Leitsatz (amtlich)
Das Recht auf Nachentrichtung von Beiträgen nach WGSVG § 10 wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Verfolgte im Anschluß an den verfolgungsbedingten Verlust seines Arbeitsplatzes eine - vorher nicht beabsichtigte - selbständige Tätigkeit aufgenommen hat (Fortführung von BSG 1979-04-04 12 RK 7/78 = SozR 5070 § 9 Nr 3).
Normenkette
WGSVG § 9 Fassung: 1970-12-22, § 10 Abs. 1 Fassung: 1970-12-22
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 13.01.1977; Aktenzeichen L 8 J 78/76) |
SG Berlin (Entscheidung vom 10.08.1976; Aktenzeichen S 34 J 1521/75) |
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (WGSVG) berechtigt ist.
Der am 15. Mai 1913 geborene Kläger ist Verfolgter iS des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Von Januar 1929 bis Dezember 1934 sind für ihn Pflichtbeiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet worden. Die anschließende Zeit von Januar 1935 bis September 1936 wurde von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) als glaubhaft gemachte Beitragszeit, die Zeit vom 1. Dezember 1938 bis 31. Dezember 1949 als Ersatzzeit gemäß § 28 Abs 1 Nr 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) anerkannt. Nach den - auf die Angaben des Klägers im Entschädigungsverfahren gestützten - Feststellungen des Berufungsgerichts verlor der Kläger im September 1936 seinen Arbeitsplatz als Drogist bei der Drogerie G in B wegen seiner jüdischen Abstammung und nahm dann eine selbständige Tätigkeit auf, die er im November 1938 aufgeben mußte. Anschließend war er arbeitslos. Im November 1939 wanderte er aus. Nach dem BEG erhielt er eine Entschädigung wegen Schadens im beruflichen Fortkommen für eine Schadenszeit ab 1. Dezember 1938.
Den Antrag des Klägers vom Mai 1973 auf Beitragsnachentrichtung nach § 10 WGSVG lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, es sei keine versicherungspflichtige Beschäftigung aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden (Bescheid vom 14. März 1975). Auf den Widerspruch des Klägers, der von der Beklagten gemäß § 85 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) dem Sozialgericht (SG) Berlin als Klage zugeleitet wurde, hat das SG die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides verurteilt, den Kläger zur Nachentrichtung von Beiträgen zur Arbeiterrentenversicherung gemäß §§ 9, 10 WGSVG zuzulassen (Urteil vom 10. August 1976). Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 13. Januar 1977). Es hat zur Begründung ua ausgeführt: Der Kläger habe seine letzte versicherungspflichtige Tätigkeit im September 1936 aus Verfolgungsgründen aufgeben müssen. Hierauf komme es für den Anspruch auf Zulassung zur Beitragsnachentrichtung allein an. Ein unmittelbarer Anschluß einer Verfolgungszeit (Verfolgungs-Ersatzzeit) an die letzte versicherungspflichtige Tätigkeit sei nicht erforderlich. § 9 WGSVG sehe die Berechtigung zur Beitragsnachentrichtung alternativ für den Fall des verfolgungsbedingten Verlustes der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit oder für den Fall des Anschlusses der Verfolgung an eine Ausfallzeit vor. Durch diese Regelung sei nicht zum Ausdruck gebracht, daß sich an eine verfolgungsbedingt unterbrochene Beitragszeit eine Verfolgungszeit (Ersatzzeit) unmittelbar oder aufgeschoben durch eine Ausfallzeit anschließen müsse.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision vertritt die Beklagte die Auffassung, die Beendigung oder Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung könne nur dann in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Verfolgungsmaßnahme stehen, wenn sich Verfolgungszeiten unmittelbar an die letzte rentenversicherungspflichtige Tätigkeit oder eine nachfolgende Ausfallzeit angeschlossen hätten. Wenn sich dagegen eine versicherungsfreie selbständige Tätigkeit angeschlossen habe, sei dies anspruchsvernichtend. Im übrigen hätte der Kläger, wenn die Aufgabe der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung verfolgungsbedingt gewesen wäre, in der damaligen Zeit schwerlich anschließend ein selbständiges Gewerbe ausüben können. Es erscheine mehr als fraglich, daß eine Gewerbeerlaubnis unter verfolgungsbedingten Aspekten erteilt worden wäre.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
II.
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Kläger zur Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 9, 10 WGSVG berechtigt ist, weil er seine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung im Jahre 1936 aus Verfolgungsgründen aufgeben mußte.
Nach § 10 WGSVG können Verfolgte, die nach § 9 WGSVG zur Weiterversicherung berechtigt sind, auf Antrag - abweichend von der Regelung des § 1418 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - Beiträge in einem bestimmten Umfang nachentrichten. Zur Weiteversicherung berechtigt sind dabei nach § 9 WGSVG Verfolgte mit einer Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten, deren rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden ist oder die bis zum Beginn der Verfolgung eine Ausfallzeit nach § 1258 Abs 1 Nrn 1, 2 oder 3 RVO zurückgelegt haben. Verfolgte iS dieser Vorschrift sind gemäß § 1 WGSVG diejenigen, die die Voraussetzungen von § 1 BEG erfüllen, die also ua aus Gründen der Rasse durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen iSd § 2 BEG verfolgt worden sind.
Die §§ 9 und 10 WGSVG haben ihre endgültige, später Gesetz gewordene Fassung erst während der Beratungen im Bundestag durch den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung erhalten (vgl dessen Bericht in BT-Drucks VI/1449). Danach hat es der genannte Ausschuß für geboten gehalten, allen Verfolgten, die nach ihrem Beruf zum Kreis der rentenversicherungspflichtigen Erwerbstätigen gehören und deren versicherte Tätigkeit durch die Verfolgung unterbrochen oder beendet worden ist, die Möglichkeit zu geben, durch freiwillige Fortsetzung ihrer Versicherung und durch Nachentrichtung von Beiträgen für Zeiten vor dem Inkrafttreten des Gesetzes Anspruch auf Rente oder auf eine höhere Rente zu erwerben (aaO Seite 3 zu §§ 9, 9a). Der Regierungsentwurf zum WGSVG (BT-Drucks VI/715) hatte demgegenüber das Recht zur Beitragsnachentrichtung nur den ausgewanderten Verfolgten einräumen wollen, und zwar nur für Zeiten des Auslandsaufenthalts, soweit diese Zeiten sich an einen als Verfolgungszeit anzurechnenden Auslandsaufenthalt anschließen, praktisch also nur für Zeiten nach 1949, da die Zeit bis zum 31. Dezember 1949 bei ausgewanderten Verfolgten in der Regel als Ersatzzeit (= Verfolgungszeit, § 1 Abs 2 Buchst a WGSVG) anzurechnen ist. Voraussetzung einer Beitragsnachentrichtung sollte ferner sein, daß die rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit "durch Verfolgungszeiten unterbrochen oder beendet worden ist" (vgl BT-Drucks VI/715 S. 3 § 9 und die Begründung zu § 9 auf S. 10). Wäre der Regierungsentwurf Gesetz geworden, hätten nur solche Verfolgten Beiträge nachentrichten dürfen, bei denen sich an die frühere rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit unmittelbar eine Verfolgungszeit, dh eine Zeit verfolgungsbedingter Arbeitslosigkeit oder eines verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts (§ 1251 Abs 1 Nr. 4 RVO), angeschlossen hätte. Andere Verfolgte, bei denen zwischen dem verfolgungsbedingten Ende der Beschäftigung oder Tätigkeit und dem Beginn der Verfolgungszeit eine Zeit gelegen hätte, die nicht als Verfolgungszeit anzurechnen wäre, insbesondere eine Zeit selbständiger Tätigkeit wie beim Kläger, wären dagegen von der Beitragsnachentrichtung ausgeschlossen gewesen. Auch solchen, (zunächst) im Inland verbliebenen Verfolgten sollte indessen nach der vom Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung beschlossenen, "über den Regierungsentwurf weit hinausgehende(n) Regelung" eine Beitragsnachentrichtung ermöglicht werden (BT-Drucks VI/1449 S. 1 rechte Spalte unten). Der Ausschuß hat demgemäß den Regierungsentwurf dahin geändert, daß die rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit nicht mehr "durch Verfolgungszeiten" unterbrochen oder beendet sein muß; es genügt vielmehr eine Unterbrechung oder Beendigung "aus Verfolgungsgründen" (aaO S. 8 § 9). Das bedeutet, daß zwischen dem (endgültigen oder vorläufigen) Ende der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit und der Verfolgung zwar weiterhin ein ursächlicher Zusammenhang bestehen muß, daß jedoch die Forderung nach einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit einer Verfolgungszeit aufgegeben worden ist.
Die gegenteilige Auffassung der Beklagten ist auch nicht damit zu begründen, daß nach einer - ebenfalls erst von dem genannten Ausschuß in dem § 9 WGSVG eingefügten - Bestimmung auch solche Verfolgten Beiträge nachentrichten dürfen, die bis zum Beginn der Verfolgung eine Ausfallzeit nach § 1259 Abs 1 Nr 1, 2 oder 3 RVO (oder den entsprechenden Vorschriften des Angestelltenversicherungs- und des Reichsknappschaftsgesetzes) zurückgelegt haben. Diese Bestimmung enthält keine - und wie die Beklagte meint: die einzige - Ausnahme von dem von ihr angenommenen Grundsatz, daß das Ende der Beschäftigung oder Tätigkeit des Verfolgten und der Beginn der Verfolgungszeit unmittelbar aneinander anschließen müssen. Die genannte Bestimmung regelt vielmehr einen Tatbestand, der selbständig ("oder") neben dem Tatbestand der verfolgungsbedingten Unterbrechung oder Beendigung der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit steht. Mit ihr sollen offenbar diejenigen Fälle erfaßt werden, in denen die Beschäftigung oder Tätigkeit eines später Verfolgten zunächst durch eine nicht verfolgungsbedingte Ausfallzeit (Krankheit, Schwangerschaft, Arbeitslosigkeit) unterbrochen worden ist, eine Wiederaufnahme der Beschäftigung oder Tätigkeit dann aber an Verfolgungsmaßnahmen gescheitert ist. Gemeinsam ist beiden Tatbeständen lediglich, daß sowohl die Beendigung oder Unterbrechung der Beschäftigung oder Tätigkeit wie auch das Scheitern ihrer Wiederaufnahme auf Verfolgungsgründen beruhen muß. Daß solche Gründe im Falle des Klägers bei Beendigung seiner letzten rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung im Jahre 1936 vorgelegen haben, hat das LSG festgestellt.
Nach den mit wirksamen Revisionsrügen nicht angegriffenen und deshalb für das Revisionsgericht bindenden (§ 163 SGG) tatsächlichen Feststellungen des LSG, die auf die - als glaubwürdig erachteten - Angaben des Klägers im Entschädigungsverfahren im Jahre 1958 gestützt worden sind, wurde der Kläger aus seiner letzten Beschäftigung bei der Firma G im September 1936 auf Anordnung des Arbeitsamtes entlassen, nachdem er bereits im Jahre 1935 seinen vorherigen Arbeitsplatz bei der Drogerie G unter dem Druck der NSDAP verloren hatte. Hieraus und aus der ihm bekannten damaligen Situation vieler im Einzelhandel beschäftigter jüdischer Angestellter durfte das LSG - ohne damit das Recht der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 SGG) zu überschreiten - folgern, daß der Kläger seine versicherungspflichtige Beschäftigung infolge einer konkreten Verfolgungsmaßnahme aufgegeben hat. Die insoweit geäußerten Zweifel der Beklagten - sie hält es für "mehr als fraglich", ob dem Kläger, wenn er seine letzte Beschäftigung aus Verfolgungsgründen verloren hätte, unter verfolgungsbedingten Aspekten eine Gewerbeerlaubnis erteilt worden wäre, ohne die er ein selbständiges Gewerbe nicht hätte ausüben dürfen - sind nicht begründet. Diese Zweifel richten sich im Kern gegen die Beweiswürdigung des LSG, lassen jedoch nicht erkennen, worin die Beklagte im einzelnen einen Verfahrensverstoß des Berufungsgerichts sieht; insbesondere hat sich die Beklagte nicht gegen die - die Entscheidung tragende - Feststellung des LSG gewandt, dem Kläger sei im September 1936 die Fortsetzung seiner letzten Beschäftigung vom Arbeitsamt aus Verfolgungsgründen untersagt worden. § 9 WGSVG verwehrt allerdings denjenigen Verfolgten eine Beitragsnachentrichtung, die ihre letzte Beschäftigung nicht wegen ihrer Verfolgung, sondern mit dem Ziel aufgegeben haben, eine andere nicht versicherungspflichtige Tätigkeit aufzunehmen, zB eine Ausbildung oder eine Tätigkeit als Selbständiger oder als Hausfrau (vgl Urteil des Senats vom 4. April 1979, 12 RK 7/78). Die bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG lassen jedoch weder den Schluß zu, noch geben sie einen Anhalt dafür, der Kläger habe seine Beschäftigung in der Absicht aufgegeben, sich selbständig zu machen, und die verfolgungsbedingte Entlassung sei damit nur zeitlich zusammengefallen. Die weitere berufliche Betätigung des Klägers als Selbständiger steht daher dem bereits vorher eingetretenen Arbeitsplatzverlust durch die festgestellte konkrete Verfolgungsmaßnahme (und damit der Beendigung der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung aus Verfolgungsgründen) nicht entgegen. Die selbständige Tätigkeit hat, weil unversichert, auch nicht zum Ausgleich der durch den verfolgungsbedingten Arbeitsplatzverlust eingetretenen versicherungsrechtlichen Nachteile geführt, so daß dem Kläger auch aus diesem Grunde die Ausgleichsmöglichkeit des § 10 WGSVG nicht verwehrt sein kann.
Schließlich geht die Beklagte fehl, wenn sie darauf verweist, daß dem Kläger nur auf der Grundlage des Verlustes seiner selbständigen Existenzgrundlage im Jahre 1938 eine Entschädigung nach dem BEG gewährt wurde und nicht auch für die Verdrängung aus der unselbständigen Beschäftigung. Die Ausgleichung sozialversicherungsrechtlicher Nachteile durch Nachentrichtung von Beiträgen ist nicht vom BEG umfaßt, sondern im WGSVG eigenständig geregelt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1653913 |
BSGE, 81 |