Entscheidungsstichwort (Thema)

Beitragsnachentrichtung nach § 10 WGSVG. Verzicht. Verwirkung. Verwaltungspraxis

 

Orientierungssatz

1. Eine Beitragsnachentrichtung nach § 10 WGSVG ist auch nach bindender Bewilligung des Altersruhegeldes noch für Zeiten vor Erreichen der Altersgrenze für das Altersruhegeld zulässig. § 10 Abs 2a AVG (= § 1233 Abs 2a RVO) steht dem nicht entgegen (vgl BSG 1.2.1979 12 RK 31/77 = SozR 5070 § 10 Nr 8).

2. Zum Verzicht und zur Verwirkung eines Antragsrechts auf Beitragsnachentrichtung und zur Verwaltungspraxis des Rentenversicherungsträgers (vgl BSG 23.9.1980 12 RK 27/79 = SozR 5070 § 10 Nr 14).

 

Normenkette

WGSVG § 10 Fassung: 1970-12-22; AVG § 10 Abs 2a S 2 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1233 Abs 2a S 2 Fassung: 1972-10-16

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 22.01.1985; Aktenzeichen L 12 An 24/84)

SG Berlin (Entscheidung vom 23.03.1984; Aktenzeichen S 16 An 413/83)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, in welchem Umfang die Klägerin berechtigt ist, Beiträge nach § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) nachzuentrichten.

Auf den Antrag vom Dezember 1972 gestattete die Beklagte der am 19. März 1916 geborenen und in Israel wohnenden Klägerin mit Bescheid vom 10. Oktober 1973, Beiträge nach § 10 WGSVG für Januar 1933 und für die Zeit vom 1. Januar 1950 bis 31. Januar 1971 nachzuentrichten. Schon zuvor hatte die Klägerin am 13. Juni 1973 einen Betrag von 255,-- DM bei der Beklagten eingezahlt und damit den Monat Juli 1954 mit einem Beitrag der Klasse 700 (119,-- DM) und den Monat Januar 1959 mit einem Beitrag der Klasse 800 (136,-- DM) belegt.

Am 11. Februar 1976 beantragte die Klägerin vorgezogenes Altersruhegeld. In dem am 14. Juli 1976 übersandten Antragsformular beantwortete sie die Frage "Beabsichtigt der Versicherte (freiwillige) Beitrage nachzuentrichten?" mit "nein" und verwies darauf, daß sie bereits einen Nachentrichtungsantrag gestellt und für Juli 1954 und Januar 1959 freiwillige Beiträge entrichtet habe. Mit Bescheid vom 10. August 1976 bewilligte die Beklagte das Altersruhegeld ab 1. April 1976.

Am 9. November 1981 beantragte die Klägerin die Genehmigung zur weiteren Nachentrichtung von 11 Beiträgen der Klasse 800 zu je 148,-- DM. Dabei bezog sie sich auf den Zulassungsbescheid vom 10. Oktober 1973. Die Beklagte lehnte dies mit der Begründung ab, mit der im Rentenantragsformular eindeutig mit "nein" beantworteten Frage nach einer etwa beabsichtigten (freiwilligen) Beitragsnachentrichtung habe die Klägerin ein weiteres Nachentrichtungsrecht "verbraucht" (Bescheid vom 24. November 1981; Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 1982). Auf die Klage hob das Sozialgericht (SG) Berlin diese Bescheide auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin die beantragte Nachentrichtung zu gestatten (Urteil vom 23. März 1984). Die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben (Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 22. Januar 1985). Das LSG hat angenommen, mit dem Bescheid vom 10. Oktober 1973 sei der Klägerin das Nachentrichtungsrecht unbefristet und uneingeschränkt zuerkannt worden. Der hierdurch geschaffene Vertrauensschutz wirke ungeachtet des Umstandes weiter, daß die Klägerin bei erneuter Antragstellung im November 1981 bereits Altersruhegeldempfängerin und ihr Versicherungsleben eigentlich abgeschlossen gewesen sei. Die Klägerin habe bei Rentenantragstellung auf die - spätere und nochmalige - Ausübung ihres umfassenden Nachentrichtungsrechts nicht verzichtet. Auch habe sie dieses Recht nicht verwirkt. Die Beklagte habe nicht darauf vertrauen dürfen, die Klägerin werde von ihrem Recht keinen Gebrauch mehr machen. Die Klägerin sei nämlich alsbald nach Kenntnisnahme von der Klärung der Rechtslage durch das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. September 1980 - 12 RK 27/79 - an die Beklagte herangetreten. Diese habe es aber bis dahin in der Hand gehabt, von der Klägerin eine abschließende Erklärung zu fordern und durch Fristsetzung die weitere Beitragsnachentrichtung zu begrenzen.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision macht die Beklagte geltend, mit der Verneinung einer beabsichtigten Nachentrichtung freiwilliger Beiträge im Zuge des Rentenfeststellungsverfahrens sei das Nachentrichtungsverfahren abgeschlossen worden. Sie habe davon ausgehen müssen, daß eine Nachentrichtung nicht mehr begehrt werde. Bei der Entscheidung über den Rentenantrag habe bei ihr auch ein Bedürfnis bestanden, Klarheit über die Nachentrichtung zu bekommen. Wegen des widersprüchlichen Verhaltens der Klägerin könne diese von dem im Zulassungsbescheid vom 10. Oktober 1973 festgestellten Nachentrichtungsumfang keinen Gebrauch mehr machen. Außerdem sei es ihr nach dem bindenden Altersruhegeldbescheid vom 10. August 1976 ohnehin verwehrt, freiwillige Beiträge zu entrichten bzw im Rahmen des § 10 WGSVG nachzuentrichten. Die Rechtsprechung des BSG, nach der Nachentrichtungen gemäß § 10 WGSVG unabhängig von § 10 Abs 2a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) auch nach bindender Bewilligung des Altersruhegeldes zulässig seien, wirke sich seit dem Ablauf der Antragsfrist (31. Dezember 1975) nicht mehr aus.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, sie habe erst aufgrund der Entscheidung des BSG vom 23. September 1980 - 12 RK 27/79 - das Recht und die Möglichkeit gehabt, weitere Beiträge nach § 10 WGSVG nachzuentrichten. Hätte sie dies mit dem Rentenantrag beantragt, wäre sie von der Beklagten negativ beschieden worden. Die Beklagte könne ihr also ein widersprüchliches Verhalten nicht vorwerfen und ihr nicht entgegenhalten, sie hätte ihr Recht zur weiteren Nachentrichtung verwirkt. Der Verlust dieses Rechts könne auch durch eine einfache Erklärung nicht eingetreten sein, weil dem eine entsprechende Belehrung seitens der Beklagten nicht vorausgegangen sei. Durch den Zulassungsbescheid vom 10. Oktober 1973 sei der Klägerin ein zeitlich unbegrenztes Nachentrichtungsrecht eingeräumt worden. Die einschränkende Vorschrift des § 10 Abs 2a AVG gelte nicht für die Nachentrichtung nach dem WGSVG.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß die Klägerin berechtigt ist, die von ihr im November 1981 angebotenen 11 Beiträge für die Monate Februar bis Dezember 1959 nachzuentrichten. Dem steht weder die mit bindendem Bescheid vom 10. August 1976 erfolgte Bewilligung des Altersruhegeldes entgegen noch ist das Nachentrichtungsrecht durch Verzicht oder Verwirkung erloschen.

Das Recht, Beiträge nach § 10 WGSVG nachzuentrichten, ist nicht durch eine dem § 10 Abs 2a Satz 2 AVG entsprechende Vorschrift beschränkt. Nach dieser mit dem Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 (RRG) in das AVG eingefügten Vorschrift können nach bindender Bewilligung eines Altersruhegeldes Beiträge für Zeiten vor Beginn des Altersruhegeldes nicht mehr entrichtet werden. Da der Gesetzgeber eine solche Vorschrift nicht gleichzeitig auch in das WGSVG aufgenommen hat, hat der Senat eine entsprechende Anwendung des § 10 Abs 2a AVG auf das WGSVG verneint. Dabei hat er insbesondere das Ziel des WGSVG, die vom nationalsozialistischen Unrecht betroffenen Verfolgten möglichst umfassend zu entschädigen, berücksichtigt (Urteil vom 1. Februar 1979 - 12 RK 31/77 = SozR 5070 § 10 Nr 8; Urteil vom 23. September 1980 - 12 RK 27/79 = SozR 5070 § 10 Nr 14). In der letztgenannten Entscheidung hat der Senat aus der durch das 18. Rentenanpassungsgesetz (RAG) mit Wirkung vom 4. Mai 1975 eingeführten Antragsfrist und Teilzahlungsmöglichkeit (§ 10 Abs 1 Sätze 4 und 5 WGSVG) lediglich gefolgert, daß die Nachentrichtung nunmehr nicht mehr unbefristet erfolgen könne, die Beiträge vielmehr binnen angemessener Frist eingezahlt werden müßten. Ob eine Befristung bei einem ursprünglich unbefristeten Nachentrichtungsbescheid nachgeholt werden kann, ist dabei offen geblieben. Das kann auch hier dahingestellt bleiben. Der vor dem 4. Mai 1975 erteilte Bescheid vom 10. Oktober 1973 enthielt - der damaligen Gesetzeslage entsprechend - keine Befristung für die der Klägerin gestattete Nachentrichtung. Sie ist auch nach diesem Zeitpunkt von der Beklagten nicht nachgeholt worden. Demzufolge läßt sich die Weigerung der Beklagten, die von der Klägerin angebotenen weiteren Beiträge für die noch im zeitlichen Zulassungsrahmen, wenn auch vor dem Beginn des Altersruhegeldes liegenden Zeiten entgegenzunehmen, weder aus dem Zulassungsbescheid noch aus der Gesetzeslage rechtfertigen. Die Auffassung der Beklagten, die Anwendung des § 10 Abs 2a AVG im Rahmen des WGSVG sei nur bei Versicherungsfällen bis zum 31. Dezember 1975 ausgeschlossen, wird vom Senat nicht geteilt. Zwar scheint ein - die damalige Entscheidung nicht tragender - Klammerzusatz in dem Urteil vom 1. Februar 1979 (SozR 5070 § 10 Nr 8, letzter Absatz) für diese Auffassung zu sprechen. Sie läßt sich jedoch nicht stichhaltig begründen, denn die Ergänzung des § 10 Abs 1 WGSVG zum 4. Mai 1975 hatte lediglich die Möglichkeit eröffnet, auch für die Durchführung der Nachentrichtung eine angemessene Frist zu bestimmen, nicht aber die Grundlage dafür gegeben, § 10 Abs 2a AVG mit Wirkung ab 1. Januar 1976 entsprechend anzuwenden.

Zu Recht hat das LSG auch einen Verzicht der Klägerin auf eine weitere Beitragsnachentrichtung verneint. Wenn es in der verneinenden Beantwortung der Frage nach einer beabsichtigten Nachentrichtung freiwilliger Beiträge aus Anlaß des Rentenverfahrens keinen hinreichenden Beweis für einen Verzichtswillen der Klägerin auch für die Zukunft gesehen hat, dann ist es mit dieser Auffassung im Rahmen der ihm obliegenden freien Beweiswürdigung geblieben. Die Beklagte hat hiergegen mit ihrer Revision auch keine durchgreifenden Rügen erhoben.

Die Klägerin hat ihr weiteres Nachentrichtungsrecht aus dem Bescheid vom 10. Oktober 1973 entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht verwirkt. Eine Verwirkung tritt nicht allein durch einen längeren Zeitablauf ein, sondern setzt außerdem ein "illoyales" Verhalten des Versicherten voraus, durch das schutzwürdiges Vertrauen des Versicherungsträgers verletzt wird. Sie scheitert hier schon daran, daß die Beklagte durch das Verhalten der Klägerin gar nicht in eine Lage versetzt werden konnte, in der sie darauf vertrauen durfte, die Klägerin werde eine weitere Nachentrichtung nicht mehr begehren. Die Beklagte hätte nämlich einem solchen Begehren nach ihrer damaligen Verwaltungspraxis (vgl den Fall 12 RK 27/79) schon deshalb nicht entsprochen, weil sie wegen der Entrichtung von zwei Beiträgen im Jahre 1973 das Nachentrichtungsverfahren als abgeschlossen angesehen hätte; weitere Beiträge entgegenzunehmen, wäre sie auch vor Bewilligung des Altersruhegeldes nicht mehr bereit gewesen. Von dieser Praxis ist sie erst nach der Entscheidung des Senats vom 23. September 1980 abgerückt. Deshalb mußte sie damit rechnen, daß Versicherte nach Bekanntwerden dieses Urteils auf frühere Nachentrichtungsbescheide, die sie nicht voll ausgeschöpft hatten, zurückgreifen würden, wie dies die Klägerin dann auch ohne vorwerfbare Verzögerung getan hat.

Das Urteil des LSG ist sonach zu bestätigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662744

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