Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirtschaftliche Gleichwertigkeit
Leitsatz (amtlich)
Ein Versicherter, der aufgrund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten mit einer nicht knappschaftlichen Tätigkeit ein Entgelt erwirbt, das seiner persönlichen Rentenbemessungsgrundlage entspricht, gilt nur dann nicht als vermindert bergmännisch berufsfähig, wenn dieses Entgelt gegenüber der "bisher verrichteten knappschaftlichen Arbeit" auch im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig iS des RKG § 45 Abs 2 ist.
Leitsatz (redaktionell)
Die negative Fiktion des RKG § 86 Abs 2, die im Abschnitt über die Rentenentziehung geregelt ist, muß auch für die Frage der Rentengewährung entsprechend angewendet werden.
Normenkette
RKG § 45 Abs. 2 Fassung: 1972-10-16, § 86 Abs. 2 Fassung: 1967-12-21
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. Januar 1977 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Bergmannsrente nach § 45 Abs 1 Nr 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) zusteht.
Der Kläger war bis zum 31. Dezember 1965 als Reviersteiger im Bergbau tätig und berechtigt, die Bezeichnung Ingenieur (grad.) zu führen. Seitdem ist er technischer Angestellter (Ingenieur) im Wasserbau und in der Wasserwirtschaft außerhalb des Bergbaus. Der Kläger bezog in der Zeit vom 5. Juli 1967 bis zum 31. Dezember 1969 die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit.
Die Beklagte lehnte den am 21. Januar 1972 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 4. Januar 1973 ab, weil der Kläger nach den vorliegenden medizinischen Gutachten noch verschiedene Tätigkeiten im Bergbau verrichten könne und daher nicht vermindert bergmännisch berufsfähig sei. Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg.
Das Landessozialgericht (LSG) hat dahingestellt sein lassen, ob der Kläger vermindert bergmännisch berufsfähig iS des § 45 Abs 2 RKG sei. Die Ablehnung des Rentenantrags sei schon deshalb berechtigt, weil die Voraussetzungen des § 86 Abs 2 Satz 1 RKG vorlägen. Der Kläger erziele mit seiner jetzigen Tätigkeit außerhalb des Bergbaus ein Entgelt, das seine persönliche Rentenbemessungsgrundlage übersteige. Zwar habe sein Entgelt in den Monaten Januar bis September 1972 die persönliche Rentenbemessungsgrundlage für das Kalenderjahr 1972 nicht erreicht. Es komme aber nicht auf die Gegenüberstellung einzelner Monate, sondern auf das gesamte Kalenderjahr an. Im Kalenderjahr 1972 habe das effektive Entgelt des Klägers aber 20.970,- DM betragen und damit die persönliche Rentenbemessungsgrundlage von 20.228,- DM überschritten. Es sei nach § 86 Abs 2 Satz 1 RKG nicht erforderlich, daß die aufgrund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten verrichtete Tätigkeit der "bisher verrichteten knappschaftlichen Arbeit" im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sei. Ebenso komme es nicht darauf an, ob es sich um eine Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten iS des § 45 Abs 2 RKG handele. Von Bedeutung sei nur, daß die Tätigkeit aufgrund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten verrichtet werde. Das treffe zu, denn der Kläger habe die Kenntnisse und Fertigkeiten für seine jetzige Tätigkeit in einer 12 Monate andauernden Einarbeitungszeit erworben. Es handele sich dabei um Kenntnisse und Fertigkeiten, die für die Tätigkeit eines Reviersteigers nicht erforderlich seien.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, für die Zeit vom 1. Januar 1972 bis zum 30. September 1972 stehe ihm die Bergmannsrente schon deshalb zu, weil sein Entgelt die persönliche Rentenbemessungsgrundlage nicht erreicht habe. Es sei nicht der gesamte Jahresverdienst 1972 zu ermitteln, sondern festzustellen, ob die Bezüge in den Monaten, für die eine Rente beantragt gewesen sei, bei Hochrechnung auf ein Jahr die persönliche Rentenbemessungsgrundlage erreichen. Bei der gebotenen unverzüglichen Entscheidung der Beklagten über seinen Rentenantrag habe die Rente jedenfalls für die Monate Januar bis September 1972 bewilligt werden müssen, weil in dieser Zeit die Rentenbemessungsgrundlage nicht erreicht worden sei. Im übrigen sei § 86 Abs 2 Satz 1 RKG dahin auszulegen, daß neben dem Erreichen der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage auch erforderlich sei, daß die außerhalb des Bergbaus verrichtete Tätigkeit der früheren knappschaftlichen Arbeit im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sei. Dazu seien noch Tatsachenfeststellungen erforderlich.
