Leitsatz (amtlich)

Erwirbt der Empfänger einer Bergmannsrente auf Grund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten einen die persönliche Rentenbemessungsgrundlage erreichenden Lohn, so gilt er auch dann nicht mehr als vermindert bergmännisch berufsfähig, wenn die ausgeübte Tätigkeit nicht der Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten entspricht. Für die Frage, ob das nunmehr erzielte Entgelt der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage entspricht, kommt es nicht auf den Tariflohn, sondern auf das effektive Entgelt des Versicherten an. Zuschläge und Zuschüsse bleiben nur insoweit unberücksichtigt, als sich das aus RKG § 86 Abs 2 S 3 ergibt.

 

Normenkette

RKG § 86 Abs. 2 S. 3 Fassung: 1957-05-21, § 45 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-05-21, Abs. 2 Fassung: 1957-05-21

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 4. Dezember 1975 aufgehoben; die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger die seit dem 1. September 1966 gewährte Bergmannsrente mit Wirkung vom 1. Juni 1975 entziehen durfte.

Die Beklagte gewährte dem Kläger, der bis zum 10. Oktober 1966 längere Zeit als Hauer tätig gewesen war, mit Bescheid vom 3. März 1967 die Bergmannsrente nach § 45 Abs. 1 Nr. 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) für die Zeit vom 1. September 1966 an, weil der Kläger wegen Silikosegefährdung nicht mehr unter Tage arbeiten durfte. Nach entsprechender Anlernung in der Zeit vom 11. Oktober 1966 bis zum 31. Januar 1967 war der Kläger bis zum 30. Juni 1972 als Maschinist in der Kondensation tätig. Seit dem 1. Juli 1972 ist er außerhalb des Bergbaus beschäftigt. Nach einer Anlernungs- bzw. Einweisungszeit von sechs Monaten verrichtet er in einem Kraftwerk die Tätigkeit eines Wärters im Kessel- und Maschinenbereich. Sein Arbeitsentgelt betrug im Jahre 1974 27.111,49 DM.

Die Beklagte entzog mit Bescheid vom 24. April 1975 die Bergmannsrente mit Wirkung vom 1. Juni 1975, weil der Kläger nicht mehr vermindert bergmännisch berufsfähig sei, da sein Arbeitsentgelt die persönliche Rentenbemessungsgrundlage übersteige. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 4. Dezember 1975 die Bescheide der Beklagten vom 24. April 1975 und 30. Juni 1975 aufgehoben. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Rentenentziehung sei weder nach § 86 Abs. 1 RKG noch nach Abs. 2 aaO berechtigt. In den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers sei seit Rentengewährung keine Änderung eingetreten. Er sei nach wie vor vermindert bergmännisch berufsfähig. Auf seine jetzige Tätigkeit könne er auch dann nicht verwiesen werden, wenn sie in einem knappschaftlichen Betrieb verrichtet würde, weil sie der Hauertätigkeit gegenüber qualitativ nicht im wesentlichen gleichwertig sei. Der Kläger habe zwar seit der Rentengewährung neue Kenntnisse und Fertigkeiten erworben, die ihn zu seiner jetzigen Tätigkeit befähigten. Für die Rentenentziehung nach § 86 Abs. 2 RKG genügten aber nicht irgendwie geartete Kenntnisse und Fertigkeiten; es müsse vielmehr ein Qualitätsmerkmal hinzutreten, das dem "von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten" im Sinne des § 45 Abs. 2 RKG entspreche. Hinzu komme, daß der Tariflohn des Klägers einschließlich Familiengeld monatlich nur 1.665,- DM betrage und damit auf das Jahr umgerechnet die persönliche Rentenbemessungsgrundlage nicht erreiche. Das tatsächlich erzielte höhere Jahresentgelt beruhe nicht auf den erworbenen Kenntnissen und Fertigkeiten. Es ergebe sich vielmehr aus Zulagen für Wechselschichten, Nachtarbeit und aus geleisteten Überstunden und müsse insoweit unberücksichtigt bleiben.

Die Beklagte hat dieses Urteil im Einverständnis mit dem Kläger mit der - vom SG zugelassenen - Sprungrevision angefochten. Sie ist der Ansicht, eine die Rentenentziehung nach § 86 Abs. 1 RKG rechtfertigende Änderung in den Verhältnissen des Klägers liege darin, daß er seit dem 1. Juli 1972 die Tätigkeit eines Wärters im Kessel- und Maschinenbereich ausübe. Diese Tätigkeit sei im Verhältnis zur Hauertätigkeit im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig; es handele sich auch um eine Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten, so daß der Kläger nicht mehr vermindert bergmännisch berufsfähig sei. Im übrigen sei die Rentenentziehung auch nach § 86 Abs. 2 RKG gerechtfertigt. Der Kläger verrichte die Tätigkeit als Wärter im Kessel- und Maschinenbereich nach einer Anlernung von sechs Monaten, also aufgrund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten. Entgegen der Ansicht des SG fordere § 86 Abs. 2 RKG nicht, daß es sich um eine Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten handele. Es genüge vielmehr, daß sein Arbeitsentgelt die persönliche Rentenbemessungsgrundlage (1974 = 20.598,88 DM und 1975 = 22.885,21 DM) übersteige. Auszugehen sei dabei von dem effektiven Einkommen einschließlich der Zulagen, von dem auch die Beiträge entrichtet würden.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen;

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und trägt zusätzlich vor, die Beklagte könne die Rentenentziehung nicht auf § 86 Abs. 1 RKG stützten, denn bei seiner neuen Tätigkeit handele es sich nicht um eine Tätigkeit in einem knappschaftlichen Betrieb. Im übrigen entspreche sie der Tätigkeit eines Maschinenwärters, auf die ein Hauer nicht verwiesen werden könne.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Sprungrevision der Beklagten hat auch Erfolg. Das SG hat zu Unrecht den Entziehungsbescheid der Beklagten und den ihn bestätigenden Widerspruchsbescheid aufgehoben. Die Beklagte war berechtigt, die Bergmannsrente zum 1. Juni 1975 zu entziehen.

Es mag dahingestellt bleiben, ob die Voraussetzungen des § 86 Abs. 1 RKG vorliegen, denn die Rentenentziehung ist jedenfalls nach § 86 Abs. 2 Satz 1 RKG gerechtfertigt. Der Kläger verrichtet nach den nicht angegriffenen und damit für den Senat gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Feststellungen des SG eine Tätigkeit, die eine Anlernung von mindestens sechs Monaten erfordert. Er verrichtet sie also aufgrund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten, denn nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats genügt eine dreimonatige Einweisung und Einarbeitung, um neue Kenntnisse und Fertigkeiten im Sinne des § 86 Abs. 2 RKG zu vermitteln (vgl. Urteil vom 19. Oktober 1967 - 5 RKn 29/65 -; SozR Nr. 40 zu § 45 RKG; SozR 2600 Nr. 1 zu § 86). Es kann zweifelhaft sein, ob es sich bei der Tätigkeit des Klägers um eine solche von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten im Sinne des § 45 Abs. 2 RKG handelt. Entgegen der Ansicht des SG und des Klägers ist das jedoch nicht erforderlich. Aus der in § 86 Abs. 2 RKG enthaltenen Fiktion "so gilt er nicht mehr als vermindert bergmännisch berufsfähig" ergibt sich, daß diese Vorschrift im Gegensatz zu § 86 Abs. 1 RKG davon ausgeht, daß der Versicherte weiterhin vermindert bergmännisch berufsfähig ist. Die Tätigkeit, die er entweder tatsächlich verrichtet oder zu deren Verrichtung er nunmehr in der Lage ist, braucht deshalb den Anforderungen des § 45 Abs. 2 RKG an eine Verweisungstätigkeit nicht zu entsprechen. So ist es nicht erforderlich, daß es sich um eine Tätigkeit handelt, die von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten verrichtet wird. Der Abs. 2 des § 86 RKG wäre nicht erforderlich, wenn man den Wegfall der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit fordern wollte, denn dann sind bereits die Voraussetzungen des § 86 Abs. 1 für eine Rentenentziehung erfüllt. Sicherlich soll nach § 86 Abs. 2 RKG die Bergmannsrente nicht ohne jede Rücksicht auf die Qualität der verrichteten Tätigkeit entzogen werden. Daß es sich aber bei der zur Entziehung berechtigenden Tätigkeit nicht um eine völlig unqualifizierte Arbeit handelt, ist bereits dadurch sichergestellt, daß die Vorschrift neue, d. h. andersartige Kenntnisse und Fertigkeiten verlangt, die der Versicherte in seinem bisherigen Beruf nicht hatte. Dabei rechtfertigen nach der zitierten Rechtsprechung des erkennenden Senats nur solche neue Kenntnisse und Fertigkeiten die Rentenentziehung, die in einer Zeit von mindestens drei Monaten erworben werden. Sind unter neuen Kenntnissen und Fertigkeiten im Sinne des § 86 Abs. 2 RKG aber nur solche zu verstehen, die in mindestens dreimonatiger Anlernung erworben werden, so ist gewährleistet, daß es sich um eine Tätigkeit handeln muß, die zwar nicht unbedingt von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten verrichtet wird, die aber - auch mit Rücksicht auf das erzielte Einkommen - gewissen qualitativen Mindestansprüchen genügt.

Für die Frage, ob das Entgelt des Versicherten die persönliche Rentenbemessungsgrundlage erreicht, kommt es entgegen der Ansicht des SG nicht auf den Tariflohn, sondern auf das effektive Entgelt des Versicherten an. Zwar ist nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats für die Prüfung der wirtschaftlichen Gleichwertigkeit im Sinne des § 45 Abs. 2 RKG der Tariflohn maßgebend. Das liegt aber daran, daß es sich - anders als bei § 86 Abs. 1 Satz 1 RKG - um eine hypothetische Verweisungstätigkeit handelt, für die es einen Effektivlohn nicht gibt. Die Gleichwertigkeitsprüfung nach § 45 Abs. 2 RKG, die sich in der Regel auf nicht verrichtete Tätigkeiten bezieht, setzt einen Vergleich der erzielbaren Löhne voraus. Der mit einer Tätigkeit erzielbare Lohn ergibt sich aber aus dem Tarifvertrag, dem entnommen werden kann, was ein Arbeitnehmer bei normaler Arbeitsleistung mit dieser Tätigkeit erwerben kann. Im Falle des § 86 Abs. 1 Satz 1 RKG handelt es sich jedoch nicht um eine hypothetische Verweisungstätigkeit, sondern um eine Tätigkeit, die der Versicherte tatsächlich ausübt. Da das aus dieser Tätigkeit erzielte Einkommen feststeht, braucht nicht auf den Tariflohn zurückgegriffen zu werden. Maßgebend ist - wie auch der Wortlaut des Gesetzes erkennen läßt - der tatsächlich erzielte Lohn. Nach § 86 Abs. 2 Satz 3 RKG ist lediglich der Familienzuschlag und der Wohnungsgeldzuschuß unberücksichtigt zu lassen, soweit dieser den Wohnungsgeldzuschuß eines ledigen Versicherten ohne Angehörige übersteigt. Zwar handelt es sich bei der Gleichwertigkeitsprüfung nach § 45 Abs. 1 Nr. 2 RKG ebenso wie bei § 86 Abs. 2 Satz 1 RKG um eine tatsächlich verrichtete Tätigkeit. Wenn die Rechtsprechung bei dieser Gleichwertigkeitsprüfung solche Zulagen und Prämien unberücksichtigt gelassen hat, die für überdurchschnittliche Leistungen gewährt werden (vgl. SozR Nr. 38 zu § 45 RKG), so liegt das daran, daß § 45 Abs. 1 Nr. 2 RKG nicht auf die effektive Höhe des jeweiligen Erwerbseinkommens, sondern auf den objektiven wirtschaftlichen Wert der zu vergleichenden Tätigkeiten abstellt, der sich in der Regel aus der tariflich vorgeschriebenen Vergütung ergibt, auf die ein Arbeitnehmer auf jeden Fall Anspruch erheben kann (vgl. SozR Nrn. 29 und 32 zu § 45 RKG; SozR 2600 Nr. 2 zu § 45). Da auf der einen Seite des Vergleichs - bei der bisher verrichteten knappschaftlichen Arbeit - nur der Tariflohn als Vergleichsgröße in Betracht kommt, kann auch auf der anderen Seite - bei der tatsächlich verrichteten knappschaftlichen Arbeit - nur der Tariflohn berücksichtigt werden, weil nur Vergleichbares verglichen werden kann. Demgegenüber schreibt § 86 Abs. 2 Satz 1 RKG nicht den Vergleich des objektiven wirtschaftlichen Werts zweier Tätigkeiten, sondern den Vergleich des effektiven Entgelts mit einer feststehenden Größe (persönliche Rentenbemessungsgrundlage) vor, die sich aus dem gesamten knappschaftlichen Erwerbsleben des Versicherten ergibt. Ob diese Unterscheidung sozialpolitisch sinnvoll ist, hat allein der Gesetzgeber zu entscheiden. Kommt es nach § 86 Abs. 2 Satz 1 RKG aber auf das effektive Entgelt des Versicherten an, so können Zulagen für Wechselschichten, Nachtarbeit oder Überstunden nicht unberücksichtigt bleiben. Das Argument des Klägers, für diesen Teil des Effektivlohnes seien nicht die neuen Kenntnisse und Fertigkeiten, sondern die Mehrarbeit kausal, überzeugt nicht. Erst die neuen Kenntnisse und Fertigkeiten des Klägers ermöglichen es ihm, die Tätigkeit und damit auch die Mehrarbeit zu verrichten. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des SG überstieg im Jahre 1974 der Effektivlohn des Klägers die persönliche Rentenbemessungsgrundlage, so daß die Voraussetzungen des § 86 Abs. 2 Satz 1 RKG erfüllt waren und die Beklagte die Bergmannsrente entziehen durfte.

Der Senat hat auf die danach begründete Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 241

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge