Entscheidungsstichwort (Thema)
Zuleitung sämtlicher Befunde des Verwaltungsverfahrens an den medizinischen Sachverständigen
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein im gerichtlichen Verfahren eingeholtes Gutachten kann nur dann das Gesamtergebnis des Verfahrens auswerten und eine tragfähige Entscheidungsgrundlage darstellen, wenn dem Sachverständigen auch diejenigen Befunde vollständig zugänglich gemacht worden sind, die der Beurteilung im Verwaltungsverfahren zugrunde gelegen haben.
2. Bestehen Zweifel daran, daß dies der Fall gewesen ist, dann muß zur Sicherung einer das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigenden Beweiswürdigung bei dem Sachverständigen vor Verwertung seines Gutachtens im Urteil nachgefragt werden, ob er die betreffenden Befunde mit zum Gegenstand seiner Beurteilung gemacht hat bzw inwieweit sich seine Beurteilung unter Berücksichtigung dieser Befunde ändert.
Normenkette
SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 18. Oktober 1973 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der 1920 geborene und 1948 aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassene Kläger beantragte im Juli 1964 Versorgung. Er führte acht verschiedene Gesundheitsstörungen, darunter auch seine neurovegetative Dystonie, auf die während des Wehrdienstes durchgemachte Ruhrerkrankung zurück.
Das Versorgungsamt (VersorgA) erkannte durch Bescheid vom 6. April 1965 "geringe Verschmächtigung der Oberschenkelmuskulatur links" als Schädigungsfolge an, lehnte aber die Gewährung einer Beschädigtenrente ab, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) für die anerkannte Schädigungsfolge unter 25 v.H. liege. Der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 15. November 1966).
In seinem dem Sozialgericht (SG) Berlin am 30. Oktober 1967 erstatteten innerfachärztlichen Gutachten hat Dr. G u.a. ausgeführt, eine durch die Kriegsgefangenschaft bewirkte Verschlimmerung der vegetativen Dystonie sei innerhalb von zwei Jahren nach der Entlassung wieder abgeklungen. Dieser Beurteilung ist der Facharzt für innere Krankheiten Dr. K in seinem dem SG gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) am 5. November 1968 erstatteten Gutachten zwar beigetreten; er hat aber die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens empfohlen. Der Facharzt für Neurologie Dr. B hat in seinem ebenfalls gemäß § 109 SGG eingeholten Gutachten vom 25. Juli 1969 ausgeführt, die neurovegetative Dystonie des Klägers hänge ursächlich mit der in der Kriegsgefangenschaft durchgemachten Hungerdystrophie zusammen, die jetzt auch zu psychischen Störungen in Gestalt einer leichten Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung geführt habe. Die MdE betrage für alle Schädigungsfolgen 40 v.H.
Durch Urteil vom 20. November 1969 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat sich der Auffassung des Dr. G und, soweit es sich um das neurologische Fachgebiet handelt, der von der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. B in der versorgungsärztlichen Stellungnahme zum Gutachten des Dr. B vertretenen Auffassung angeschlossen, Anhaltspunkte für einen cerebralen Dystrophieschaden des Klägers seien nicht gegeben.
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat einen Befundbericht der Psychologin Dr. N vom 12. Oktober 1970 und ein Gutachten des Facharztes für innere Krankheiten Dr. R vom 27. April 1971 eingeholt. Dieser hat sich im Ergebnis der Beurteilung des Dr. G angeschlossen, einen Zusammenhang der beim Kläger bestehenden vegetativen Symptomatik mit Erkrankungen des Wehrdienstes und der Kriegsgefangenschaft medizinisch für ausgeschlossen erachtet, aber zur endgültigen diesbezüglichen Beurteilung und insbesondere im Hinblick auf die bestehende Wesensänderung beim Kläger eine abschließende psychiatrische Begutachtung dringend empfohlen.
Durch Urteil vom 18. Oktober 1973 hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen und zur Begründung auf die von Dr. G und Dr. R vertretene Beurteilung verwiesen. Eine nervenfachärztliche Begutachtung des Klägers wegen psychischer Störungen hat es nicht für sachdienlich erachtet, weil der Kläger eine Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung als Schädigungsfolgen nicht geltend gemacht habe und in der Beurteilung der vegetativen Dystonie, die das neurologische und innerfachärztliche Gebiet gleichermaßen berühre, das Gutachten des Dr. R im Vergleich zu dem des Dr. B die größere Überzeugungskraft besitze.
Der Kläger hat gegen das ihm am 19. November 1973 zugestellte Urteil am 17. Dezember 1973 Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 21. Februar 1974 am 19. Februar 1974 begründet. Er rügt Verletzungen der §§ 103, 109 und 128 SGG. Unter der vegetativen Dystonie, deren Anerkennung er ausdrücklich begehrt habe, habe er auch die von Dr. B als Versorgungsleiden bezeichneten "zentral-vegetativen Regulationsstörungen" sowie "leichte Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung nach Dystrophie" verstanden wissen wollen. Das sei schon in seinem Schriftsatz vom 12. Januar 1969 zum Ausdruck gekommen und könne nach seinem Schriftsatz vom 20. Februar 1970 nicht mehr zweifelhaft gewesen sein.
Deshalb und angesichts der dringenden Empfehlung des Dr. R habe das LSG seinem Antrag im Schriftsatz vom 18. Juli 1971 stattgeben und ein Gutachten des Neurologen Dr. D einholen müssen. Da das LSG das nicht getan und gleichwohl über den schwierigen medizinischen Fragenkomplex ohne hinreichende Sachkunde entschieden habe, habe es die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Endlich habe es auch versäumt, den Sachverständigen des gerichtlichen Verfahrens diejenigen medizinischen Unterlagen zur Auswertung und ggf. zur Ergänzung ihrer Beurteilung zuzuleiten, die sich in dem vom Beklagten erst im Januar 1972 vorgelegten Verschlußumschlag befunden hätten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 18. Oktober 1973 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zu verwerfen.
Er meint, das LSG habe davon ausgehen dürfen, daß die Anerkennung einer Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung nicht mehr streitbefangen und somit auch nicht mehr klärungsbedürftig gewesen sei.
Entscheidungsgründe
Die gemäß §§ 164, 166 SGG form- und fristgerecht eingelegte Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft und damit zulässig, weil der Kläger einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG gerügt hat, der vorliegt.
Der Kläger beanstandet an dem Verfahren des LSG in erster Linie dessen Auffassung, er habe die Anerkennung einer Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung als Schädigungsfolgen nicht ausdrücklich geltend gemacht und daher nicht begehrt. Sinngemäß will der Kläger damit die Verletzung des § 123 Abs. 1 SGG rügen. Er hat diese Verfahrensnorm zwar nicht ausdrücklich als verletzt bezeichnet; nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (vgl. BSGE 1, 227) genügt es jedoch, wenn aus dem Vortrag des Revisionsklägers ersichtlich ist, welche verfahrensrechtliche Norm er als verletzt ansieht. Das kann hier nur die Bestimmung des § 123 Abs. 1 SGG sein. Denn die Auffassung des LSG, eine Hirnleistungsschwäche und eine Wesensänderung würden vom Kläger als Schädigungsfolgen nicht geltend gemacht, ist der Ausgangspunkt für das weitere prozessuale Verhalten des LSG, nämlich für den Verzicht auf die von Dr. R dringend empfohlene abschließende psychiatrische Begutachtung des Klägers.
Nach § 123 Abs. 1 SGG entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. In seiner Stellungnahme vom 12. November 1969 zu dem von Dr. B erstatteten Gutachten hat der Kläger unter der Überschrift "vegetative Dystonie" deutlich zum Ausdruck gebracht, daß er sich die medizinische Beurteilung durch Dr. B zu eigen macht und seinen Versorgungsanspruch insbesondere auf diese Beurteilung stützt. Angesichts der deutlichen Unterscheidung, die Dr. B in der Zusammenfassung seines Gutachtens zwischen der neuro-vegetativen Dystonie und der auf seinem Fachgebiet hinzugekommenen psychischen Störungen (leichte Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung) macht, hätte zwar für den Kläger Anlaß bestanden, in der mündlichen Verhandlung beim SG oder bereits zuvor ausdrücklich die Anerkennung dieser psychischen Störungen zu begehren. Offenbar hat das SG aus der Erklärung des Klägers, weitere Anträge nicht zu stellen, entnommen, er wolle die leichte Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung nicht als Schädigungsfolgen anerkannt wissen (vgl. dazu S. 8 des SG-Urteils). Daß diese Auffassung nicht zutraf und unter der Bezeichnung "vegetative Dystonie" vom Kläger auch die von Dr. B diagnostizierte "leichte Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung" verstanden wurde, mußte aber der Berufungsbegründung des Klägervertreters vom 20. Februar 1970 entnommen werden. Hier waren zwar wiederum im Antrag nicht ausdrücklich die leichte Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung als Schädigungsfolgen aufgeführt. Das Vorbringen, Dr. B sei zu der Auffassung gekommen, daß eine zentral-vegetative Regulierungsstörung bzw. die "leichte Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung nach Dystrophie" als Schädigungsfolgen anzuerkennen seien, ließ aber doch hinreichend deutlich erkennen, daß der Kläger im Berufungsverfahren jedenfalls nicht auf die Berücksichtigung dieser Gesundheitsstörungen bei Bemessung seiner schädigungsbedingten MdE verzichten wollte. Das LSG durfte sich daher gemäß § 123 Abs. 1 SGG nicht an die Fassung des vom Kläger gestellten Antrages gebunden sehen. Es mußte vielmehr über alle vom Kläger erhobenen Ansprüche, also zumindest auch über die Berücksichtigung der leichten Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung bei Bemessung der schädigungsbedingten MdE entscheiden, wenn es das Klagebegehren erschöpfen wollte (vgl. BSG 11, 28). Da es dies nicht getan und auch nicht gemäß § 106 Abs. 1 SGG darauf hingewirkt hat, daß der mit dem Vorbringen des Klägers nicht voll übereinstimmende Antrag erläutert und sachdienlich ergänzt sowie die Zusammenhangsfrage neurologisch-psychiatrisch geklärt wurde, hat das LSG gegen die Vorschriften der §§ 123 Abs. 1, 103 und 106 Abs. 1 SGG verstoßen. Sein Urteil beruht auch auf diesen Gesetzesverstößen i.S. von § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn es die Berücksichtigung der leichten Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung bei Bemessung der schädigungsbedingten MdE für streitbefangen erachtet hätte.
Die Revision erweist sich somit im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz als begründet. Denn es fehlen die zu einer sachlichen Entscheidung über die Berücksichtigung psychischer Störungen (leichte Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung) bei Bemessung der schädigungsbedingten MdE erforderlichen Tatsachenfeststellungen. Auf die Prüfung weiterer vom Kläger gerügter Verfahrensmängel kam es somit für die Entscheidung des Senats nicht mehr an.
Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das LSG jedoch zu berücksichtigen haben, daß neben den psychischen Störungen, die allein in das Fachgebiet der Neurologie und Psychiatrie fallen, auch die vegetative Dystonie jedenfalls insoweit durch dieses Fachgebiet beurteilt werden muß, als sie nicht von der dystrophischen Schädigung innerer Organe, sondern von der dystrophischen Schädigung des zentral-vegetativen Nervensystems ausgehen kann. Insoweit wird mit einer abschließenden innerfachärztlichen Begutachtung nur dann auszukommen sein, wenn darin die Ergebnisse einer neurologischen Begutachtung angemessen berücksichtigt worden sind. Endlich wird das LSG noch zu berücksichtigen haben, daß die im gerichtlichen Verfahren eingeholten Gutachten nur dann das Gesamtergebnis des Verfahrens auswerten und eine tragfähige Entscheidungsgrundlage darstellen können, wenn den Sachverständigen auch diejenigen Befunde vollständig zugänglich gemacht worden sind, die der Beurteilung im Verwaltungsverfahren zugrunde gelegen haben. Bestehen Zweifel daran, daß dies der Fall gewesen ist (vgl. hierzu das Schreiben des Landesversorgungsamts Berlin vom 21. Januar 1972), so muß zur Sicherung einer das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigenden Beweiswürdigung bei den Sachverständigen vor Verwertung ihrer Gutachten im Urteil nachgefragt werden, ob sie die betreffenden Befunde mit zum Gegenstand ihrer Beurteilung gemacht haben bzw. inwieweit sich ihre Beurteilung unter Berücksichtigung dieser Befunde ändert.
Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen