Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufung. Zulässigkeit
Orientierungssatz
1. Ein wesentlicher Mangel des Berufungsverfahrens liegt vor, wenn das LSG statt der gebotenen Sachentscheidung ein Prozeßurteil erlassen hat.
2. Eine im Zeitpunkt der Einlegung zulässige Berufung wird nicht nachträglich dadurch unzulässig, daß der Kläger als Berufungsgegner seine Feststellungsklage zurücknimmt und damit den prozessualen Anspruch auf den nach § 145 Nr 4 SGG nicht berufungsfähigen Streitpunkt der Rentenherabsetzung einschränkt.
Normenkette
SGG § 145 Nr. 4, § 162 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 17.12.1968) |
SG Hildesheim (Entscheidung vom 12.12.1967) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. Dezember 1968 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beklagte gewährte wegen des Arbeitsunfalls vom 9. Oktober 1961 dem Kläger - nach einer vorläufigen Rente von 50 bzw. 40 v. H. - im September 1963 eine Dauerrente unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v. H.; als Unfallfolgen wurden im Dauerrentenbescheid bezeichnet: "Nervenschädigung, Muskelschwund und Bewegungsbehinderung im linken Schultergelenk sowie Herabsetzung der Gebrauchsfähigkeit des linken Armes." Im Herbst 1966 ließ die Beklagte den Kläger nervenärztlich (Dr. T) und chirurgisch (Prof. Dr. D) nachuntersuchen; dabei gelangte Dr. T zu dem Ergebnis, auf seinem Fachgebiet hätten sich die Unfallfolgen eindeutig gebessert, sie bedingten jetzt nur noch eine MdE um 20 v. H. statt der früher geschätzten 30 v. H.; Prof. Dr. D bewertete die - zum Teil sich überschneidenden - Unfallfolgen auf chirurgischem (20 v. H.) und neurologischem (20 v. H.) Gebiet mit einer MdE um insgesamt 30 v. H.. Durch Bescheid vom 25. November 1966 setzte daraufhin die Beklagte die Dauerrente von 40 v. H. auf 30 v. H. herab, sie bezeichnete als wesentliche Änderung der Verhältnisse: "Rückgang der Nervenschädigung sowie leichte Besserung der Gebrauchsfähigkeit des linken Armes."
Im Verfahren über die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hildesheim Gutachten eines chirurgischen (Dr. L) und eines nervenärztlichen (Dr. H) Sachverständigen eingeholt. Beide haben den Eintritt einer wesentlichen Besserung der Unfallfolgen verneint. Dr. L hat es "aus sachlichen Gründen" für angebracht gehalten, daß die Bezeichnung der Unfallfolgen "etwas erweitert" werde, und hierfür die Formulierung empfohlen: "Subluxationsstellung des linken Schultergelenks mit starker Funktionseinschränkung und Muskelabmagerung der Schulter- und Oberarmmuskulatur sowie Schmerzhaftigkeit bei passiven Bewegungen. Umbauvorgänge des linken Oberarmschaftes nach Bruch und Knochenmarkeiterung. Knochennarbe am Bogenanteil des zweiten Halswirbelkörpers mit sekundären Versteifungsvorgängen des kleinen Wirbelgelenks zwischen dem zweiten und dritten Halswirbelkörper." In der mündlichen Verhandlung vor dem SG hat der Kläger beantragt,
1. den Bescheid vom 25. November 1966 abzuändern,
2. festzustellen, daß die von Dr. L im einzelnen aufgeführten Leiden Unfallfolgen sind,
3. die Beklagte zu verurteilen, über den 31. Dezember 1966 hinaus Verletztenrente zu zahlen.
Das SG hat durch Urteil vom 12. Dezember 1967 entschieden:
1. Der Bescheid vom 25. November 1966 wird abgeändert.
2. Es wird festgestellt, daß Subluxationsstellung des linken Schultergelenks mit starker Funktionseinschränkung und Muskelabmagerung der Schulter- und Oberarmmuskulatur sowie Schmerzhaftigkeit bei passiven Bewegungen, Umbauvorgänge des linken Oberarmschaftes nach Bruch und Knochenmarkeiterung, Knochennarbe am Bogenanteil des zweiten Halswirbelkörpers mit sekundären Versteifungsvorgängen des kleinen Wirbelgelenks zwischen dem zweiten und dritten Halswirbelkörper, Unfallfolgen sind.
3. Die Beklagte wird verurteilt, über den 31. Dezember 1966 hinaus Verletztenrente nach einer MdE um 40 v. H. zu zahlen.
In den Entscheidungsgründen hat das SG u. a. ausgeführt, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse i. S. des § 622 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung sei nicht erwiesen; die zu Nr. 2 des Urteilstenors erfolgte Bezeichnung der Unfallfolgen stelle keine Feststellung eines neuen Leidenszustandes dar, vielmehr gebe sie lediglich den bisherigen Leidenszustand in einer genaueren Umschreibung wieder.
Mit ihrer - vom SG nicht zugelassenen - Berufung hat die Beklagte Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und Klagabweisung beantragt. Sie hat u. a. geltend gemacht, unter Nr. 2 des Urteilstenors habe das SG eine den ursächlichen Zusammenhang betreffende Feststellung getroffen, die abweichende Bemerkung in den Entscheidungsgründen ändere hieran nichts. Bei einer Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sei die Berufung stets zulässig. Auf Anregung des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen hat der Kläger im Schriftsatz vom 4. Dezember 1968 erklärt, er nehme die Feststellungs- und Leistungsklage zurück und beantrage nur noch, den Herabsetzungsbescheid der Beklagten vom 25. November 1966 aufzuheben. Darauf hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 10. Dezember 1968 u. a. entgegnet, der Kläger dürfe durch sein prozessuales Verhalten nicht die Berufung der Beklagten nachträglich unzulässig machen (SozR Nr. 6 zu § 146 SGG)
Das LSG hat durch Urteil vom 17. Dezember 1968 die Berufung der Beklagten verworfen: Streitgegenstand des Berufungsverfahrens sei nur noch die Frage der Rechtmäßigkeit des Rentenherabsetzungsbescheides. Hinsichtlich der Feststellung von Unfallfolgen und der Verurteilung zur Leistungsgewährung sei das SG-Urteil infolge Klagrücknahme (§§ 102, 153 SGG) gegenstandslos. Die Klagrücknahme habe nicht den gesamten mit der Klage geltend gemachten Anspruch betroffen. Der Vorsitzende des SG hätte nach § 112 Abs. 2 Satz 2 SGG in der mündlichen Verhandlung dahin wirken sollen, daß der Kläger lediglich die Aufhebung des Rentenherabsetzungsbescheides beantragte und die übrigen Anträge, für die kein Rechtsschutzbedürfnis bestehe, fallenließ; dann hätte das SG nur über die Anfechtungsklage zu entscheiden gehabt. Da die im Klageverfahren unterbliebene Prozeßhandlung im Berufungsverfahren nachgeholt werden könne, ändere sich an den Folgen nichts. - Die gegen das - einer Aufhebungsklage stattgebende - SG-Urteil gerichtete Berufung sei gem. § 145 Nr. 4 SGG nicht zulässig, soweit sie die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse betreffe. Die Meinung der Beklagten, die Klagrücknahme während des Berufungsverfahrens dürfe nicht dazu führen, daß ihre Berufung unzulässig gemacht werde, rechtfertige keine andere Beurteilung. Ein Verhalten des Klägers, durch das Rechte der Beklagten in unzulässiger Weise beschnitten würden, sei nicht festzustellen; der Kläger hätte ja bereits im Klagverfahren einen - auf die Bescheidanfechtung beschränkten - sachdienlichen Antrag stellen können, wobei die Berufung der Beklagten nicht zulässig gewesen wäre. Auch auf Grund des § 150 Nr. 2 SGG sei die Berufung nicht zulässig, denn die von der Beklagten erhobenen Verfahrensrügen träfen nicht zu. - Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Gegen das am 4. Februar 1969 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 3. März 1969 Revision eingelegt und sie innerhalb der nach § 164 Abs. 1 Satz 2 SGG verlängerten Frist folgendermaßen begründet: Das LSG habe zu Unrecht statt einer Sachentscheidung ein Prozeßurteil erlassen und damit einen wesentlichen Verfahrensverstoß (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) begangen. Wegen der vom SG unter Nr. 2 des Urteilstenors auf Antrag des Klägers getroffenen Feststellung (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG) sei die Berufung der Beklagten schlechthin überhaupt nicht von § 145 Nr. 4 SGG erfaßt oder jedenfalls auf Grund des § 150 Nr. 3 SGG zulässig gewesen. Das Klagbegehren auf Aufhebung des Herabsetzungsbescheides und das auf eine neuartige, mit den bisher anerkannten Unfallfolgen sich nicht deckende Feststellung gerichtete Klagbegehren hingen innerlich miteinander zusammen; die Neufeststellung der Unfallfolgen sei die Voraussetzung für die Bescheidaufhebung und die vom Kläger begehrte Fortzahlung der bisherigen Dauerrente gewesen; es habe also ein - lediglich in mehrere Klagarten gekleideter - einheitlicher Streitgegenstand vorgelegen. Nach ständiger Rechtslehre und Rechtsprechung werde nun aber die im Zeitpunkt ihrer Einlegung zulässige Berufung nicht nachträglich dadurch unzulässig, daß während des Berufungsverfahrens der Berufungsbeklagte Rechtshandlungen vornehme, die den Streitgegenstand auf einen dem Rechtsmittel nicht mehr unterliegenden Teil beschränken; vielmehr sei die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels grundsätzlich nach dem Zeitpunkt seiner Einlegung zu beurteilen (SozR Nr. 12 zu § 146 SGG).
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und das Verfahren des LSG für bedenkenfrei. Nach seiner Ansicht ist in der Neufassung der Unfallfolgen zu Nr. 2 des SG-Urteils keine Feststellung eines neuen Leidenszustandes, sondern lediglich eine genauere Bezeichnung desselben zu erblicken, wobei die Kausalität zu keinem Zeitpunkt in Zweifel gezogen worden sei.
II
Die form- und fristgerecht eingelegte, vom LSG nicht zugelassene Revision der Beklagten ist statthaft auf Grund des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, da es die Beklagte mit Recht als einen wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens gerügt hat, daß das LSG statt der gebotenen Sachentscheidung ein Prozeßurteil erlassen hat (vgl. BSG 1, 283, 286).
Die von der Beklagten im Januar 1968 eingelegte Berufung betraf damals nicht lediglich die Neufeststellung der dem Kläger gewährten Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse. Das erstinstanzliche Urteil, dessen Aufhebung die Beklagte mit ihrem Rechtsmittel verfolgte, enthielt vielmehr außer der Bescheidaufhebung nebst Verpflichtung der Beklagten zur Weitergewährung der Dauerrente in bisheriger Höhe auch noch die vom Kläger begehrte Feststellung, daß die vom Sachverständigen Dr. L näher bezeichneten Gesundheitsstörungen Folgen des Arbeitsunfalls vom 9. Oktober 1961 sind. Daß das SG diese Feststellung in den Urteilstenor aufgenommen hat, steht mit seiner in den Entscheidungsgründen dargelegten Auffassung, es handele sich nur um eine genauere Umschreibung der bisher schon anerkannten Unfallfolgen, nicht ganz in Einklang. Davon abgesehen, haben die Vorinstanzen und der Kläger nicht beachtet, daß die im Urteilsspruch des SG enthaltene Feststellung der Unfallfolgen zumindest in ihrem letzten Satz ein Novum darstellt, denn auf unfallbedingte Gesundheitsstörungen im Bereich der Halswirbelsäule beziehen sich die Bescheide der Beklagten nicht.
Der Auffassung des LSG, der Kläger hätte sich bereits im Verfahren des ersten Rechtszuges mit der Aufhebungsklage begnügen sollen, für seine Feststellungsklage gem. § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG habe kein Rechtsschutzbedürfnis bestanden, kann schon grundsätzlich nicht beigepflichtet werden (vgl. BSG 9, 80, 83, 84; 21, 167, 169; 9. BSG-Senat, Urt. vom 22.10.1970 - 9 RV 82/70 -); im vorliegenden Fall aber trifft diese Auffassung um so weniger zu, als es -- mangels gegenteiliger Feststellungen des LSG - nicht auszuschließen ist, daß die vom SG festgestellten zusätzlichen Unfallfolgen die Aufhebung des Rentenherabsetzungsbescheides beeinflußt haben; diese Gesundheitsstörungen könnten nämlich mit dafür maßgebend gewesen sein, daß die vom SG gehörten ärztlichen Sachverständigen die unfallbedingte MdE nicht mit 30 v. H., sondern mit 40 v. H. bewerteten.
Im Hinblick auf einen möglicherweise bestehenden derart engen Zusammenhang zwischen der Aufhebungs- und der Feststellungsklage bzw. den entsprechenden Urteilsaussprüchen des SG ist der Auffassung der Revision zuzustimmen, es habe sich um einen einheitlichen Streitgegenstand gehandelt. Da aber hinsichtlich des Feststellungsurteils die Berufung ohne weiteres zulässig war, mußte das Rechtsmittel der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil insgesamt als zulässig angesehen werden; die Berufungszulässigkeit durfte nicht nach den einzelnen Streitpunkten aufgespalten werden; die Ausschlußvorschrift des § 145 Nr. 4 SGG stand somit dieser Berufung nicht entgegen (vgl. BSG 5, 222, 225-227; Urteile des erkennenden Senats vom 27.8.1969 - Teilabdruck in SozR Nr. 5 zu § 587 RVO - und 29.4.1970, Breithaupt 1970, 893; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 7. Aufl., S. 250 d I-III).
Die im Zeitpunkt der Einlegung mithin zulässige Berufung der Beklagten wurde nicht nachträglich dadurch unzulässig, daß der Kläger als Berufungsgegner im Dezember 1968 seine Feststellungsklage zurücknahm und damit den prozessualen Anspruch auf den nach § 145 Nr. 4 SGG nicht berufungsfähigen Streitpunkt der Rentenherabsetzung einschränkte (vgl. SozR Nr. 8 sowie Nrn. 6, 9, 12 und 21 zu § 146 SGG; BSG 16, 134, 135). Dies hat das LSG bei der Anregung zur teilweisen Klagrücknahme, die es dem Kläger in der Terminbenachrichtigung vom 28. November 1968 gab, offenbar übersehen.
Die hiernach zulässige Revision der Beklagten ist auch begründet, denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG beim Erlaß eines Sachurteils zu einer der Beklagten günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Mangels tatsächlicher Feststellungen des LSG ist dem Senat eine Entscheidung in der Sache selbst nicht möglich. Der Rechtsstreit muß deshalb gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückverwiesen werden, dem auch die Kostenentscheidung vorbehalten bleibt.
Fundstellen