Der Kläger beantragt,
unter Änderung oder Aufhebung der angefochtenen Bescheide der Beklagten und der Entscheidungen des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1972 bis zum 30. September 1972 Bergmannsrente zu gewähren; im übrigen den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wird. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.
Das LSG hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus zutreffend - dahingestellt sein lassen, welche knappschaftlichen Arbeiten der Kläger noch verrichten kann. Solche Feststellungen wären entbehrlich, wenn der Rentenanspruch des Klägers trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 45 Abs 2 RKG nicht begründet wäre, dh wenn der Kläger als nicht vermindert bergmännisch berufsfähig gälte. Nach § 86 Abs 2 Satz 1 RKG gilt ein Versicherter nicht als vermindert bergmännisch berufsfähig, wenn er aufgrund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten aus versicherungspflichtiger Beschäftigung mindestens ein Entgelt erwirbt, das der für ihn maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage entspricht. Der erkennende Senat hat bereits entschieden, daß diese in einer die Rentenentziehung betreffenden Vorschrift enthaltene negative Fiktion auf die Frage der Rentengewährung entsprechend anzuwenden ist (vgl SozR Nrn 3 und 4 zu § 86 RKG). Dabei sind als "neue" Kenntnisse und Fertigkeiten solche anzusehen, die für die "bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit" nicht erforderlich und also anders sind. Das trifft nach den Feststellungen des LSG im vorliegenden Fall zu. Der Kläger hat die für seine jetzige Tätigkeit erforderlichen zusätzlichen Kenntnisse und Fertigkeiten, die für die Tätigkeit eines Reviersteigers nicht erforderlich sind, in einer Einarbeitungszeit von 12 Monaten erworben. Das reicht aus, um sie als "anders" und "neu" iS des § 86 Abs 2 Satz 1 RKG anzusehen (vgl hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 19. Oktober 1967 - 5 RKn 29/65 -). Nach der zitierten Entscheidung ist es nicht erforderlich, daß die aufgrund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten verrichtete Tätigkeit im Verhältnis zu der "bisher verrichteten knappschaftlichen Arbeit" eine Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten iS des § 45 Abs 2 RKG ist (vgl hierzu auch SozR 2600 Nr 3 zu § 86). Das Erfordernis der neuen Kenntnisse und Fertigkeiten garantiert, daß es sich nicht um eine völlig unqualifizierte Arbeit, sondern um eine solche handelt, die gewissen qualitativen Mindestansprüchen genügt, und dem Versicherten - auch mit Rücksicht auf die Höhe des Entgelts - "zumutbar" ist. Ob dabei in jedem Falle solche Kenntnisse und Fertigkeiten ausreichen, die in einer 3 Monate dauernden Anlernung oder Einarbeitung erworben werden, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls genügen für einen Reviersteiger zusätzliche Kenntnisse und Fertigkeiten, die eine Einarbeitungszeit von 12 Monaten erfordern.
Das LSG hat zutreffend festgestellt, daß das Entgelt des Klägers aus seiner jetzigen Tätigkeit seine persönliche Rentenbemessungsgrundlage übersteigt. Das gilt auch für die Zeit vom 1. Januar 1972 bis zum 30. September 1972. Da die persönliche Rentenbemessungsgrundlage für das Kalenderjahr errechnet wird, müssen Entgelt und Bemessungsgrundlage jeweils für diesen Zeitraum verglichen werden und nicht etwa für einzelne Monate (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 19. Oktober 1967 - 5 RKn 29/65 -). Daran ändert die in § 88 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und jetzt auch in § 17 Abs 1 Nr 1 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB) normierte Pflicht des Versicherungsträgers nichts, alsbald über den Rentenantrag zu entscheiden. Der Senat verkennt nicht, daß das Abstellen auf das gesamte Kalenderjahr in Einzelfällen zu Schwierigkeiten und zu einer Kollision mit der Pflicht zur alsbaldigen Entscheidung über den Rentenantrag führen kann. Im vorliegenden Fall steht fest, daß das Entgelt des Klägers im Kalenderjahr 1972 deutlich über der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage gelegen hat, so daß davon auszugehen ist. Für die weitere Zeit ist die Feststellung des LSG, das Entgelt des Klägers habe die persönliche Rentenbemessungsgrundlage überschritten, nicht angegriffen worden. Sie ist also nach § 163 SGG für den Senat bindend.
Gleichwohl sind die Voraussetzungen des § 86 Abs 2 Satz 1 RKG nicht erfüllt, denn es ist neben dem Erreichen der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage auch erforderlich, daß mit dem effektiven Entgelt aus der jetzigen Tätigkeit mindestens der Betrag erreicht wird, der nach § 45 Abs 2 RKG als im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig anzusehen ist. Der erkennende Senat hat zwar in seinem Urteil vom 29. September 1976 (SozR 2600 Nr 3 zu § 86) ausgeführt, daß § 86 Abs 2 Satz 1 RKG von dem Vorliegen vermindert bergmännischer Berufsfähigkeit ausgeht und nur wegen besonderer Voraussetzungen das Nichtvorliegen dieses Versicherungsfalles fingiert. Deshalb kann nicht gefordert werden, daß es sich auch um Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten iS des § 45 Abs 2 RKG handelt. Rein gesetzestechnisch müßte es daher auch nicht erforderlich sein, daß es sich um eine im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Tätigkeit handelt. Eine so formelle Gesetzesauslegung würde aber dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht gerecht.
Ohne den § 86 Abs 2 RKG wäre es möglich, daß ein Versicherter vermindert bergmännisch berufsfähig ist und die Bergmannsrente erhält, obwohl er mit einer versicherungspflichtigen Tätigkeit ein Entgelt erwirbt, das seiner früheren knappschaftlichen Tätigkeit gegenüber nicht nur im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig ist, sondern darüber hinaus in etwa seinem "angepaßten" früheren Durchschnittsverdienst entspricht. Dieses Ergebnis, das als sozialpolitisch unerwünscht empfunden wurde (vgl hierzu BSGE 5, 73, 78 f), hätte in der Regel zur Folge, daß der Versicherte mit dem erzielten Arbeitsentgelt und der Bergmannsrente zusammen ein höheres Einkommen hätte als er es in seinem knappschaftlichen Beruf haben würde. Dieses Ergebnis wollte der Gesetzgeber des Knappschaftsrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (KnVNG) durch die Einführung der negativen Fiktion des § 86 Abs 2 RKG, die der vom erkennenden Senat rechtlich nicht gebilligten Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamtes zur Entbehrlichkeit der Gleichartigkeit (vgl BSGE 5, 73, 78 ff) nachempfunden war, vermeiden. Ob die negative Fiktion und die damit verbundene Verneinung des Rentenanspruchs das geeignete Mittel sind, oder ob es nicht sozialpolitisch sinnvoller gewesen wäre, in solchen Fällen den Rentenanspruch durch Kürzung oder Ruhen der Höhe nach zu begrenzen, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls hat sich der Gesetzgeber von der Vorstellung leiten lassen, daß mit dem Erreichen der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage, die von den im allgemeinen über den Tariflöhnen liegenden Effektivlöhnen beeinflußt wird, die damals von der Rechtsprechung gezogene Gleichwertigkeitsgrenze des § 45 Abs 2 RKG nicht nur erreicht, sondern auch überschritten wird. Die Möglichkeit, daß die persönliche Rentenbemessungsgrundlage - insbesondere bei kurzfristiger Ausübung des höchstgelohnten Berufs - geringer ist als die damalige Gleichwertigkeitsgrenze des § 45 Abs 2 RKG, hat der Gesetzgeber nicht in Betracht gezogen. Hätte er sie im Blickfeld gehabt, so hätte er nach seiner Gesamtkonzeption in diesen Fällen den Rentenanspruch nicht ausgeschlossen. Der Versicherte, der außerhalb des Bergbaus aufgrund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten eine Tätigkeit verrichtet, sollte nicht schlechtergestellt werden als ein Versicherter, der ohne neue Kenntnisse und Fertigkeiten in einem knappschaftlichen Betrieb eine nicht im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeit verrichtet. Lediglich seine Besserstellung sollte vermieden werden. Da also die Anwendung des § 86 Abs 2 RKG keine wirtschaftliche Schlechterstellung im Vergleich zu § 45 Abs 2 RKG zur Folge haben soll, muß die neue Tätigkeit dem knappschaftlichen Beruf des Versicherten gegenüber zumindest noch im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig iS von § 45 Abs 2 RKG sein (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 19. Oktober 1967 - 5 RKn 29/65 -).
Das Berufungsurteil enthält nicht die notwendigen Feststellungen, die zur Prüfung der Frage erforderlich sind, ob das Entgelt aus der jetzigen Tätigkeit des Klägers die Gleichwertigkeitsgrenze des § 45 Abs 2 RKG für einen Reviersteiger erreicht. Da der Senat diese Feststellungen nicht treffen kann, hat er den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen an das LSG zurückverwiesen. Sollte das LSG zu dem Ergebnis kommen, daß die Voraussetzungen des § 86 Abs 2 RKG nicht vorliegen, wird es zu prüfen haben, ob der Kläger vermindert bergmännisch berufsfähig iS des § 45 Abs 2 RKG ist.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen