Entscheidungsstichwort (Thema)
Gestaltungswirkung der Befreiungsbescheinigung (§ 518 RVO)
Leitsatz (amtlich)
Ein nach RVO § 517 von der Mitgliedschaft bei der Pflichtkrankenkasse befreites Ersatzkassenmitglied, dessen Jahresarbeitsverdienst zeitweilig die Krankenversicherungspflichtgrenze überschritten hatte, wird, wenn seine Beschäftigung infolge einer Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze wieder krankenversicherungspflichtig wird, bei fortbestehender Mitgliedschaft in der Ersatzkasse nicht Mitglied der Pflichtkrankenkasse. Der erneuten Vorlage einer Mitgliedsbescheinigung der Ersatzkasse beim Arbeitgeber bedarf es nicht.
Orientierungssatz
Die Vorlage der Mitgliedsbescheinigung der Ersatzkasse bewirkt zunächst nur, daß die Mitgliedschaft bei der zuständigen Pflichtkrankenkasse erlischt. Darin erschöpft sich jedoch die Gestaltungswirkung der Befreiungsbescheinigung nicht. Wenn und solange die Bescheinigung dem Arbeitgeber vorliegt (zu ihrer Aufbewahrung vgl § 3 Abs 1 Nr 2 BÜV vom 28. Juni 1963, BGBl I 1963, 445), hat sie außerdem zur Folge, daß bei Wiedereintritt der Versicherungspflicht eine Mitgliedschaft bei der zuständigen Pflichtkrankenkasse nicht neu entstehen kann. Insofern hat die Vorlage der Befreiungsbescheinigung nach § 517 f RVO auch eine in die Zukunft reichende Gestaltungswirkung (Dauerwirkung).
Normenkette
RVO § 165 Abs 1 Nr 2 Fassung: 1970-12-21, § 517 Fassung: 1924-12-15, § 518 Fassung: 1930-07-26; BÜV § 3 Abs 1 Nr 2 Fassung: 1963-06-28
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Beigeladene B (Beigeladener zu 1) ist seit 1966 Mitglied der beigeladenen Ersatzkasse (Beigeladene zu 2). Seit 1970 ist er bei den Klägern als Angestellter beschäftigt und hat ihnen seinerzeit zur Befreiung von der Pflichtversicherung bei der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) eine Bescheinigung über seine Ersatzkassenmitgliedschaft gemäß § 517 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vorgelegt. Ab 1. Januar 1971 hatte sein Jahresarbeitsverdienst die Versicherungspflichtgrenze des § 165 Abs 1 Nr 2 RVO überschritten. Die Beigeladene zu 2) hatte seine Versicherung daraufhin als freiwillige fortgeführt. Ab 1. Januar 1976 unterschritt sein monatliches Einkommen von 2.110,-- DM wieder - die damals auf 2.325,-- DM monatlich erhöhte - Versicherungspflichtgrenze.
Mit Bescheid vom 31. Oktober 1977 und Widerspruchsbescheid vom 13. April 1978 stellte die Beklagte die Pflichtmitgliedschaft des Beigeladenen zu 1) bei ihr fest; zugleich forderte sie von den Klägern die Nachzahlung der vom 1. Januar 1976 bis 31. Oktober 1977 aufgelaufenen Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von 5.848,92 DM.
Das Sozialgericht (SG) hat diese Bescheide mit Urteil vom 4. Mai 1979 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 24. Januar 1980): Der Beigeladene zu 1) sei zwar 1970 krankenversicherungspflichtig gewesen; er habe damals jedoch sein Befreiungsrecht gemäß § 517 RVO ausgeübt. Für den Fortbestand der Befreiung von der Pflichtversicherung bei der Beklagten sei unerheblich, daß sein Arbeitseinkommen zwischen dem 1. Januar 1971 und dem 31. Dezember 1975 die Krankenversicherungspflichtgrenze überstiegen habe.
Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision der Beklagten. Sie meint, auch in den Fällen einer früheren Befreiung nach § 517 RVO entstehe dann, wenn der Jahresarbeitsverdienst von einem bestimmten Zeitpunkt an wieder innerhalb der Pflichtversicherungsgrenze liege, ein neues Mitgliedschaftsverhältnis bei der zuständigen Pflichtkrankenkasse; in einem solchen Falle müsse der Versicherte erneut eine Befreiungserklärung iS des § 517 RVO abgeben, um die Doppelversicherung auszuschließen. Da der Beigeladene zu 1) eine ab 1. Januar 1976 wirksame Befreiungserklärung nicht abgegeben habe, seien die Kläger zur Entrichtung der Krankenversicherungsbeiträge für den Beigeladenen zu 1) verpflichtet.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts
Rheinland-Pfalz vom 24. Januar 1980
und das Urteil des Sozialgerichts Speyer
vom 4. Mai 1979 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Die Kläger und die Beigeladenen beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie halten die angefochtenen Urteile für zutreffend.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Entgegen der Annahme der beklagten AOK ist der Beigeladene zu 1) nicht am 1. Januar 1976 ihr Pflichtmitglied geworden.
Ein nach § 165 RVO krankenversicherungspflichtiger Arbeitnehmer gehört zwar grundsätzlich einer Pflichtkrankenkasse iS des § 225 RVO an. Er ist jedoch berechtigt, einer Ersatzkasse beizutreten, wenn er deren - in der Satzung geregelte - Beitrittsbedingungen (§ 505 RVO) erfüllt (BSGE 16, 165, 168 f). Zur Vermeidung einer Doppelmitgliedschaft, die sich im Falle eines Beitritts zu einer Ersatzkasse ergeben würde und an der der Arbeitnehmer in der Regel kein Interesse hat, ist er nach § 517 Abs 1 RVO berechtigt, sich von der Mitgliedschaft bei der Pflichtkrankenkasse befreien zu lassen. Dieses Befreiungsrecht ist ein Gestaltungsrecht (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Auflage, 39. Nachtrag, S 340e), das durch Erklärung gegenüber dem Arbeitgeber - durch Vorlage einer Ersatzkassen-Mitgliedsbescheinigung - auszuüben ist (§ 517 Abs 2 RVO); seine Ausübung bewirkt, daß der Beschäftigte "aus der Pflichtkasse ausscheidet" (BSGE 11, 218, 225; Brackmann aaO S 340f, 340g). Die Befreiungserklärung führt demnach nicht bloß zum Ruhen, sondern zum Erlöschen der Pflichtmitgliedschaft.
Andererseits wird der Arbeitnehmer durch sie nur von der Zugehörigkeit zu der jeweiligen Pflichtkrankenkasse, nicht dagegen von der Versicherungspflicht überhaupt befreit (Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 17. Auflage 62. Nachtrag, Anm 4 zu § 517 RVO). Im übrigen ist die Mitgliedschaft bei einer Ersatzkasse - als ein freiwillig begründetes Versicherungsverhältnis, das auch in den Fällen der Befreiung nach § 517 RVO grundsätzlich nur durch Ausschluß oder Austritt (§§ 511 ff RVO) endet - von Änderungen in der Abgrenzung des Kreises der versicherungspflichtigen Personen oder von Änderungen des Einkommens beim einzelnen Ersatzkassenmitglied unabhängig. Ebensowenig wie der Verlust der Eigenschaft als versicherungspflichtiger Arbeiter oder Angestellter eine bestehende Mitgliedschaft bei einer Ersatzkasse zum Erlöschen bringt (vgl § 15 des Gesetzes vom 13. August 1952 - BGBl I 437 -), führt das Ausscheiden aus der Krankenversicherungspflicht wegen Überschreitung der Versicherungspflichtgrenze zur Beendigung der Ersatzkassenmitgliedschaft. Das gleiche gilt für den Fall, daß ein bisher nicht krankenversicherungspflichtiges Ersatzkassenmitglied (wieder) versicherungspflichtig wird. Derartige Änderungen berühren nur den Inhalt, nicht den Bestand des Versicherungsverhältnisses bei der Ersatzkasse.
Bewirkt mithin eine Änderung in der Versicherungspflicht des Ersatzkassenmitgliedes nicht die Beendigung seiner Mitgliedschaft bei der Ersatzkasse, dann bleibt auch eine früher von der Ersatzkasse ausgestellte Mitgliedsbescheinigung weiterhin gültig und eine durch Vorlage dieser Bescheinigung beim Arbeitgeber erfolgte Befreiung von der Mitgliedschaft bei der Pflichtkrankenkasse wirksam.
Zuzugeben ist der Beklagten allerdings, daß ein bisher nicht versicherungspflichtig gewesener Arbeitnehmer, der erstmals oder (nachdem er früher schon einmal versicherungspflichtig gewesen war) erneut versicherungspflichtig wird, insbesondere wegen einer nachträglichen Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze, zugleich mit dem Eintritt (Wiedereintritt) der Versicherungspflicht grundsätzlich kraft Gesetzes Mitglied der für ihn zuständigen Pflichtkrankenkasse wird. Dies gilt nicht nur für Arbeitnehmer, die bisher weder einer gesetzlichen Krankenkasse noch einer Ersatzkasse angehört haben, sondern auch für Mitglieder einer Ersatzkasse. Auch sie werden, wenn ihre Beschäftigung nachträglich versicherungspflichtig wird, grundsätzlich Mitglieder der für sie zuständigen Pflichtkrankenkasse und müssen dieser von ihrem Arbeitgeber innerhalb der Meldefrist (§ 317 RVO) gemeldet werden.
Eine Ausnahme muß indessen - entgegen der Ansicht der Beklagten - für solche Ersatzkassenmitglieder gemacht werden, die - wie der Beigeladene zu 1) - schon früher einmal versicherungspflichtig gewesen waren und damals ihrem Arbeitgeber eine Mitgliedsbescheinigung der Ersatzkasse vorgelegt hatten. Die Vorlage dieser Bescheinigung bewirkt zwar zunächst nur, daß die Mitgliedschaft bei der zuständigen Pflichtkrankenkasse erlischt. Darin erschöpft sich jedoch die Gestaltungswirkung der Befreiungsbescheinigung nicht. Wenn und solange die Bescheinigung dem Arbeitgeber vorliegt (zu ihrer Aufbewahrung vgl § 3 Abs 1 Nr 2 der Beitragsüberwachungsverordnung vom 28. Juli 1963, BGBl I 445), hat sie außerdem zur Folge, daß bei Wiedereintritt der Versicherungspflicht eine Mitgliedschaft bei der zuständigen Pflichtkrankenkasse nicht neu entstehen kann. Insofern hat die Vorlage der Befreiungsbescheinigung nach § 517 f RVO auch eine in die Zukunft reichende Gestaltungswirkung (Dauerwirkung). Dabei wird vorausgesetzt, daß der Arbeitgeber inzwischen nicht gewechselt hat und die Mitgliedschaft bei der Ersatzkasse fortbesteht. Unter diesen Voraussetzungen wäre es eine leere Formalität, wenn der - wieder versicherungspflichtig gewordene - Arbeitnehmer, um eine Doppelmitgliedschaft bei der Pflichtkrankenkasse zu vermeiden, sich bei seiner Ersatzkasse eine neue Befreiungsbescheinigung ausstellen lassen und diese wiederum dem Arbeitgeber vorlegen müßte, zumal eine solche Bescheinigung bei wörtlicher Auslegung des § 518 Satz 2 RVO nicht einmal kostenfrei ausgestellt würde.
In Fällen dieser Art hat mithin eine nachträgliche Veränderung der Versicherungspflichtgrenze, die dazu führt, daß das Ersatzkassenmitglied wieder versicherungspflichtig wird, nicht zur Folge, daß neben dem freiwilligen Versicherungsverhältnis bei der Ersatzkasse ein gesetzliches Versicherungsverhältnis bei der Pflichtkrankenkasse und damit eine Doppelversicherung entsteht.
Da der Beigeladene zu 1) hiernach nicht ab 1. Januar 1976 in einem Mitgliedschaftsverhältnis bei der Beklagten stand, schulden die Kläger der Beklagten nicht die von dieser geforderten Beiträge.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen