Leitsatz (redaktionell)

Die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Zukunft ist nach den anerkannten Rechtsgrundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts auch dann zulässig, wenn die Rechtswidrigkeit ausschließlich in den Verantwortungsbereich der Behörde fällt. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, wie lange der begünstigende Verwaltungsakt bestanden hat und wie lange Leistungen voraussichtlich noch zu gewähren sind, falls die Bewilligung nicht zurückgenommen wird.

 

Normenkette

KOVVfG § 41 Fassung: 1955-05-02; BGB § 242

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 13. November 1957 und des Sozialgerichts Hamburg vom 21. Oktober 1955 aufgehoben. Die Klage und die Widerklage werden abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der frühere Ehemann der Klägerin wurde wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt und am 15. Januar 1940 hingerichtet. Die Beklagte erkannte durch Bescheid vom 14. Oktober 1949 den Tod als Schädigungsfolge i.S. der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 an und gewährte Waisenrente, aber keine Witwenrente, weil die dafür nach der SVD erforderlichen persönlichen Voraussetzungen nicht erfüllt waren. Durch Bescheid vom 3. April 1951 erhielt die Klägerin Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Die Beklagte entzog diese Rente vom 1. August 1954 an durch einen auf Ziffer 26 der Sozialversicherungsanordnung (SVA) Nr. 11 gestützten Bescheid vom 10. Juni 1954, weil die Voraussetzungen, unter denen die Hinrichtung als Schädigungsfolge i.S. des § 1 BVG hätte angesehen werden können (§ 1 Abs. 2 Buchst. d BVG), nicht zutrafen. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen. Mit der Klage begehrte die Klägerin die Aufhebung des Bescheids vom 10. Juni 1954 und die Verurteilung zur Weiterzahlung der Witwenrente über den 31. Juli 1954 hinaus. Die Beklagte beantragte Klagabweisung, hilfsweise mit der am 13. August 1955 schriftlich erhobenen Widerklage die Feststellung, daß ein Versorgungsrechtsverhältnis seit 1. April 1955 nicht mehr bestehe. Das Sozialgericht (SG) hob durch Urteil vom 21. Oktober 1955 die angefochtenen Bescheide auf und verurteilte die Beklagte, die Witwenrente noch für die Zeit vom 1. August 1954 bis zum 30. September 1955 zu zahlen. Auf die Widerklage der Beklagten stellte es fest, daß vom 1. Oktober 1955 an ein Versorgungsrechtsverhältnis nicht mehr bestehe. Im übrigen wies es die Klage und die Widerklage als unbegründet ab. Das SG führte aus, die Witwenrente sei zu Unrecht bewilligt worden, da die Hinrichtung des Ehemannes der Klägerin den Umständen nach nicht als offensichtliches Unrecht anzusehen und daher keine Schädigungsfolge i.S. des § 1 Abs. 1 und 2 Buchst. d BVG sei. Der am 10. Juni 1954 erlassene Bescheid könne weder auf Ziffer 26 der SVA Nr. 11 noch auf § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) gestützt werden, weil damals die erstgenannte Vorschrift nicht mehr, die zuletzt genannte noch nicht gegolten habe. Die Widerklage vom 13. August 1955 sei zulässig, sie könne jedoch nur den Erfolg haben wie ein zu diesem Zeitpunkt erlassener Berichtigungsbescheid. Deshalb sei festzustellen, daß mit Ablauf des auf die Erhebung der Widerklage folgenden Monats, d.h. vom 1. Oktober 1955 an, ein Versorgungsrechtsverhältnis nicht mehr bestanden habe. Beide Beteiligten legten Berufung ein. Die Klägerin nahm ihre Berufung wieder zurück. Die Beklagte beantragte, unter Aufhebung des Urteils des SG die Klage abzuweisen, hilfsweise der Widerklage im vollen Umfange stattzugeben. Das Landessozialgericht (LSG) wies durch Urteil vom 13. November 1957 die Berufung der Beklagten zurück. Es war ebenfalls der Ansicht, der Bescheid vom 10. Juni 1954 könne weder auf Ziffer 26 der SVA Nr. 11 noch auf § 41 VerwVG gestützt werden. Die Beklagte habe sich statt eines seit dem 1. April 1955 nach § 41 VerwVG möglichen neuen Berichtigungsbescheids der Widerklage bedienen können, solange sie die rechtliche Zulässigkeit eines Berichtigungsbescheids nicht für geklärt und den Bescheid vom 10. Juni 1954 für rechtmäßig gehalten habe. Dies sei auch einfacher gewesen, zumal der neue Bescheid nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden wäre. Die Beklagte habe daher den Streit über die Aufhebung des Bescheids vom 3. April 1951 mit einer eventualiter erhobenen Feststellungswiderklage in das Verfahren einführen dürfen. Da aber auch durch einen neuen Berichtigungsbescheid nach § 41 VerwVG die Verpflichtungen nicht für die Vergangenheit hätten aufgehoben werden können, sei die vom SG auf die Widerklage getroffene Feststellung, daß vom 1. Oktober 1955 an ein Versorgungsrechtsverhältnis nicht mehr bestehe, gerechtfertigt. Die Revision wurde zugelassen.

Die Beklagte hat gegen das am 28. Dezember 1957 zugestellte Urteil am 25. Januar 1958 Revision eingelegt mit dem Antrag,

unter Aufhebung der Urteile des LSG und des SG Hamburg die Klage abzuweisen,

hilfsweise, der Widerklage stattzugeben.

Sie hat die Revision am 28. Februar 1958 - innerhalb der bis zum 28. März 1958 verlängerten Begründungsfrist - begründet. Sie hält nicht mehr die Rügen aufrecht, die sie zunächst gegen die Rechtsauffassung des LSG über die zeitliche Geltung der Ziffer 26 der SVA Nr. 11 und des § 41 VerwVG vorgebracht hatte. Sie will sich auch nicht mehr darauf berufen, daß eine Widerklage an Stelle eines Berichtigungsbescheides möglich gewesen sei. Ihrer Ansicht nach ist aber der Berichtigungsbescheid vom 10. Juni 1954 nach den damals anwendbaren Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts als rechtmäßig anzusehen. Das Vertrauen auf künftige Leistungen könne deshalb nicht geschützt sein, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) das Interesse des Begünstigten gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Wiederherstellung eines der Rechtslage entsprechenden Zustandes zurücktreten müsse, wenn der Verwaltungsakt den dauernden Bezug von Leistungen aus öffentlichen Mitteln betreffe (vgl. BVerwGE 8, 2296, 304 mit Nachweisen). Dieser Rechtsprechung sei das Bundessozialgericht (BSG) gefolgt (vgl. BSG 15, 81). In der Regel bestehe ein überwiegendes öffentliches Interesse, auf einer rechtswidrigen Bewilligung beruhende Leistungen für die Zukunft zu verhindern.

Die Klägerin beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen und der Beklagten die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Sie ist der Meinung, der Bescheid vom 10. Juni 1954 sei auch nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts rechtswidrig, da ihr Vertrauen auf den Bestand des Bescheides vom 3. April 1951 geschützt werden müsse, zumal die Unrichtigkeit ausschließlich von der Beklagten zu verantworten sei und der begünstigende Bescheid im Zeitpunkt seiner Berichtigung schon mehr als drei Jahre bestanden habe.

Die zugelassene Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft und, da sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden ist, zulässig (§§ 164, 166 SGG). Die Revision ist auch begründet.

Angefochten ist der Bescheid vom 10. Juni 1954, mit dem der Bescheid vom 3. April 1951 über die erstmalige Feststellung der Witwenrente nach dem BVG - einen begünstigenden Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - vom 1. August 1954 an als rechtswidrig aufgehoben worden ist. Der angefochtene Berichtigungsbescheid ist als Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung nach dem Recht zur Zeit seines Erlasses zu beurteilen (vgl. BSG 8, 11; 10, 72 ff mit weiteren Hinweisen). Mit Recht ist das LSG wie das SG davon ausgegangen, daß dieser Bescheid weder auf Ziffer 26 der SVA Nr. 11 noch auf § 41 VerwVG gestützt werden konnte, weil jene nach Ziffer 26 Abs. 2 bis zum 31. Dezember 1952 befristete Vorschrift über diesen Zeitpunkt hinaus auch durch § 84 Abs. 3 BVG nicht verlängert worden (SozR SVA 11 Bl. Ca 1 Nr. 2, Ca 2 Nr. 3, Ca 3 Nr. 7) und § 41 VerwVG erst am 1. April 1955 in Kraft getreten ist (BSG 8, 11). Indessen hat das LSG wie das SG verkannt, daß in der ehemals britischen Zone zwischen dem 1. Januar 1953 und dem 1. April 1955 rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte in der Kriegsopferversorgung (KOV) nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts geändert oder aufgehoben werden konnten (BSG 8, 11). Zwar hat sich die Beklagte zur Begründung des Bescheides vom 10 Juni 1954 auf diese Grundsätze er im Revisionsverfahren berufen. Ungeachtet dessen mußte aber das LSG bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts prüfen, ob dieser, wenn die rechtliche Begründung nicht zutraf, auf andere rechtliche Vorschriften gestützt werden konnte, sofern dadurch nicht Voraussetzungen, Inhalt und Wirkungen des angefochtenen Bescheids, sondern nur dessen Rechtsgrundlage berührt wurden (BSG 7, 8 [12 und 13]; 10, 209 [211]). Wenn das LSG die Vorschriften der SVA Nr. 11 oder des VerwVG nicht für anwendbar hielt, mußte es auch die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts in Betracht ziehen, die für alle Verwaltungsakte gelten, soweit nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist oder die Besonderheiten des Rechts der KOV eine andere Regelung erfordern. Nach diesen Grundsätzen können rechtswidrige, begünstigende Verwaltungsakte mit Dauerwirkung, auch wenn sie bindend sind, in der Regel jedenfalls für die Zukunft aufgehoben werden, sofern im Einzelfall nicht das Interesse des Begünstigten an dem Schutz seines Vertrauens auf den Bestand des Verwaltungsakts das öffentliche Interesse an der Beseitigung der rechtswidrigen Bewilligung überwiegt (vgl. BSG 15, 81 [82]; BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1960, DVBl 1961, 380 ff). Das LSG ist wie das SG davon ausgegangen, daß zwar der Bescheid vom 3. April 1951 rechtswidrig gewesen ist, daß er aber nicht gemäß Ziffer 26 der SVA Nr. 11 oder gemäß § 41 VerwVG aufgehoben werden konnte. Gegen die Auffassung, daß dieser Bescheid rechtswidrig gewesen ist, sind selbst in der Revision Bedenken nicht erhoben worden. Wenngleich die Rechtswidrigkeit dieses Bescheides vom 3. April 1951 nicht von der Klägerin, sondern allein von der Verwaltungsbehörde zu verantworten ist, welche der Klägerin eine Witwenrente nach dem BVG gewährt hatte, obwohl die Voraussetzungen nicht erfüllt waren, unter denen die Hinrichtung als Schädigung i.S. des § 1 BVG angesehen werden konnte, so durfte dennoch die Versorgungsbehörde diesen Bescheid nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts grundsätzlich mit Wirkung für die Zukunft vom 1. August 1954 an - die vorherliegende Zeit ist nicht im Streit - durch den Bescheid vom 10. Juni 1954 aufheben. Das öffentliche Interesse, Leistungen, die von Anfang an der materiellen Rechtsgrundlage entbehrten, für die Zukunft zu beseitigen, überwiegt in der Regel auch dann das Interesse an dem Schutz des Vertrauens auf den Bestand des Bescheids, wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit nicht zu verantworten hat. Bei der Abwägung dieser Interessen ist allerdings zu berücksichtigen, wie lange der begünstigende Verwaltungsakt bestanden hat und wie lange Leistungen voraussichtlich noch zu gewähren sind, falls die Bewilligung nicht zurückgenommen wird (BSG 15, 81, 82 mit Hinweis auf das erwähnte Urteil des BVerwG). Im vorliegenden Fall hat der Bescheid, mit dem die Witwenrente nach dem BVG bewilligt worden ist, bis zur Berichtigung etwa 3 1/4 Jahre bestanden, und die Klägerin hat sich danach wieder verheiratet. Sie hätte aber bei Erlaß des Berichtigungsbescheides, da sie damals erst 45 Jahre alt war, noch erhebliche Leistungen zu erwarten; zudem würde sie nach der Wiederverheiratung an Stelle des Anspruchs auf Rente eine beträchtliche Abfindung beanspruchen können und es würde bei einer von ihr nicht allein oder nicht überwiegend verschuldeten Auflösung der neuen Ehe der Anspruch auf die Witwenrente wieder aufleben (vgl. § 44 Abs. 1 und 2 BVG). Unter den gegebenen Umständen überwiegt das Interesse der Allgemeinheit an der Herstellung und der gleichmäßigen Gewährleistung des dem Gesetz entsprechenden Rechtszustandes gegenüber dem Interesse der Klägerin, die rechtswidrige Bewilligung in dem Bescheid vom 3. April 1951 über den 1. August 1954 hinaus aufrechtzuerhalten. Zu Unrecht hat daher das LSG die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen, das auf die Klage der Klägerin den Bescheid vom 10. Juni 1954 aufgehoben und die Beklagte verurteilt hatte, die Witwenrente über den 1. August 1954 hinaus bis zum 30. September 1955 zu zahlen. Der Bescheid, durch den die rechtswidrige Bewilligung für die Zukunft aufgehoben und der Anspruch auf künftige Leistungen beseitigt wurde, war rechtmäßig. Die Klage auf Aufhebung dieses Bescheids und auf Verurteilung zur Weiterzahlung der Rente war unbegründet.

Die Widerklage der Beklagten haben das SG und das LSG als zulässig angesehen und festgestellt, daß ab 1. Oktober 1955 ein Versorgungsrechtsverhältnis nicht mehr besteht. Die Widerklage war jedoch unzulässig. Die Zulässigkeit der Widerklage gehört zu den prozessualen Voraussetzungen, die die Grundlagen des gesamten Verfahrens, auch des Revisionsverfahrens, betreffen und in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen sind. Der Mangel der Zulässigkeit ist daher in einer statthaften Revision von Amts wegen zu beachten. Die Widerklage durfte hilfsweise für den Fall erhoben werden, daß die Klägerin mit der Klage auf Aufhebung des Bescheids vom 10. Juni 1954 durchdringen sollte (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 8. Auflage, § 61 IV 3c S. 295, 286); sie ist auch formgerecht erhoben worden (§§ 100, 90 SGG). Sie war aber unzulässig, weil ein Rechtsschutzbedürfnis dafür nicht bestanden hat. Dieses liegt - wie bereits der 11. Senat des BSG in seinem Urteil vom 6. September 1961 (SozR SGG § 100 Bl. Da 2 Nr. 4) ausgeführt hat - für eine Widerklage, mit der die Versorgungsbehörde die Berichtigung eines von ihr erlassenen Bescheids begehrt, dann nicht vor, wenn bereits ein Berichtigungsbescheid erlassen ist, der mit der Klage angefochten worden ist. Im vorliegenden Fall ist die Lage gleich. Der erkennende Senat hatte keine Veranlassung, von der Ansicht des 11. Senats abzuweichen, die offensichtlich auch von dem Beklagten selbst vertreten wird, wie seiner Erklärung zu entnehmen ist, er wolle sich nicht mehr darauf berufen, daß eine Widerklage an Stelle eines Berichtigungsbescheides möglich gewesen sei.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG war daher begründet, weil das SG zu Unrecht den Bescheid vom 10. Juni 1954 aufgehoben, die Beklagte zu Leistungen für die Zeit vom 1. August 1954 bis 30. September 1955 verurteilt und schließlich auf die Widerklage sachlich entschieden hat.

Es war daher, wie geschehen, zu erkennen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2277322

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