Leitsatz (amtlich)
Der Anspruch gegen den Träger der Rentenversicherung auf stationäre Tuberkulose-Heilbehandlung entfällt bei Unterbringung in Anstaltspflege wegen Geisteskrankheit auch, wenn Anstaltspflege und Heilbehandlung gleichzeitig beginnen.
Normenkette
RVO § 1244a Abs. 7 S. 3 Fassung: 1959-07-23
Tenor
Die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. März 1968 und des Sozialgerichts Regensburg vom 6. Oktober 1964 werden aufgehoben, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, die Kosten der stationären Behandlung der E. Ch. für die Zeit vom 2. Februar 1961 bis zum 23. Februar 1962 zu tragen. In diesem Umfange wird die Klage abgewiesen.
Gründe
Die Tochter des Versicherten Ch war im Juni 1959 im Alter von 17 Jahren in die Heil- und Pflegeanstalt R eingewiesen worden. Zu ihrem hochgradigen Schwachsinn war eine Halslymphknoten-Tuberkulose (Tbc) hinzugekommen. Nachdem im Juli 1960 die Tbc abgeklungen war, blieb das Mädchen zwar in der Anstalt, wurde aber von der Isolierabteilung in die Pflegeabteilung verlegt. Später verschlimmerte sich seine Tbc-Erkrankung wieder. Deshalb wurde es abermals - vom 2. Februar 1961 bis zum 23. Februar 1962 - in die Isolierabteilung aufgenommen. Die Pflegeanstalt hat es auch danach bis zu seinem Tode im Jahre 1965 nicht mehr verlassen.
Der Kläger - Sozialhilfeträger - verlangt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) die Erstattung der - vorläufig - von ihm übernommenen Kosten für die stationäre Behandlung des Mädchens in der Zeit vom 2. Februar 1961 bis zum 23. Februar 1962 (§ 27 Abs. 1 Satz 3 des Gesetzes über die Tuberkulosehilfe - THG - vom 23. Juli 1959). - Wegen eines Kostenersatzes im übrigen besteht zwischen den Beteiligten in diesem Rechtszuge kein Streit mehr. Den finanziellen Aufwand für die erste Zeit der stationären Tbc-Behandlung hat die Beklagte getragen. - Der Klageforderung hält die Beklagte entgegen, daß der Anspruch auf Heilbehandlung gegen die Rentenversicherung entfalle, wenn der Kranke in Anstaltspflege untergebracht sei (§ 1244 a Abs. 7 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben dem Klagebegehren entsprochen (Urteil des SG Regensburg vom 6. Oktober 1964; Urteil des Bayerischen LSG vom 7. März 1968), das Berufungsgericht vornehmlich deshalb, weil das Mädchen nicht schon vor seiner ersten Behandlung wegen Tbc in einer Anstalt untergebracht gewesen sei, das Tbc-Leiden auch nicht, wie man zuerst hätte hoffen können, ausgeheilt gewesen, sondern später wieder aufgeflackert und weil die Unterbringung überhaupt nur als vorläufig gedacht gewesen sei.
Die Beklagte hat die - zugelassene - Revision eingelegt. Sie beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen. Ihres Erachtens ist die Begründung des Berufungsurteils nicht folgerichtig. Einerseits, so führt sie aus, habe das LSG der Anstaltspflege zwischen der ersten und der zweiten Tbc-Behandlung keine Bedeutung beigemessen, andererseits habe es ausdrücklich festgestellt, daß die Unterbringung in der Zwischenzeit nicht zur Bekämpfung der Tbc, sondern wegen der mit dem Schwachsinn verbundenen häufigen Unruhephasen notwendig gewesen sei.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Ihm erscheint es als erheblich, daß von einem einheitlichen Tbc-Fall auszugehen und die stationäre Tbc-Behandlung nicht erst zur Anstaltspflege hinzugetreten sei.
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Der Anspruch auf stationäre Heilbehandlung wegen Tbc entfiel, weil die Leistungsberechtigte auf öffentliche Kosten in einer Anstalt untergebracht war (§ 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO). Für diese Rechtsfolge ist es unerheblich, daß die beiden Abschnitte, in denen sich die Kranke wegen Tbc in besonderer Krankenhauspflege befand, auf ein einheitliches Krankheitsgeschehen zurückzuführen sind. Es kommt für die Anwendung des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO nicht darauf an, daß das Erfordernis der Tbc-Versorgung erst eintritt, nachdem der Kranke bereits wegen Geisteskrankheit in einer Anstalt behütet wird. Mit einem Sachverhalt dieser Art hatte sich das Bundessozialgericht (BSG) in einem in SozR Nr. 12 zu RVO § 1244 a veröffentlichten Urteil vom 11. März 1969 - 4 RJ 163/68 - zu befassen. Das zur Begründung jener Entscheidung Ausgeführte ist auf einen Fall wie den vorliegenden zu erstrecken. Auch wenn die "Unterbringung in Anstaltspflege" und die stationäre Heilbehandlung wegen Tbc zur gleichen Zeit beginnen, scheidet die Leistungspflicht der Rentenversicherung aus.
Für diese Auffassung spricht schon die Gesetzesformulierung. Es heißt, daß "bei" Anstaltsbetreuung die Tbc-Hilfe nicht zu Lasten der Rentenversicherung geht. Allerdings weicht hiervon der Wortlaut des § 23 THG (§ 130 des Bundessozialhilfegesetzes) ab. Dort wird ausgesprochen, daß dann, wenn ein Geisteskranker in Anstaltspflege "untergebracht" ist, der für diese Unterbringung zuständige Kostenträger "während der Unterbringung auch die Heilbehandlung" zu gewähren hat. Doch zwingt dieser Text nicht zu der Deutung, daß nur diejenige Tbc-Hilfe, die einem Geisteskranken bei bestehendem Gewahrsam geleistet wird, aus der Verantwortung der Rentenversicherung herausfällt. Eine solche Interpretation wäre mit der erklärten Absicht des Gesetzgebers nicht vereinbar. Nach seinem Willen sollte von zwei öffentlichen Kostenträgern nur einer tätig werden. Durch eine Auftrennung der Aufgaben- und Lastenverteilung wurde eine Überlagerung von Kompetenzen ausgeschlossen. Die Betreuung des von einer Tbc befallenen Geisteskranken wurde demjenigen Verwaltungsträger aufgegeben, aus dessen Mitteln eine Anstaltspflege des Betroffenen finanziert wird (Begründung zu § 24 des Regierungsentwurfs = § 23 THG, Bundestagsdrucksache III/349 S. 19; dazu auch BSG 27, 280, 284). Für diese Zielsetzung ist es gleichgültig, ob die Anstaltspflege gleichzeitig mit oder vor der stationären Tbc-Bekämpfung einsetzt.
Aus diesem Grunde oblag die hier in Rede stehende stationäre Behandlung nicht der beklagten LVA. Diese hat infolgedessen auch nicht für die entstandenen Kosten einzustehen.
Keine Kostenerstattung (§ 193 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes).
Fundstellen