Leitsatz (amtlich)
Eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ist auch dann iS des § 9 WGSVG aus Verfolgungsgründen beendet worden, wenn der Versicherte Deutschland vor 1933 verlassen hatte und nach der Rückkehr durch Verfolgung an der Wiederaufnahme einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit gehindert wurde (Anschluß an und Fortführung von BSG 28.2.1984 12 RK 50/82 = SozR 5070 § 9 Nr 7).
Normenkette
WGSVG § 9 Fassung: 1970-12-22, § 10 Fassung: 1970-12-22
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 28.06.1983; Aktenzeichen L 2 An 67/81) |
SG Berlin (Entscheidung vom 12.08.1981; Aktenzeichen S 8 An 1896/80) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger berechtigt ist, Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung nach § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) nachzuentrichten.
Der am 28. Januar 1910 in Breslau geborene Kläger ist rassisch Verfolgter iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Er wanderte Ende 1936 verfolgungsbedingt von Berlin nach den USA aus, deren Staatsangehörigkeit er seit 1945 besitzt. Nach einer kaufmännischen Lehre bei einer Export- und Importfirma in Hamburg von Oktober 1928 bis März 1930 hatte er von April 1930 bis April 1931 als Lehrling bei einer Firma in Paris und sodann bis Juli 1936 als Angestellter bei einer Firma in Madrid gearbeitet. Wegen des spanischen Bürgerkrieges kehrte er zu seinen in Berlin ansässigen Eltern zurück. Die Beklagte berücksichtigte bei der Berechnung des mit Bescheid vom 19. Februar 1975 bewilligten Altersruhegeldes die Lehrzeit des Klägers in Hamburg als Beitragszeit sowie Ersatzzeiten vom 1. Juli 1936 bis 31. Dezember 1949.
Mit Bescheid vom 8. August 1980 und Widerspruchsbescheid vom 18. November 1980 lehnte die Beklagte die vom Kläger im Antrag vom 1. September 1975 geltend gemachte Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG mit der Begründung ab, daß keine versicherungspflichtige Beschäftigung aus Verfolgungsgründen unterbrochen bzw beendet worden sei. Dem Kläger sei es nach seiner Rückkehr aus dem Ausland nach der Machtergreifung Hitlers lediglich nicht möglich gewesen, eine Anstellung zu finden. Dieser Tatbestand lasse sich jedoch nicht unter § 10 WGSVG einordnen.
Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 12. August 1981; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 28. Juni 1983). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die versicherungspflichtige Tätigkeit des Klägers sei am 31. März 1930 beendet worden, ohne daß dafür Verfolgungsgründe maßgeblich gewesen seien. Bis zum Beginn der Verfolgung habe der Kläger auch keine Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nrn 1, 2 oder 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zurückgelegt. Die von der Beklagten anerkannte Arbeitslosigkeit vom 1. Juli 1936 bis 31. Dezember 1936 sei als Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 4 AVG, nämlich als eine durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufene Arbeitslosigkeit, angerechnet worden. Diese stehe aber einer durch Verfolgungsmaßnahmen unterbrochenen versicherungspflichtigen Tätigkeit nicht gleich. Ohne die Verfolgungsmaßnahmen wäre der Kläger in Deutschland aller Voraussicht nach nicht mehr versicherungspflichtig tätig geworden. Das LSG hat dies aus einer in dem Verfahren vor dem Entschädigungsamt Berlin eingereichten eidesstattlichen Erklärung des Onkels des Klägers, R. W., gefolgert, wonach der Kläger im Jahre 1934 seine Laufbahn in dessen Konzern (L. L.) mit einem Anfangsgehalt von 15.000,-- RM jährlich begonnen hätte, wenn sich die Verhältnisse in Deutschland nicht geändert hätten.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision vertritt der Kläger die Auffassung, in den §§ 9, 10 WGSVG werde darauf abgestellt, ob durch die Verfolgung ganz allgemein die Möglichkeit abgeschnitten worden sei, weitere Versicherungsansprüche durch Beitragszahlung zu erwerben. Ihm sei durch die Verfolgung die Aufnahme jeglicher, also auch einer versicherungspflichtigen Tätigkeit abgeschnitten worden. Das Urteil des LSG sei im übrigen verfahrensfehlerhaft auf die Annahme gestützt worden, seine Gehaltserwartung sei auf eine außerhalb des versicherungspflichtigen Bereiches belegene Höhe gerichtet gewesen. Ein Monatsgehalt für einen Berufsanfänger in einem Wirtschaftsunternehmen von mehr als 1.000,-- Mark in den Jahren 1934 oder 1936 sei so offenkundig abwegig, daß das Gericht hiervon nicht habe ausgehen können.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Urteils des LSG sowie unter Aufhebung des Urteils des SG und des Bescheides vom 8. August 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 1980 zu verurteilen, ihm die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG zu gestatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie vertritt weiterhin die Auffassung, daß die §§ 9, 10 WGSVG auf den Fall des Klägers nicht zuträfen. An Verfolgungsmaßnahmen sei allenfalls die Wiederaufnahme einer Beschäftigung gescheitert. Daß die angestrebte Tätigkeit in Deutschland versicherungsfrei gewesen wäre, habe der Kläger nicht überzeugend ausgeräumt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet.
Der Kläger erfüllt entgegen der Auffassung der Beklagten und der Vorinstanzen die Voraussetzungen für eine Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 iVm § 9 WGSVG. Nach diesen Vorschriften können Verfolgte mit einer Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten, deren rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden ist oder die bis zum Beginn der Verfolgung eine Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nrn 1, 2 oder 3 AVG (oder den entsprechenden Vorschriften der anderen Rentengesetze) zurückgelegt haben, Beiträge nachentrichten.
In seinem Urteil vom 28. Februar 1984 (BSG SozR 5070 § 9 Nr 7) hat der erkennende Senat, gestützt auf Entstehungsgeschichte, Zielsetzung und Systematik des Gesetzes, die §§ 9, 10 WGSVG über den bloßen Wortlaut hinaus erweiternd dahin ausgelegt, daß eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung auch dann aus Verfolgungsgründen beendet worden sein kann, wenn der Versicherte Deutschland vor 1933 verlassen hatte, um sich im Ausland beruflich weiterzubilden, die beabsichtigte Rückkehr und Wiederaufnahme einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit in Deutschland jedoch aus Verfolgungsgründen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme unterlassen hat. Dabei hat es der Senat nicht für erforderlich gehalten, daß eine versicherungspflichtige Beschäftigung bis zum Einsetzen der Verfolgung ausgeübt worden war bzw sich ihr bis dahin eine Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nrn 1, 2 oder 3 AVG angeschlossen hatte. Vielmehr hat er eine schon vorher eingetretene und nicht auf Verfolgungsgründen beruhende freiwillige Unterbrechung für unschädlich gehalten, sofern diese nur vorübergehend war und nicht zum Ausscheiden aus dem Kreis der rentenversicherungspflichtigen Erwerbstätigen geführt hatte. Er hat damit die verfolgungsbedingte Verhinderung der beabsichtigten Rückkehr und Wiederaufnahme der versicherungspflichtigen Beschäftigung der unmittelbaren Beendigung durch Verfolgungsmaßnahmen gleichgeachtet (vgl dazu auch Urteil vom 16. April 1985, SozR 5070 § 9 Nr 8).
Der vorliegende Fall unterscheidet sich von dem vorgenannten - im rechtlichen Ergebnis ohne Belang - dadurch, daß die Wiederaufnahme einer Beschäftigung in Deutschland nicht schon an der Verhinderung einer Rückkehr scheiterte, sondern erst an der Verfolgung, der der Kläger nach seiner Rückkehr nach Deutschland ausgesetzt war. Daß dies zutraf, kann den tatsächlichen Feststellungen des LSG entnommen werden. Auf diese, zeitgeschichtlich naheliegende, Tatsache stützt sich auch die Anerkennung einer Ersatzzeit vom 1. Juli 1936 bis 31. Dezember 1936 im Sinne einer verfolgungsbedingten Arbeitslosigkeit durch die Beklagte im Rahmen der Rentenberechnung.
Aus den Tatsachenfeststellungen des LSG kann hingegen nicht geschlossen werden, der Kläger habe bereits vor seiner Rückkehr nach Deutschland nicht mehr dem Kreis der rentenversicherungspflichtigen Erwerbstätigen angehört. Ob er, wie das LSG gemeint hat, bei seinem für 1934 vorgesehenen Eintritt in die L. L. bereits eine Position eingenommen hätte, in der er ein über der Versicherungspflichtgrenze in der Angestelltenversicherung (damals 7.200,-- RM jährlich) liegendes Einkommen erzielt hätte und deshalb versicherungsfrei gewesen wäre, erscheint in Anbetracht der damaligen Einkommensverhältnisse zweifelhaft, kann letztlich aber dahingestellt bleiben, denn auch wenn eine derart außergewöhnliche Position für den damals 24-jährigen Kläger erreichbar gewesen wäre, muß davon ausgegangen werden, daß ihm jedenfalls nach seiner Rückkehr im Jahre 1936 die ihm von seinem Onkel bereitgehaltene berufliche Stellung nicht mehr zur Verfügung stand und er deshalb auf eine anderweitige abhängige Beschäftigung angewiesen war. Daß sich diese Beschäftigung oberhalb der Versicherungspflichtgrenze bewegt hätte, erscheint bei den damaligen Zeitumständen ausgeschlossen. Damit gehörte der Kläger auch nach der von Anfang an beabsichtigten Rückkehr aus dem Ausland zum Kreis der versicherungspflichtig Beschäftigten, denen eine entsprechende Beschäftigung jedoch aus Verfolgungsgründen verwehrt war. Dies steht der verfolgungsbedingten Beendigung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung nach der Rechtsprechung des Senats gleich.
Die Beklagte ist sonach verpflichtet, dem Kläger die begehrte Nachentrichtung zu gestatten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen