Beteiligte
Klägerin und Revisionsbeklagte |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I.
Die im Jahr 1910 geborene Klägerin bezieht von der Beklagten Witwenrente (im Jahr 1977 monatlich 332,50 DM) und Versichertenrente (im Jahr 1977 monatlich 130,90 DM). Sie schuldete der Bundesanstalt für Arbeit (BA) über 16.000,-- DM für rückständige Sozialversicherungsbeiträge.
Im Januar 1978 beantragte das Arbeitsamt Pirmasens bei der Beklagten, die Ansprüche der BA gegen die Klägerin mit den von der Beklagten gewährten Renten zu verrechnen. Darauf kürzte die Beklagte mit Bescheid vom 13. April 1978 ab Juni 1978 die Witwenrente um 231,70 DM monatlich. Spätestens seit dieser Verrechnung zählt die Klägerin mangels anderweitigen Einkommens zum Kreis der Personen, die nach § 11 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) berechtigt sind, Hilfe zum Lebensunterhalt zu empfangen.
Widerspruch und Klage sind erfolglos geblieben. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 21. März 1980 den Kürzungsbescheid aufgehoben und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen hat es dazu ausgeführt: Die Verrechnung sei wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Grundsatz der Nachrangigkeit der Sozialhilfe (§ 9 Sozialgesetzbuch -Allgemeiner Teil- -SGB I- i.V.m. § 2 BSHG) rechtswidrig und unzulässig. Die Beklagte müsse eine neue Ermessensentscheidung treffen.
Mit der Revision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 14. August 1979 zurückzuweisen.
Auf ihre Schriftsätze vom 21. Juli 1980 und vom 4. Juni 1981 wird verwiesen.
Die Klägerin ist im Revisionsrechtszug nicht vertreten; sie hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht den Kürzungsbescheid vom 13. April 1978 aufgehoben.
Als Rechtsgrundlage der Rentenkürzung kommt nur § 52 des am 1. Januar 1976 in Kraft getretenen SGB I in Betracht. Nach dieser Vorschrift kann der für eine Geldleistung zuständige Leistungsträger (hier die Beklagte) mit Ermächtigung eines anderen Leistungsträgers (hier der BA) deren Ansprüche gegen den Berechtigten (hier die Klägerin) mit der ihm obliegenden Geldleistung (hier der Witwenrente) verrechnen, soweit nach § 51 SGB I die Aufrechnung zulässig ist. § 51 SGB I gibt in Abs. 1 zunächst Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Aufrechnung mit allgemeinen Ansprüchen gegen den Berechtigten und stellt in Abs. 2 besondere - leichtere - Voraussetzungen für die Aufrechnung mit Beitragsansprüchen nach SGB I auf. In der ursprünglichen Fassung war die Aufrechnung "gegen Ansprüche auf laufende Geldleistungen bis zu deren Hälfte" zulässig. Durch Art. II § 28 Nr. 4 des, Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - vom 18. August 1980 (BGBl. I 1469) ist dann der Abs. 2 um folgenden Halbsatz ergänzt worden:
"soweit der Leistungsberechtigte dadurch nicht hilfebedürftig im Sinne den Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes über die Hilfe zum Lebensunterhalt wird".
Zur Entscheidung des vorliegenden Falles und damit zur Beantwortung der Frage, ob hier die Aufrechnung zulässig gewesen wäre, ist § 51 SGB I in der neuen, ergänzten Fassung heranzuziehen. Das wird zwar von der Beklagten bezweifelt, ergibt sich aber aus folgenden Gründen.
Nach Art. II § 37 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - sind bereits begonnene Verfahren nach den Vorschriften dieses Gesetzes zu Ende zu führen Dem Gesetz läßt sich nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, was "Verfahren" i.S. dieser Vorschrift bedeuten soll. Unklar ist auch, ob das SGB X einen Unterschied zwischen "Verfahren" und "Verwaltungsverfahren" machen will. Einerseits gebraucht es die beiden Begriffe, worauf die Beklagte zutreffend hinweist, nebeneinander (Verfahren z.B. in den §§ 10, 12 Abs. 2, 13 Abs. 3, 21 Abs. 4, 25 Abs. 1 Satz 1; Verwaltungsverfahren z.B. in den §§ 9, 13 Abs. 1, 16, 17, 18, 25 Abs. 1 Satz 2), andererseits fällt auf, daß bei den verhältnismäßig ähnlichen Überleitungsvorschriften in Art. II § 23 Abs. 2 Satz 2 SGB I von noch nicht abgeschlossenen "Verwaltungsverfahren" und in Art. II § 37 Abs. 1 SGB X von bereits begonnenen "Verfahren" die Rede ist. Vom sprachlichen Verständnis her deutet manches darauf hin, daß "Verfahren" der weitere Begriff ist, der neben dem "Verwaltungsverfahren" auch noch andere Handlungsabläufe, so auch das gerichtliche Verfahren umfaßt. Das kann jedoch dahinstehen.
Der Senat folgert aus Sinn und Zweck der Regelung, daß jedenfalls das in der Überleitungsvorschrift zum SGB X erwähnte "Verfahren" nicht schon mit dem Erlaß des Verwaltungsaktes (Bescheid, Widerspruchsbescheid), sondern erst mit dem Eintritt der Bindungswirkung (§ 77 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) abgeschlossen ist. Das hat der 9. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 19. September 1979 - 9 RV 68/78 - (SozR 1200 § 44 Nr. 1) für das Verwaltungsverfahren im Sinne der Überleitungsvorschriften zum SGB I ausgesprochen. Er hat dabei zum Begriff "Abschluß des Verwaltungsverfahrens" u.a. ausgeführt, die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns sei eine selbstverständliche Voraussetzung unserer Rechtsordnung; es könne nicht unterstellt werden, daß der Gesetzgeber hiervon habe abweichen wollen, indem er das Verwaltungsverfahren selbst dann als abgeschlossen gelten lasse, wenn sich in einem anschließenden gerichtlichen Verfahren die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes herausstellen sollte. Dem schließt sich der erkennende Senat an. Nur das unanfechtbar abgeschlossene Verfahren kann in diesem Sinn als beendet angesehen werden, weil zuvor der Verwaltungsakt (§ 8 SGB X) und damit die Regelung eines Einzelfalles (§ 31 Satz 1 SGB X) eben gerade noch nicht die unmittelbare Rechtswirkung nach außen haben (§ 31 Satz 1 SGB X), auf die es bei jedem (Verwaltungs-) Verfahren letztlich ankommt.
Die Rechtsauffassung des Senats, daß die Regelung des Art. II § 37 Abs. 1 SGB X alle Verfahren erfaßt, die hoch nicht bindend (rechtskräftig) abgeschlossen sind - also auch solche Verfahren, die noch vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit anhängig sind -, wird durch eine weitere Erwägung gestützt. Die Änderung des § 51 Abs. 2 SGB I wird durch Art. II § 28 Nr. 4 SGB X angeordnet. Diese Vorschrift trat am 27. August 1980 in Kraft (Art. II § 40 Abs. 5 SGB X). Von diesem Zeitpunkt an muß somit die neue Regelung des § 51 Abs. 2 SGB I ohnehin in allen Verwaltungsverfahren angewendet werden, die noch nicht durch Verwaltungsakt abgeschlossen, mithin noch anhängig im engeren Sinne sind. Wenn aber Art. II § 37 Abs. 1 SGB X, der zum 1. Januar 1981 in Kraft trat, gleichfalls nur diese Verfahren meinen würde, wie die Beklagte annimmt, müßte es als fraglich erscheinen, von welchem Zeitpunkt an - 27. August 1980 oder 1. Januar 1981 - die "neue" Regelung anzuwenden wäre. Die vom Senat vertretene Meinung läßt solche Zweifel nicht entstehen. Aus Art. II § 28 Nr. 4 SGB X folgt, daß ab 27. August 1980 alle Verwaltungsakte die "neue" Regelung zugrunde legen müssen, aus Art. II § 37 Abs. 1 SGB X folgt, daß darüber hinaus die "neue" Regelung auf alle die Fälle anzuwenden ist, in denen ein einschlägiger Verwaltungsakt zwar bereits ergangen, das Verfahren jedoch noch nicht bindend oder rechtskräftig abgeschlossen ist. Daraus folgt weiterhin, daß bereits bindend oder rechtskräftig abgeschlossene Verfahren nicht nochmals neu aufzunehmen sind.
Mit der Rechtsauffassung, die der erkennende Senat einnimmt, wird auch dem Zweck des SGB X am besten entsprochen. Dem Gesetzgeber kam es offenbar darauf an, die Reform des Verwaltungsverfahrens und die - gerade im vorliegenden Fall erkennbare - Verbesserung des Rechtsschutzes so umfassend und so rasch wie möglich wirksam werden zu lassen, ohne daß die bereits erledigten Fälle wieder aufgenommen werden mußten, weil das einen unangemessenen Verwaltungsaufwand erfordert hätte. Solange aber ein Verwaltungsakt auf einen Rechtsbehelf hin noch gerichtlich überprüft wird und damit noch nicht bindend ist, erscheint es angemessen und geboten, ihn nach dem neuen Recht zu beurteilen; die Verbesserung des Rechtsschutzes kommt damit einem möglichst großen Kreis von Betroffenen zugute, ohne daß der Behörde ein unzumutbarer Verwaltungsaufwand entsteht.
Ist sonach, wie ausgeführt, § 51 SGB I in der Neufassung heranzuziehen, so ergibt sich, daß der Kürzungsbescheid nach der nunmehr geltenden Vorschrift rechtswidrig ist, weil er bewirkt hat, daß die Klägerin hilfebedürftig i.S. des BSHG geworden ist.
Der Begriff "hilfebedürftig werden" ist nach Sinn und Zweck der Regelung dahin auszulegen, daß er auch den Sachverhalt erfaßt, daß der Betroffene in stärkerem Maße hilfsbedürftig wird. Ein Kürzungsbescheid, der einen schon bisher Hilfebedürftigen (z.B. einen Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt) stärker hilfebedürftig macht (so daß z.B. der Betrag der Hilfe zum Lebensunterhalt erhöht werden muß), verstößt ebenfalls gegen das Gesetz. Die Regelung des § 51 SGB I soll bewirken, daß der Versicherte die dem Versicherungsträger zustehende Forderung aus den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln erfüllt, beim Bezug von (mehr) Sozialhilfe würde im wirtschaftlichen Ergebnis die Forderung durch eine Verlagerung auf andere öffentliche Mittel gedeckt. Auf die vom LSG offen gelassene Frage, ob die Klägerin schon vor Erlaß des angefochtenen Bescheides hilfebedürftig war, kommt es sonach nicht an.
Die Rechtslage nach altem Recht (vgl. dazu die Urteile des erkennenden Senats vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 47/77 - BSGE 45, 271 = SozR 1200 § 51 Nr. 3, des 8. Senats des BSG vom 18. Dezember 1980 - 8a RU 12/78 - und des 5. Senats vom 30. Juni 1981 - 5b/5 RJ 18/80 -) braucht hier wegen der Anwendung neuen Rechts nicht erörtert zu werden.
Die Revision der Beklagten war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen