Leitsatz (redaktionell)
Zur Frage der Rücknahme eines begünstigten fehlerhaften Verwaltungsaktes (hier: Gewährung von Witwenrenten nach dem BVG).
Normenkette
KOVVfG § 41 Fassung: 1955-05-02
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 19. Februar 1958 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin war seit dem 4. Februar 1928 mit dem im Jahre 1944 vermißten und durch Beschluß des Amtsgerichts vom 19. September 1947 für tot erklärten Kaufmann W L verheiratet, bis die Ehe durch Urteil des Landgerichts ... vom 28. Oktober 1930 aus Verschulden des Ehemannes geschieden wurde. Im April 1951 beantragte die Klägerin, die seit 1939 berufstätig ist, ihr Versorgungsbezüge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu zahlen. Die Versorgungsverwaltung gewährte daraufhin mit Bescheid vom 10. April 1952 vom 1. Oktober 1950 an die Witwengrundrente.
Mit Bescheid vom 7. Juli 1954 entzog die Versorgungsverwaltung die Rente jedoch wieder von Ende August 1954 ab: Die Voraussetzungen des Bescheides vom 10. April 1952 hätten sich als unzutreffend erwiesen. Es sei bei der Erteilung des Bescheides nicht nach § 42 BVG in Verbindung mit den §§ 58 ff. Ehegesetz (EheG) verfahren worden. