Leitsatz (redaktionell)
1. Die Bindungswirkung des Bescheides eines Rentenversicherungsträgers über die Verteilung einer Rentennachzahlung trifft den Versicherten, die Krankenkasse und den Rentenversicherungsträger gleichermaßen, da diese alle als "Beteiligte" iS von SGG § 77 anzusehen sind.
2. Die Bescheide über die Verteilung einer Rentennachzahlung, die auch den nach RVO § 183 Abs 3 oder 5 übergegangenen Rententeil beziffern, werden - sofern sie keine Rechtsbehelfsbelehrung enthalten - nach Ablauf eines Jahres seit ihrer Bekanntgabe für den Versicherten, den Rentenversicherungsträger und die Krankenkasse gleichermaßen bindend; nach diesem Zeitpunkt kann mithin die Berechnung des auf die Krankenkasse übergegangenen Betrages nicht mehr angefochten werden.
Normenkette
SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; RVO § 183 Abs. 3 Fassung: 1961-07-12, Abs. 5 Fassung: 1961-07-12
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Juni 1971 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der bei der beklagten Betriebskrankenkasse (BKK) versicherte Kläger begehrt von dieser die Anerkennung der Anspruchsberechtigung auf Familienkrankenpflege für seinen Sohn (A.) über dessen 18. Lebensjahr hinaus.
A., geboren am 15. Januar 1952, leidet an Mongolismus mit Imbezillität, ist seit 1961 in einer Pflegeanstalt untergebracht und seit 1969 blind. Der Kläger und seine Ehefrau bringen die Kosten für Unterbringung und Verpflegung auf. A. ist dauernd erwerbsunfähig.
Die Beklagte lehnte die Anerkennung der Anspruchsberechtigung ab, da A. das 18. Lebensjahr vollendet habe und er auch nicht zu den "sonstigen Angehörigen", für die nach § 205 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO), § 48 Abs. 1 Buchst. c i. V. m. Abs. 3 Buchst. a ihrer Satzung ein Anspruch auf Familienkrankenpflege gegeben sei, gehöre, weil er nicht mit dem Kläger in häuslicher Gemeinschaft lebe.
Der Widerspruch des Klägers ist erfolglos geblieben.
Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hat mit Urteil vom 21. Oktober 1970 die Beklagte "zur Anerkennung der Anspruchsberechtigung auf Familienkrankenpflege verpflichtet". Auf die Berufung der Beklagten hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. Juni 1971): Die Beklagte habe in ihrer Satzung von der in § 205 Abs. 3 Satz 2 RVO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Anspruch auf Familienkrankenpflege für Kinder über einer bestimmten Altersgrenze wegfallen zu lassen. Sie habe in § 48 ihrer Satzung u. a. bestimmt:
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"1.) |
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Mitglieder erhalten Familienkrankenpflege für |
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b) |
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die unterhaltsberechtigten Kinder (Abs. 2) bis zum vollendeten 18. Lebensjahr, wenn sie sich gewöhnlich im Inland aufhalten und nicht anderweitig einen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege haben; |
....
