Entscheidungsstichwort (Thema)

Fiktive Beitragszeit. Hachscharah-Ausbildung. versicherungspflichtige Beschäftigung

 

Orientierungssatz

Die Zeit einer Ausbildung im Rahmen der Hachscharah im Landwerk Ahrensdorf, für die die Eltern des Auszubildenden die Kosten einschließlich des wöchentlichen Taschengeldes getragen haben, steht keiner rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung gleich und ist somit keine fiktive Beitragszeit iS des WGSVG § 14 Abs 2.

 

Normenkette

WGSVG § 14 Abs 2 Fassung: 1970-12-22

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 27.02.1981; Aktenzeichen L 3 J 145/80)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 08.02.1980; Aktenzeichen S 14 J 104/75)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Zeit vom 31. Dezember 1936 bis zum 4. August 1938 nach § 14 Abs 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) als Beitragszeit anzuerkennen, die Zeit vom 22. September 1938 bis zum 31. Dezember 1949 als Ersatzzeit vorzumerken und die Nachentrichtung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung nach § 10 WGSVG zuzulassen hat.

Der im Jahre 1920 geborene Kläger ist jüdischer Abstammung und Verfolgter iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Nach der Schulentlassung und vorübergehender unbezahlter Tätigkeit wurde er in der Zeit vom 31. Dezember 1936 bis zum 4. August 1938 im Rahmen der sogenannten Hachscharah im Landwerk Ahrensdorf auf die vorgesehene Auswanderung nach Palästina vorbereitet. Der Kläger hält sich seit dem 25. September 1938 in Schweden auf; er ist seit 1949 schwedischer Staatsbürger. Die Beklagte lehnte den im Dezember 1972 gestellten Antrag des Klägers auf Wiederherstellung des Beitragskontos, Anrechnung von Ersatzzeiten und Genehmigung einer Beitragsnachentrichtung mit Bescheid vom 22. Juni 1973 ab.

Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat in seinem Urteil vom 27. Februar 1981 zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet. Die beitragslose Zeit während der Hachscharah gelte auch nicht nach § 14 Abs 2 WGSVG als Versicherungszeit. Der Kläger habe während dieser Zeit nicht in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden. Zwar habe er neben freier Kost und Unterkunft wöchentlich drei Reichsmark und damit mehr als den damaligen Ortslohn erhalten. Der Kläger sei jedoch iS des § 1226 der Reichsversicherungsordnung (RVO) alter Fassung (aF) nicht gegen Entgelt beschäftigt gewesen. Bei der Hachscharah habe es sich nicht um ein echtes Lehrverhältnis, sondern um ein Ausbildungsverhältnis eigener Art gehandelt, das mit der herkömmlichen und vorgeschriebenen Berufsausbildung deutscher Lehrlinge nicht vergleichbar gewesen sei. In den Anfangsjahren der landwirtschaftlichen Hachscharah, wozu auch die Zeit von 1936 bis 1938 gehört habe, sei keine Arbeit von wirtschaftlichem Wert geleistet worden. Die Zahlung des Taschengeldes von drei Reichsmark neben freier Kost und Unterkunft sei dementsprechend kein Entgelt für geleistete Arbeit gewesen. Die Ausbildung für die jüdischen Jugendlichen auf den landwirtschaftlichen Gütern sei grundsätzlich kostenpflichtig gewesen. Grundlage der Gewährung von freier Kost und Unterkunft neben einem geringfügigen Taschengeld sei grundsätzlich die Rechtsbeziehung zwischen dem Träger des Wohnheims und den kostenpflichtigen Eltern gewesen, wobei bei mangelnder finanzieller Leistungsfähigkeit deren Leistungen durch Zuschüsse der Reichsvereinigung der Juden ersetzt worden seien. Die Leistungen an den Auszubildenden seien daher nicht anders zu beurteilen als die Gewährung eines Stipendiums durch eine private, kirchliche oder öffentliche Studienstiftung. Auch in der damaligen Rechtsübung sei die Ausbildung in der Hachscharah nicht als versicherungspflichtige Beschäftigung angesehen worden, so daß sie auch der Annahme von Arbeitslosigkeit nicht entgegengestanden habe. Mangels einer tatsächlichen oder fiktiven Versicherungszeit könne auch die Zeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes nicht nach § 1251 RVO als Ersatzzeit berücksichtigt werden. Da der Kläger mangels einer Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten nicht nach § 9 WGSVG zur Weiterversicherung berechtigt sei, könne er auch nicht nach § 10 WGSVG Beiträge nachentrichten.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, die Ausbildung im Rahmen der Hachscharah sei einem Lehrverhältnis gleichzusetzen. Bei dem Betrag von drei Reichsmark wöchentlich neben freier Unterkunft und Verpflegung habe es sich um ein echtes Entgelt gehandelt. Obwohl jedes Lehr- oder Ausbildungsverhältnis in erster Linie vom Ausbildungszweck bestimmt sei, schließe dies die Zahlung von Entgelt für geleistete Arbeit nicht aus. Die Nichtabführung von Beiträgen sei auf Veranlassung der GESTAPO aus verfolgungsbedingten Gründen unterblieben. Allerdings enthalte das angefochtene Urteil insoweit keine ausdrücklichen Feststellungen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils,

des Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 8. Februar

1980 und des Bescheides der Beklagten vom 22. Juni 1973

in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 10. Juni 1975

zu verurteilen, dem Kläger

a) die Zeit vom 31. Dezember 1936 bis zum 4. August 1938

als Beitragszeit nach § 14 Abs 2 WGSVG anzurechnen,

b) die Zeit vom 22. September 1938 bis zum 31. Dezember 1949

als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO vorzumerken und

c) die Nachentrichtung von Beiträgen nach

§ 10 WGSVG zu gestatten;

hilfsweise, die Sache unter Aufhebung des angefochtenen

Urteils zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung

an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Das LSG hat mit Recht die Berufung des Klägers zurückgewiesen und damit das die Klage abweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) bestätigt. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Vormerkung einer Beitragszeit oder einer Ersatzzeit und auch nicht auf Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen.

Nach den unangegriffenen und damit bindenden Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts sind für den Kläger zu keiner Zeit Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden. Eine Beitragsleistung wird auch nicht nach § 14 Abs 2 WGSVG fingiert.

Es spricht vieles dafür, § 14 Abs 2 WGSVG - entgegen der Ansicht der Beklagten - auch auf solche Verfolgte anzuwenden, für die kein Beitrag entrichtet worden ist, die also zu keiner Zeit der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung angehört haben (vgl BSG SozR 5070 § 14 Nr 9 mwN). Abgesehen davon, daß § 1 WGSVG keine Beschränkung des Personenkreises enthält, trifft die Überschrift der §§ 11 ff "Berechnung der Renten" auch auf solche Verfolgte zu, die lediglich aus fiktiven Beitragszeiten des § 14 Abs 2 WGSVG einen Rentenanspruch haben. Das Erfordernis einer Vorversicherungszeit würde solche Verfolgte benachteiligen, denen trotz Bestehens eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses aus verfolgungsbedingten Gründen der Eintritt in die Versicherung verwehrt wurde. Diese Frage braucht aber nicht vertieft und abschließend entschieden zu werden, denn die Tatbestandsmerkmale des § 14 Abs 2 WGSVG liegen hier für den allein geltend gemachten Zeitraum der Hachscharah-Ausbildung nicht vor. Voraussetzung für eine Beitragsfiktion nach dieser Vorschrift ist die Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit. Gerade daran fehlt es unter Zugrundelegung der für den erkennenden Senat gem § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts.

Ob die Ausbildung im Rahmen der Hachscharah einem Lehrverhältnis iS des § 1226 Abs 1 Nr 4 RVO aF gleichsteht, kann dabei dahingestellt bleiben, weil das Bestehen eines Lehr- oder gleichstehenden Ausbildungsverhältnisses für sich allein die Versicherungspflicht nicht begründet hätte. Voraussetzung für die Versicherungspflicht war nach § 1226 Abs 2 RVO aF auch für Lehrlinge, daß sie gegen Entgelt beschäftigt wurden. Daran mangelt es aber im vorliegenden Fall. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Entgeltcharakter einer Leistung des Arbeitgebers schon dann zu verneinen ist, wenn der Lehrling keine Arbeit von wirtschaftlichem Wert erbringt (vgl hierzu BSG SozR Nr 2 zu § 571 RVO und Nr 3 zu § 587 RVO). Nach den Tatsachenfeststellungen des LSG, die der Kläger nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen hat, war die Ausbildung im Rahmen der Hachscharah grundsätzlich kostenpflichtig, wobei die von den Eltern des Auszubildenden aufzubringenden Kosten auch das wöchentliche Taschengeld von drei Reichsmark umfaßten. Es hat sich also nicht um Zahlungen des Arbeitgebers oder Ausbildungsträgers gehandelt, sondern um Leistungen der Eltern mit Unterhaltscharakter, die lediglich von der Ausbildungsstelle ausgezahlt wurden. Bei solchen Jugendlichen, deren Eltern zur Aufbringung der Ausbildungskosten nicht in der Lage waren, wurden die Mittel einschließlich des Taschengeldes von einer anderen Stelle aufgebracht, ohne daß sich dadurch etwas an dem fürsorgerischen Charakter der Leistungen änderte. Das schließt aber die Annahme aus, es habe sich um ein der Lehrlingsvergütung entsprechendes Entgelt gehandelt (ebenso bereits Urteile des BSG vom 14. Mai 1981 - 4 RJ 15/80 und 4 RJ 149/80 -).

Damit weicht der erkennende Senat nicht von dem Urteil des 1. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. März 1979 (SozR 5070 § 14 Nr 8) ab. Zwar handelte es sich in dem vom 1. Senat entschiedenen Fall ebenfalls um einen verfolgten Jugendlichen, der im Landwerk Ahrensdorf im Rahmen der Hachscharah ausgebildet wurde. Dem Urteil des 1. Senats lagen aber andere Tatsachenfeststellungen zugrunde, als das LSG sie im vorliegenden Fall - für den erkennenden Senat bindend - getroffen hat. Abgesehen davon, daß es sich in beiden Fällen um unterschiedliche Zeiträume handelt, fehlte in dem vom 1. Senat entschiedenen Fall die hier vorliegende Tatsachenfeststellung, daß die Zahlung des wöchentlichen Taschengeldes von drei Reichsmark fürsorgerischen Charakter hatte und auf Mitteln beruhte, die von der Reichsvereinigung der Juden anstelle der nicht leistungsfähigen und grundsätzlich kostenpflichtigen Eltern aufgebracht wurden.

Es kann dahingestellt bleiben, ob es sozialpolitisch wünschenswert erscheint, auch denjenigen Verfolgten eine fiktive Beitragszeit anzurechnen, die wegen des Verfolgungstatbestandes kein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis eingehen konnten oder kein Entgelt erhielten, obwohl sie in einem Beschäftigungsverhältnis standen. Der Gesetzgeber hat sich bisher jedenfalls nicht dazu entschlossen, solche Verfolgungstatbestände durch eine fiktive Beitragszeit zu entschädigen. Darin liegt weder eine Regelungslücke noch ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes, denn dem Gesetzgeber steht es frei, ob und in welcher Weise er solche verfolgungsbedingten Nachteile im Rahmen einer Wiedergutmachung in der Sozialversicherung ausgleichen will (vgl Urteil des 5. Senats des BSG vom 28. November 1980 - 5 RJ 76/79 -).

Hat aber weder vor noch nach den Ersatzzeittatbeständen des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO eine Versicherung in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung bestanden, so kann nach § 1251 Abs 2 RVO eine Ersatzzeit nicht angerechnet werden.

Aus den gleichen Gründen scheidet eine Berechtigung zur Nachentrichtung von Beiträgen aus. Da der Kläger nicht die erforderliche Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten in der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt hat, ist er nach § 9 WGSVG nicht zur Weiterversicherung und deshalb nach § 10 WGSVG auch nicht zur Nachentrichtung von Beiträgen berechtigt.

Der Senat hat die danach unbegründete Revision des Klägers zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659178

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