Entscheidungsstichwort (Thema)

Hachscharah. fiktive Beitragszeit. versicherungspflichtige Beschäftigung. Berufsausbildung im Rahmen der Hachscharah. keine Beitragszeit

 

Orientierungssatz

1. Die Zeit der Berufsausbildung im Rahmen Hachscharah in einem Heim der Israelitischen Jugendhilfe gilt nicht nach § 14 Abs 2 WGSVG als Beitragszeit.

2. Selbst wenn man davon ausgeht, daß die Ausbildung im Rahmen der Hachscharah einem Lehrverhältnis und damit einem Beschäftigungsverhältnis gleichsteht, so hat doch Versicherungspflicht nicht bestanden. Nach § 1226 Abs 2 aF war für Lehrlinge Voraussetzung der Versicherung, daß sie gegen Entgelt beschäftigt wurden.

Mangels einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit wird eine Beitragszeit nicht nach § 14 Abs 2 WGSVG fingiert (vgl BSG 1979-12-20 4 RJ 111/76 = SozR 5070 § 14 Nr 10).

 

Normenkette

WGSVG § 14 Abs 2 Fassung: 1970-12-22; RVO § 1251 Fassung: 1957-02-23, § 1226 Fassung: 1924-12-15; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 29.09.1978; Aktenzeichen L 3 J 75/78)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 01.02.1978; Aktenzeichen S 8 J 27/77)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Zeit vom 1. Mai 1938 bis zum 27. August 1939 als Beitragszeit und die anschließende Zeit bis zum 31. Dezember 1949 als Ersatzzeit zu berücksichtigen ist.

Die am 2. August 1923 geborene Klägerin ist Verfolgte iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Nach Beendigung der Grund- und Hauptschule war sie in der Zeit vom 1. Mai 1938 bis zum 20. Februar 1939 im Rahmen einer sogenannten Hachscharah zur Erziehung und Ausbildung mit dem Ziel der Auswanderung nach Palästina in einem Heim der Israelitischen Jugendhilfe untergebracht. Daneben besuchte sie im ersten Halbjahr des Schuljahres 1938/1939 eine Fortbildungsschule. Am 22. August 1939 wanderte sie aus Verfolgungsgründen in die USA aus, wo sie auch heute noch wohnt.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 14. März 1975 den Antrag der Klägerin vom 24. Oktober 1973 ab, die Zeit vom 1. Mai 1938 bis zum 27. August 1939 als Beitragszeit und die anschließende Zeit bis zum 31. Dezember 1949 als Ersatzzeit zu berücksichtigen. Den Widerspruch der Klägerin, mit dem diese außerdem die Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen begehrt hatte, gab die Beklagte mit Zustimmung der Klägerin als Klage an das Sozialgericht (SG) ab.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 1. Februar 1978 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 29. September 1978 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Versicherungszeit mit Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung sei weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht. Insbesondere seien während der Ausbildungszeit im Heim der israelitischen Jugendhilfe keine Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden. Diese Zeit gelte auch nicht nach § 14 Abs 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) als fiktive Beitragszeit, denn die Klägerin habe während dieser Zeit keine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt. Es habe sich um einen echten Schulbesuch gehandelt, für den ihr Vater Schulgeld habe zahlen müssen. Die Hachscharah habe die Erziehung und Ausbildung bis zur Berufsreife mit dem Ziel der Auswanderung nach Palästina verfolgt, nicht jedoch eine Leistung von Arbeit gegen Lohn zum Inhalt gehabt. Da eine Versicherung nicht bestanden habe, komme nach § 1251 Abs 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auch die Anerkennung einer Ersatzzeit nicht in Betracht. Über den Antrag der Klägerin auf Beitragsnachentrichtung gemäß § 10a Abs 1 WGSVG bzw Art 2 § 51a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) könne nicht entschieden werden. Insoweit handele es sich um eine Klageänderung, auf die sich die Beklagte nicht eingelassen habe und die auch nicht als sachdienlich anzusehen sei. Die Klägerin müsse insoweit zunächst einen Bescheid der Beklagten abwarten.

Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, bei der Ausbildung und Beschäftigung jugendlicher Juden vor der Auswanderung aus Deutschland in Heimen der Israelitischen Jugendhilfe habe es sich um eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung iS des § 14 Abs 2 WGSVG gehandelt. Diese Zeiten seien daher als fiktive Beitragszeiten zu werten. Damit seien auch die Voraussetzungen für die Anerkennung der nachfolgenden Zeit als Ersatzzeit erfüllt. Die Voraussetzungen für die Nachentrichtung von Beiträgen lägen ebenfalls vor, wenn die Zeit vor der Auswanderung als Beitragszeit und die nachfolgende Verfolgungszeit als Ersatzzeit anerkannt würden. Im übrigen sei auch das Sozialversicherungsabkommen zwischen Deutschland und den USA für die Frage der Nachentrichtung von Beiträgen von Bedeutung.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils nach den

Klageanträgen erster und zweiter Instanz zu erkennen.

In der Berufungsinstanz hatte die Klägerin sinngemäß beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts abzuändern und die

Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 14. März 1975

zu verurteilen, eine Beitragszeit vom 1. Mai 1938 bis

zum 27. August 1979 und eine Ersatzzeit vom 28. August 1939

bis zum 31. Dezember 1939 anzuerkennen und der Klägerin

die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10a WGSVG zu

gestatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, das WGSVG sei auf solche Verfolgte nicht anzuwenden, die zu keiner Zeit der gesetzlichen Rentenversicherung angehört haben. Das ergebe sich insbesondere auch daraus, daß die §§ 11 ff nach der Überschrift lediglich die Berechnung der Renten beträfen. Im übrigen seien aber auch die Tatbestandsmerkmale des § 14 Abs 2 WGSVG nicht erfüllt, denn die Klägerin habe nach den unangegriffenen Tatsachenfeststellungen des LSG keine entgeltliche Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt, so daß sie nach § 1226 Abs 2 RVO aF nicht versicherungspflichtig gewesen sei. Eine Ersatzzeit könne nach § 1251 Abs 2 RVO wegen Fehlens einer Vorversicherungszeit oder einer an den Ersatzzeittatbestand anschließenden Pflichtversicherung nicht angerechnet werden.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das LSG hat mit Recht durch die Zurückweisung der Berufung das die Klage abweisende Urteil des SG bestätigt. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Vormerkung der streitigen Zeit als Beitrags- oder Ersatzzeit.

Nach den nicht angegriffenen Tatsachenfeststellungen des LSG, an die der erkennende Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden ist, sind für die Klägerin zu keiner Zeit Beiträge zu einem Zweig der deutschen Rentenversicherung entrichtet worden. Die Zeit der Berufsausbildung im Rahmen Hachscharah in einem Heim der Israelitischen Jugendhilfe gilt auch nicht nach § 14 Abs 2 WGSVG als Beitragszeit. Es spricht zwar vieles dafür, daß diese Vorschrift - entgegen der Ansicht der Beklagten - auch auf solche Verfolgte anzuwenden ist, für die zu keiner Zeit ein Beitrag zur deutschen Rentenversicherung entrichtet wurde (vgl BSG SozR 5070 § 14 Nr 9 mwN). Abgesehen davon, daß § 1 WGSVG keine Beschränkung des Personenkreises enthält, trifft die Überschrift der §§ 11 ff "Berechnung der Renten" auch auf solche Verfolgte zu, die lediglich aus fiktiven Beitragszeiten des § 14 Abs 2 WGSVG einen Rentenanspruch haben. Diese Frage braucht jedoch nicht vertieft und abschließend entschieden zu werden, denn die Tatbestandsmerkmale des § 14 Abs 2 WGSVG liegen nicht vor.

Nach dieser Vorschrift wird die Entrichtung von Beiträgen zwar für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit fingiert, für die aus Verfolgungsgründen die Beitragsleistung unterblieben ist. Voraussetzung für diese Fiktion ist jedoch die Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit. Daran fehlt es nach den Tatsachenfeststellungen des LSG im vorliegenden Fall.

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts dahin zu werten sind, daß es sich um eine reine Schulausbildung, dh um das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler und nicht um ein einem Lehrverhältnis entsprechendes Ausbildungsverhältnis (Beschäftigungsverhältnis) gehandelt hat (vgl hierzu BSG SozR 5070 § 14 Nr 8). Selbst wenn man zugunsten der Klägerin davon ausgeht, daß die Ausbildung im Rahmen der Hachscharah einem Lehrverhältnis und damit einem Beschäftigungsverhältnis gleichsteht, so hat doch Versicherungspflicht nicht bestanden. Nach § 1226 Abs 2 RVO in der damals gültig gewesenen Fassung (aF) war auch für Lehrlinge Voraussetzung der Versicherung, daß sie gegen Entgelt beschäftigt wurden. Nach den mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen Tatsachenfeststellungen des LSG hat die Klägerin aber keinerlei Entgelt erhalten, so daß sie schon deshalb nicht der Versicherungspflicht unterlag. Mangels einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit wird eine Beitragszeit nicht nach § 14 Abs 2 WGSVG fingiert (vgl BSG SozR 5070 § 14 Nrn 1, 8, 9 und Urteil vom 27. September 1979 - 4 RJ 77/78 - sowie Urteil vom 20. Dezember 1979 - 4 RJ 111/76 -). Dem § 14 Abs 2 WGSVG liegt der Gedanke zugrunde, daß eine Beitragsleistung nicht aus Verfolgungsgründen unterblieben ist, wenn Versicherungspflicht ohnehin nicht bestanden hat.

Ob es sozialpolitisch wünschenswert erscheint, auch denjenigen Verfolgten eine fiktive Beitragszeit anzurechnen, die wegen des Verfolgungstatbestandes kein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis eingehen konnten oder kein Entgelt erhielten, obwohl sie in einem Beschäftigungsverhältnis standen, kann dahingestellt bleiben. Der Gesetzgeber hat sich jedenfalls nicht dazu entschlossen, solche Verfolgungstatbestände durch eine fiktive Beitragszeit zu entschädigen.

Darin liegt weder eine Regelungslücke noch ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes, denn dem Gesetzgeber steht es frei, ob und in welcher Weise er solche verfolgungsbedingten Nachteile ausgleichen will.

Hat aber weder vor noch nach den Ersatzzeittatbeständen der § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO eine Versicherung in der deutschen Rentenversicherung bestanden, so kann nach § 1251 Abs 2 RVO eine Ersatzzeit nicht angerechnet werden.

Die Annahme des Berufungsgerichts, in dem auf Beitragsnachentrichtung gerichteten Antrag der Klägerin liege eine Klageänderung, ist unrichtig. Die Klägerin hat schon mit dem als Klage geltenden Widerspruchsschreiben das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen gemäß § 10a WGSVG geltend gemacht und während des gesamten Verfahrens weiterverfolgt. Richtig ist allerdings, daß das Berufungsgericht über diesen Antrag nicht sachlich entscheiden konnte, weil ein Bescheid der Beklagten noch nicht vorlag und die Klage insoweit also unzulässig ist. Es kann dahingestellt bleiben, ob es sich insoweit um eine Verpflichtungs- oder um eine Feststellungsklage handelt. In jedem Falle kann eine Klage erst erhoben werden, nachdem die Beklagte über den Antrag der Klägerin auf Nachentrichtung von Beiträgen durch Verwaltungsakt entschieden hat.

Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Klägerin zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658168

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