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c) |
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sonstige Angehörige (Abs. 3), die mit dem Mitgliede in häuslicher Gemeinschaft leben, von ihm ganz oder überwiegend unterhalten werden, sich im Inland aufhalten und nicht anderweitig einen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege haben, wenn die Anspruchsberechtigung vorher von der Bezirksleitung ausdrücklich anerkannt worden ist; .... |
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3.) |
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Als sonstige Angehörige gelten |
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a) |
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über 18 Jahre alte Kinder, die wegen Gebrechen auf nicht absehbare Zeit erwerbsunfähig sind, sofern diese Erwerbsunfähigkeit schon vor dem 18. Lebensjahr eingetreten ist; |
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b) |
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über 18 Jahre alte Kinder in Schul- und Berufsausbildung ..." |
Danach habe der Kläger den Anspruch auf Familienkrankenpflege für seinen Sohn als Mehrleistung nur, wenn er mit dem Kind in häuslicher Gemeinschaft leben würde (§ 48 Abs. 1 c der Satzung der Beklagten). Dies sei nicht der Fall. A. lebe seit über zehn Jahren von seinen Eltern räumlich getrennt. Nach der fachärztlichen Bescheinigung der Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie Dr. B vom 24. Februar 1970 und nach deren Bericht vom 23. Juli 1970 sei mit einer Besserung des gesundheitlichen Zustands des A. nicht zu rechnen und seine Anstaltsunterbringung voraussichtlich eine dauernde. Wenn A. auch jedes Jahr einige Tage oder Wochen bei seinen Eltern verbringe und von diesen in der Anstalt auch regelmäßig besucht werde, so würden dadurch zwar die persönlichen Beziehungen zwischen Eltern und Kind gepflegt. Nicht aber würde die räumliche Trennung aufgehoben, die infolge der Anstaltsunterbringung des Sohnes bestehe.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger die falsche Auslegung des § 48 der Satzung der Beklagten: Eine häusliche Gemeinschaft könne trotz zeitweiliger Trennung bestehen bleiben.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen LSG vom 8. Juni 1971 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 21. Oktober 1970 zurückzuweisen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen LSG vom 8. Juni 1971 zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG die beklagte Betriebskrankenkasse nicht für verpflichtet gehalten, die beantragte Anspruchsberechtigung auf Familienkrankenpflege für A. anzuerkennen.
Die vorherige Anerkennung der Anspruchsberechtigung für "sonstige Angehörige" ist in der Satzung der Beklagten (§ 48 Abs. 1 Buchst. c) vorgesehen, offenbar um durch Verwaltungsakt allgemein das Vorliegen der verschiedenen, unter Umständen aufklärungsbedürftigen Voraussetzungen feststellen zu können, bevor Familienkrankenpflege in diesen Fällen in Anspruch genommen wird. Diese Anerkennung betrifft alle in Frage kommenden Leistungen der Familienkrankenpflege unabhängig davon, ob es sich um alte - d. h. in diesem Fall bereits vor Vollendung des 18. Lebensjahrs eingetretene - oder um neue Versicherungsfälle handelt.
Auch wenn bei A. im Zeitpunkt des Überschreitens der genannten Altersgrenze behandlungsbedürftige Krankheiten vorgelegen hätten, würden sie keine Anspruchsberechtigung über diese Altersgrenze hinaus begründen. Die aus dem Grundsatz der "Einheit des Versicherungsfalls" abgeleitete Folgerung, daß schwebende Versicherungsfälle auf der Basis der erworbenen Anspruchsberechtigung grundsätzlich über den Zeitpunkt des Erlöschens der Mitgliedschaft hinaus noch abzuwickeln sind (vgl. BSG 16, 177, 179; 18, 122, 125; 22, 115, 116), ist auf den vorliegenden Sachverhalt auch nicht entsprechend anwendbar. Bei dem in § 205 Abs. 3 Satz 2 RVO geregelten Sachverhalt handelt es sich nicht um einen mit dem Erlöschen der Mitgliedschaft vergleichbaren Sachverhalt. Vielmehr kann nach dieser Vorschrift der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung durch Satzung den auf Familienkrankenpflege gerichteten Anspruch selbst zum Erlöschen bringen, und zwar für Kinder bei Erreichen einer bestimmten Altersgrenze.
Diese strenge Begrenzung des Anspruchs auf Familienkrankenpflege erscheint im übrigen deshalb für die Beteiligten tragbar, weil davon ausgegangen werden kann, daß die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung für Kinder über der satzungsmäßig bestimmten Altersgrenze regelmäßig Familienkrankenpflege als Mehrleistung gewähren werden. Da der ganze Abs. 3 des § 205 RVO seiner Systematik nach die Mehrleistungen bei der Familienkrankenpflege behandelt (vgl. RVA, Beschluß vom 2. Februar 1931 in EuM 29, 272, 273), ist auch in Satz 2 aaO die Ermächtigung enthalten, mit der Beendigung der Familienkrankenpflege als Regelleistung bei Erreichung eines bestimmten Lebensalters diese Leistung darüber hinaus als Mehrleistung unter den in der Satzung festgelegten Voraussetzungen zu gewähren. Damit ist aber dem berechtigten Bedürfnis nach Krankenversicherungsschutz im allgemeinen genügt und andererseits der Zweck des § 205 Abs. 3 Satz 2 RVO gewahrt, die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung vor der sonst sich aus der Mitgliedschaft des versicherten Elternteils ergebenden Folge zu schützen, Familienkrankenpflege in alten Versicherungsfällen zeitlich unbegrenzt zu gewähren. Auch erübrigt sich damit der Versuch, durch Rückgriff auf § 183 Abs. 1 Satz 2 RVO eine zeitliche Begrenzung für den nachgehenden Anspruch auf Familienkrankenpflege abzuleiten (so das Gemeinsame Rundschreiben der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Dauer des Anspruchs auf Krankenpflege, Krankengeld und Krankenhauspflege vom 1. Dezember 1967 in "Die Ersatzkasse" 1968, 27 zu Abschn. 1, Abs. 1.1; für das frühere Recht Auskünfte in "Volkstümliche Zeitschrift für die gesamte Sozialversicherung" 1941, 132 und in "Die Arbeiter-Versorgung" 1942, 211).
Von der Ermächtigung in § 205 Abs. 3 Satz 2 RVO hat die Beklagte Gebrauch gemacht (§ 48 Abs. 1 Buchst. c i. V. m. Abs. 3 Buchst. a und b ihrer Satzung) und die Weitergewährung der Familienkrankenpflege für über 18 Jahre alte Kinder, die wegen Gebrechen auf nicht absehbare Zeit erwerbsunfähig sind, u. a. davon abhängig gemacht, daß diese mit dem Versicherten "in häuslicher Gemeinschaft leben". Dieser Begriff setzt voraus, daß die Beteiligten im Regelfall in einem Hausstand zusammenleben (RVA, Grunds. Entsch. Nr. 1895 in AN 1914, 694, 695). Dieses räumliche Zusammenleben kann zwar zeitweise unterbrochen sein (vgl. RVA, Grunds. Entsch. Nr. 1992 in AN 1915, 432, 434; Beschluß vom 12. Dezember 1940 in AN 1940, 435; Grunds. Entsch. Nr. 5560 in AN 1944, 156, 157). Diese Phasen müssen aber vorübergehender Natur sein, sei es, daß das räumliche Zusammenleben für einen von vornherein bestimmten Zeitraum von relativ kurzer Dauer aufgehoben ist, sei es - bei einer im voraus nicht zeitlich festgelegten Trennung -, daß sich dieser Zeitraum nach den Umständen als vorübergehende Episode darstellt (ähnlich BSG, Urteil vom 24. Februar 1966 - 12 RJ 506/64 - zur Voraussetzung der "häuslichen Gemeinschaft" in § 1288 Abs. 2 RVO).
Im vorliegenden Fall liegt weder das eine noch das andere vor. A. lebt in der Pflegeanstalt seit 1961; die Dauer seines weiteren Aufenthalts daselbst ist nicht absehbar. Die Pflegeanstalt ist für A. zum Lebensmittelpunkt geworden. Die Besuche seiner Eltern bei ihm und seine Besuche bei den Eltern können zwar das persönliche Band zwischen Eltern und Kind aufrechterhalten und festigen, aber nicht die häusliche Gemeinschaft wiederherstellen.
Daran ändert auch nichts die vom Kläger vorgetragene Absichtserklärung, sie, die Eltern, würden ihr Kind wieder zu sich nehmen, wenn die Ehefrau des Klägers ihre Berufstätigkeit einmal aufgeben werde. Die häusliche Gemeinschaft kann nur durch das tatsächliche räumliche Zusammenleben wieder begründet werden. Würde das allerdings eintreten, stünde der Anerkennung der Anspruchsberechtigung für A., wenn die sonstigen Voraussetzungen wie z. Zt. gegeben sind, nichts mehr im Wege.
Demnach war die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen