September 1955 schon eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 20. September 1954 vorgelegen hat.

Diese Feststellung allein hat aber noch nicht ausgereicht, um die angefochtenen Bescheide und das die Klage auf Aufhebung dieser Bescheide abweisende Urteil des SG vom 20. Juni 1960 aufzuheben. Das LSG hat vielmehr auch noch prüfen müssen, ob die angefochtenen Bescheide nicht aus anderen Gründen rechtmäßig sind. Wenn ein Verwaltungsakt eine unzutreffende Begründung enthält, aber auf andere rechtliche Vorschriften gestützt werden kann, darf die zutreffende Rechtsbegründung nachgeschoben werden, sofern der Verwaltungsakt durch die andere Begründung nach Voraussetzungen, Inhalt und Wirkungen nicht etwas wesentlich anderes wird (vgl. BSG 7, 8, 12; BVerwG, NJW 1959, 2033; BSG 11, 236); dies gilt nicht nur dann, wenn der Beklagte selbst die zutreffende rechtliche Begründung "nachschiebt", auch wenn er dies nicht tut, ist der Verwaltungsakt, wenn er auf eine andere rechtliche Begründung gestützt werden kann, von den Gerichten aufrechtzuerhalten. Im vorliegenden Falle sind die angefochtenen Bescheide dann nicht rechtswidrig, wenn die Voraussetzungen für einen dem Antragsteller günstigeren neuen Bescheid deshalb nicht vorliegen, weil der Bescheid vom 20. September 1954, der vom SG bereits zu Gunsten des Klägers abgeändert worden ist, auch bei Berücksichtigung der Entscheidung des BSG vom 10. Dezember 1957 rechtmäßig ist. Aus dem Urteil des BSG vom 10. Dezember 1957 ergibt sich nur, daß der Beklagte, wenn er über den Antrag des Klägers vom 3. Juli 1958 auf Erlaß eines neuen Bescheides entscheidet, davon ausgehen muß, daß der Bescheid vom 20. September 1954, dessen Rücknahme der Kläger begehrt, vom Beklagten und vom SG in dem Urteil vom 26. September 1955 jedenfalls nicht auf § 86 Abs. 3 BVG hat gestützt werden dürfen. Das LSG hat nicht geprüft, ob dieser Bescheid nicht aus anderen Gründen, nämlich im Hinblick auf § 62 Abs. 1 BVG insoweit aufrechtzuerhalten ist, als ihn auch das SG für rechtmäßig gehalten hat, und ob deshalb nicht auch die angefochtenen Bescheide vom 7. Februar und 25. Juni 1959 deshalb rechtmäßig sind, weil die Voraussetzungen für einen dem Kläger günstigeren Bescheid nicht vorliegen. Nach § 62 Abs. 1 BVG hat die Versorgungsverwaltung den Bescheid vom 3. Juni 1952 durch den Bescheid vom 20. September 1954 dann zurücknehmen dürfen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind, damals eine wesentliche Änderung eingetreten gewesen ist. Die Verwaltung ist jedenfalls dann nicht gehindert, die Nachuntersuchung unter anderen Gesichtspunkten - nämlich im Hinblick auf § 62 Abs. 1 BVG unter dem Gesichtspunkt einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse - zu verwerten, wenn die Nachuntersuchung erst nach Ablauf von zwei Jahren seit dem Umanerkennungsbescheid durchgeführt worden ist und deshalb auch der Bescheid, mit dem die Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse neu festgestellt sind, die Frist von zwei Jahren (§ 62 Abs. 2 Satz 1 BVG) wahrt. Diese zeitlichen Voraussetzungen sind im vorliegenden Falle gegeben, der Umanerkennungsbescheid ist am 3. Juni 1952 ergangen, die Nachuntersuchung hat im August/September 1954 stattgefunden, der Bescheid, mit dem die MdE herabgesetzt und die Rente teilweise entzogen worden ist, ist am 20. September 1954 ergangen. Die Anordnung der Nachuntersuchung, die nach der Aktenverfügung in den Versorgungsakten (Bl. 50) auf § 86 Abs. 3 BVG gestützt worden ist, hat zwar auf diese Vorschrift nicht gestützt werden dürfen, die Anordnung der Nachuntersuchung ist aber nicht rechtswidrig, wenn eine wesentliche Änderung der Verhältnisse vorgelegen hat. Der Bescheid wird durch das "Nachschieben" des § 62 BVG in seinem Wesen nicht verändert, die Rechtsverteidigung des Betroffenen wird auch nicht erschwert, sondern erleichtert, denn die "nachgeschobene" Vorschrift des § 62 Abs. 1 BVG stellt größere Anforderungen an die Neufeststellung, da anders als bei § 86 Abs. 3 BVG eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen nachgewiesen werden muß. Die Frage, ob und seit wann eine wesentliche Änderung im Sinne von § 62 BVG eingetreten ist, ist in den Fällen, in denen der "Umanerkennungsbescheid" nach dem BVG die Schädigungsfolge und den Grad der MdE ohne ärztliche Nachuntersuchung übernommen hat, nach dem Zeitpunkt zu beurteilen, zu dem der Bescheid nach früherem Versorgungsrecht - hier also der Bescheid vom 27. Januar 1948 auf Grund der SVD Nr. 27 - ergangen ist (vgl. BSG 11, 237). Das LSG hat nicht geprüft, ob die Verhältnisse sich wesentlich geändert haben, es hat insoweit auch keine tatsächlichen Feststellungen getroffen; es hat zwar im Tatbestand des Urteils gesagt, daß Dr. Schmidt in dem (zweiten) Verfahren vor dem SG im Jahre 1960 ausgeführt habe, nach den ärztlichen Befunden sei von 1949 bis 1954 keine wesentliche Änderung eingetreten, das LSG hat diese Äußerung des Sachverständigen aber nicht verwertet. Der Senat darf Feststellungen insoweit nicht selbst treffen, im übrigen sind die ärztlichen Befunde der Nachuntersuchung im August und September 1954 auch nicht eindeutig; in dem Gutachten vom 13. August 1954 ist nur dazu Stellung genommen, ob eine Verschlimmerung eingetreten sei, in dem Gutachten vom 10. September 1954 heißt es (S. 4 Abs. 1 der Zusammenfassung und Beurteilung), daß trophische Veränderungen und Durchblutungs- und Sensibilitätsstörungen im Ausbreitungsgebiet des linken Radialis "nicht mehr" bestehen, es heißt aber auch (S. 5 des Gutachtens), eine wesentliche Einschränkung des linken Schultergelenks sei objektiv "nicht" nachweisbar; der Gutachter hat sich nicht dazu geäußert, ob die MdE, die er mit 30 v.H. bewertet, auch früher schon so zu bewerten gewesen ist oder ob sie früher höher gewesen ist; auch der Widerspruchsbescheid vom 19. April 1955 ist unklar, dieser Bescheid ist zwar ebenfalls - zu Unrecht - auf § 86 Abs. 3 BVG gestützt, im Schlußsatz der Begründung heißt es aber, nach der neurologischen Untersuchung (im September 1954) sei insoweit eine Besserung eingetreten, als sich eine wesentliche Einschränkung der Beweglichkeit des linken Schultergelenks "nicht mehr" nachweisen lasse. Ohne diese Frage zu klären, hat das LSG den Beklagten nicht verurteilen dürfen, dem Kläger vom 1. November 1954 an weiterhin Rente nach einer MdE um 50 v.H. zu gewähren; es ist zu Unrecht davon ausgegangen, der Kläger sei durch den Bescheid, den der Beklagte nach § 40 Abs. 2 VerwVG aF zu erlassen habe, ohne weiteres "so zu stellen, wie er gestanden hätte, wenn die (rechtswidrige) Nachuntersuchung und die damit verbundene (rechtswidrige) Herabsetzung der Rente von 50 auf 40 v.H. nicht erfolgt wäre". Dies ist nicht richtig.

Die Revision des Beklagten ist sonach begründet, das Urteil des LSG ist aufzuheben. Der Senat kann nicht selbst entscheiden, da keine ausreichenden Feststellungen des LSG vorliegen. Die Sache ist deshalb zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Wenn das LSG zu dem Ergebnis kommt, der Beklagte habe die Rente auch nicht wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 62 Abs. 1 BVG herabsetzen dürfen, so hat es den Beklagten zu verurteilen, im Hinblick auf das Urteil des BSG vom 10. Dezember 1957 dem Kläger einen "neuen Bescheid" über die Gewährung von Rente vom 1. November 1954 an nach einer MdE um 50 v.H. zu erteilen. Wenn das LSG zu dem Ergebnis kommt, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse habe vorgelegen, die Herabsetzung der Rente von 50 auf 40 v.H. sei rechtmäßig, so hat das LSG die Berufung gegen das Urteil des SG vom 26. Juni 1960 zurückzuweisen; die Bescheide vom 7. Februar 1959 und 23. Juni 1959 sind dann im Ergebnis zutreffend, weil die Voraussetzungen für den Erlaß eines günstigeren Bescheides nicht vorliegen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2290942

BSGE, 17

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