Entscheidungsstichwort (Thema)
Hilflosigkeit eines Versehrten
Leitsatz (redaktionell)
Zur Hilflosigkeit eines Versehrten:
Kommen die Verrichtungen, für die der Versehrte Hilfe braucht - An- und Auskleiden, Waschen, Fuß- und Körperpflege und Baden - nur zweimal täglich, nämlich morgens und abends, in Betracht, so ist der Versehrte nicht in erheblichem Umfange, sondern nur für einzelne Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf fremde Hilfe angewiesen. Soweit eine Begleitperson zum Tragen des Gepäcks erforderlich sein sollte, handelt es sich ebensowenig um eine gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtung im Ablauf des Tages.
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-07-01
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 20. November 1958 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger bezog Rente auf Grund des Hessischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetzes (KBLG) wegen der Folgen einer Verwundung am linken Bein, die er im Juni 1940 als Soldat erlitten hatte. Durch Umanerkennungsbescheid vom 17. August 1951 wurden als Schädigungsfolgen anerkannt: Versteifung des linken Knie- und Hüftgelenks und leichte Bewegungsbehinderung des linken Fußgelenks mit Verkürzung des Beines um 5 cm, Wackelknie rechts; die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) wurde mit 80 % festgesetzt. Im August 1953 beantragte der Kläger unter Vorlegung einer Bescheinigung der ihn behandelnden Nervenärztin Dr. St vom 1. August 1953 und der über ihn während der Kriegszeit entstandenen Lazarettunterlagen die Gewährung von Pflegezulage und eine Erhöhung der Rente wegen Verschlimmerung der Schädigungsfolgen. Nach Untersuchung und Begutachtung durch den Internisten Dr. F, den Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenleiden Dr. O und Dr. F von der Nervenabteilung II der Versorgungsärztlichen Untersuchungsstelle, sämtlich vom 30. Oktober 1953, lehnte das Versorgungsamt durch Bescheid vom 2. April 1954 die Gewährung von Pflegezulage und eine Erhöhung der Versorgungsgebührnisse ab. Der Widerspruch blieb nach Einholung einer ärztlichen Stellungnahme von Reg. Med..Rat Dr. T vom 28. Juli 1954 erfolglos.
Mit der Klage hat der Kläger ärztliche Bescheinigungen der ihn behandelnden Fachärzte für Chirurgie Dres. Sch und D vom 28. November 1953 und 28. März 1957 sowie eine Bescheinigung des Dipl. Ing. R vom 8. Oktober 1957 vorgelegt. Das Sozialgericht hat die Krankengeschichte der Orthopädischen Landesklinik in K über die stationäre Behandlung des Klägers vom 6. August 1954 bis zum 18. November 1954 herangezogen und sodann das Gutachten des Dozenten Dr. E Leiters der Orthopädischen Abteilung der Chirurgischen Universitätsklinik M, vom 7. Oktober 1955, das Zusatzgutachten der Poliklinik der Universitätsnervenklinik in M vom 8. Oktober 1955 sowie den Befundbericht der Nervenärztin Dr. St vom 23. August 1956 erstatten lassen. Durch Urteil vom 20. Dezember 1957 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.
Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht durch Urteil vom 20. November 1958 zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Es hat auf Grund der vom Sozialgericht eingeholten ärztlichen Gutachten die Schädigungsfolgen übereinstimmend mit dem Umanerkennungsbescheid bezeichnet und weiter festgestellt, daß der Kläger in bezug auf die häufig und regelmäßig vorkommenden notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens lediglich zum An- und Auskleiden fremde Hilfe benötige; ferner sei er noch auf Hilfe zum Waschen des versteiften Beines und zur Fuß- und Körperpflege sowie zum Transport von Gepäckstücken angewiesen. Hierbei handele es sich nicht um häufige und regelmäßig wiederkehrende notwendige Verrichtungen. Das gleiche gelte für die kleineren Handreichungen seines Zimmerkollegen im Dienst. Die Voraussetzungen des § 35 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) seien nicht gegeben.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
1. unter Aufhebung des Urteils des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. November 1958 und des Urteils des Sozialgerichts Kassel vom 20. Dezember 1957 sowie des Widerspruchsbescheides vom 28. August 1954 und in Abänderung des Bescheides vom 2. April 1954 den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Juli 1953 Pflegezulage in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
2. Hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hessische Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Er rügt mit näherer Begründung eine unzureichende Sachaufklärung und eine Überschreitung der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung, außerdem eine Verletzung des § 35 BVG.
Der Beklagte beantragt,
die Revision gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 20. November 1958 als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist mithin zulässig.
Wie das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, hat das Revisionsgericht vor Untersuchung der Begründetheit der Revision auf Grund der geltend gemachten Revisionsgründe von Amts wegen zu prüfen, ob irgendwelche unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen fehlen. Zu diesen gehört auch die Zulässigkeit der Berufung (BSG. 2 S. 225, 3 S. 126 und 281). Gegen sie können vorliegend aus § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) keine Bedenken hergeleitet werden. Der Kläger hat am 2. August 1953 erstmals Gewährung von Pflegezulage nach dem BVG beantragt. Das bedeutet, daß es sich hier nicht um eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse, sondern vielmehr um die Erstfeststellung über einen Teil der Versorgungsbezüge, nämlich die Pflegezulage, handelt (BSG. 3 S. 274, 8 S. 97, SozR. SGG § 148 Bl. Da 6 Nr. 17). Infolgedessen ist hier das Landessozialgericht zu Recht davon ausgegangen, daß die Berufung zulässig war.
Die Revision des Klägers ist jedoch nicht begründet.
Die Rügen einer Verletzung der §§ 103 und 128 SGG greifen nicht durch. Nach § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Für den Umfang seiner Ermittlungen kommt es darauf an, ob es bei seiner Urteilsfällung die ihm bis dahin bekannt gewordenen Tatsachen nach seiner sachlich-rechtlichen Beurteilung des Streitstoffes als ausreichend ansehen durfte oder sich zu weiteren Ermittlungen hätte veranlaßt sehen müssen. Nur soweit das Gericht zu dieser Zeit überzeugt gewesen ist, die Entscheidung des Rechtsstreits hänge von bestimmten tatsächlichen Umständen ab, war es verpflichtet, sie aufzuklären, Tatsächliche Umstände, die das Gericht für rechtlich unerheblich hält, braucht es nicht zu erforschen. In § 103 Satz 2 SGG ist deshalb ausdrücklich gesagt, daß das Gericht bei der Erforschung des Sachverhalts an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden ist. Es bestimmt im Rahmen seines richterlichen Ermessens die Ermittlungen und Maßnahmen, die nach seiner Beurteilung der materiellen Rechtslage zur Aufklärung des Sachverhalts notwendig sind (BSG. in SozR. SGG § 103 Bl. Da 2 Nr. 7).
In dem Gutachten der Universitäts-Nervenklinik M ist nicht, wie der Kläger vorträgt, von einer Hyperaesthesie, einer Überempfindlichkeit des linken Beines, sondern von einer Hypaesthesie, also einer herabgesetzten Empfindlichkeit, die Rede. Es ist in diesem Gutachten auch nicht ausgeführt worden, daß diese Hypaesthesie eine besondere tägliche Pflege des linken Beines notwendig mache, was bei einer Hyperaesthesie auch ohne ärztlichen Hinweis verständlich sein könnte. Die Hyperhidrosis des Klägers ist nach dem Gutachten nicht nur auf das linke Bein allein zu beziehen, sondern sie besteht am ganzen Körper. Infolgedessen ist wegen der Hyperhidrosis im Gutachten eine besondere tägliche Behandlungsbedürftigkeit des linken Beines nicht dargetan oder ersichtlich. Auf die Hyperhidrosis geht auch der behandelnde Arzt Dr. D in seiner vom Landessozialgericht festgestellten Bescheinigung vom 28. März 1957 ein, der Wannenbäder für notwendig bezeichnet hat. Danach bestand für das Landessozialgericht keine ärztliche Aktenunterlage, welche auf besondere Maßnahmen zur täglichen Pflege des linken Beines hingewiesen hätte. Auch konnte das Berufungsgericht aus den übrigen ärztlichen Unterlagen keine Anhaltspunkte dafür gewinnen, daß der Kläger etwa in höherem Maße, als die Ärzte der M Kliniken angegeben haben, auf Hilfe angewiesen sei. Vor allem hat der Kläger in den Vorinstanzen hierüber nichts weiter vorgetragen, er hat nicht einmal seine Berufung schriftlich begründet, obwohl das Urteil des Sozialgerichts ihn auf alle maßgebenden Gesichtspunkte hingewiesen hatte. Infolgedessen brauchte das Landessozialgericht sich zu weiterer Aufklärung in dieser Richtung nicht veranlaßt zu sehen. Erstmalig in der Revisionsinstanz ist geltend gemacht worden, der Kläger brauche auch zum Aufstehen aus dem Bett und bei Verrichtung der Notdurft fremde Hilfe; insoweit handelt es sich jedoch um neues Vorbringen in der Revisionsinstanz, das einer Nachprüfung durch das Revisionsgericht entzogen ist. Mithin entbehrt die Rüge einer Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) der Begründung und konnte nicht durchgreifen.
Auch eine Überschreitung der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung liegt nicht vor, weil das Landessozialgericht den ihm vorliegenden gesamten Streitstoff berücksichtigt und bei seiner Würdigung weder gegen Denkgesetze verstoßen noch allgemeine Erfahrungsregeln des täglichen Lebens außer acht gelassen hat. Zwar ist das Berufungsgericht auf die von dem behandelnden Arzt des Klägers, Dr. D bescheinigte Notwendigkeit täglicher Wannenbäder, die es festgestellt hat, in seinen Urteilsgründen nicht näher eingegangen. Dies begründet jedoch vorliegend keinen wesentlichen Mangel des Verfahrens, weil sich aus dem angefochtenen Urteil ergibt, daß das Landessozialgericht alle für seine Entscheidung maßgebenden Umstände sachentsprechend gewürdigt hat (BSG. 1 S. 91 ff. (94) = SozR. SGG § 128 Bl. Da 1 Nr. 1). Es hat festgestellt, daß der Kläger - neben anderem - zum Waschen des versteiften Beines und zu dessen Fußpflege fremder Hilfe bedarf. Wenn auch die Hilfe bei täglichen Wannenbädern zeitlich länger als bei täglichen Waschungen geleistet werden muß, so wird sie doch hinsichtlich der notwendigen Gelegenheit nicht vermehrt in Anspruch genommen. Infolgedessen war es nicht erforderlich, daß das Berufungsgericht auf die Hilfe beim Baden neben der beim täglichen Waschen noch gesondert eingegangen wäre. Ferner sind die Ausführungen gegen das Gutachten des Dozenten Dr. E nicht begründet. Dieser hat vielmehr nur ausgeführt, zu welchen Verrichtungen der Kläger auf fremde Hilfe angewiesen sei. Im Anschluß hieran hat er erwogen - obwohl dies keine ärztliche, sondern eine versorgungsrechtliche Aufgabe ist -, ob der Kläger im Sinne des § 35 BVG so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. Die Ausführungen zu beiden Punkten betreffen also verschiedene Sachgebiete. Die - an sich dem Arzt nicht obliegende - rechtliche Würdigung ist aber mit seinen ärztlichen Feststellungen durchaus vereinbar, so daß Widersprüche im Gutachten nicht zu erkennen sind. Daher ist die Vorschrift des § 128 Abs. 1 SGG ebenfalls nicht verletzt.
Die Feststellungen des Landessozialgerichts über die beim Kläger bestehenden Schädigungsfolgen sind nicht angegriffen worden.
Da nach Vorstehendem zulässige und begründete Revisionsgründe gegen die weiteren Feststellungen über die Verrichtungen, zu welchen der Kläger auf fremde Hilfe angewiesen ist, nicht vorgebracht sind, binden alle diese Feststellungen das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG.
Eine Verletzung des § 35 BVG ist nicht ersichtlich. Nach dieser Vorschrift wird Pflegezulage gewährt, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. Der Begriff der Hilflosigkeit ist im Gesetz nicht erläutert. Er ist dahin zu verstehen, daß derjenige Beschädigte hilflos im Sinne des § 35 BVG ist, der ohne Berücksichtigung seines Familienstandes oder wirtschaftlicher Gesichtspunkte für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden - nicht nur für einzelne - Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf; dabei ist nicht erforderlich, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird. Es genügt schon, daß die Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muß (BSG. 8 S. 97 (99, 100)). Die Frage, ob der Kläger infolge der bei ihm festgestellten Behinderungen hilflos ist oder nicht, ist nicht in erster Linie eine medizinische, sondern eine tatsächliche Frage. Die Verrichtungen, die für den Kläger in Betracht kommen, das An- und Auskleiden sowie das Waschen, die Fuß- und Körperpflege und das Baden, kommen nur zweimal täglich, morgens und abends, in Betracht. Bei dieser Sachlage konnte die Vorinstanz unbedenklich entscheiden, daß der Kläger nur für einzelne Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens und außerdem nicht in erheblichem Umfange auf fremde Hilfe angewiesen ist. Die Art der Körperbehinderung macht eine Hilfe für die gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des Tages nicht notwendig. Der Kläger konnte - solange er noch als Beamter im Dienst war - mit dem ihm zur Verfügung stehenden und durch einen Zuschuß des Versorgungsamts beschafften Kraftwagen seine Dienststelle aufsuchen. Eine Begleitperson ist nur notwendig zum Tragen des Gepäcks; das aber ist keine gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtung im Ablauf des Tages. Im übrigen kann der Kläger sich selbst ständig fortbewegen. Daß der Gang sehr mühsam ist, ist dabei für die Anwendung des § 35 BVG ohne Bedeutung. Dem wird vielmehr durch den bereits erwähnten Kraftwagen Rechnung getragen. Da sonach die Voraussetzungen des § 35 BVG nicht erfüllt sind, war die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen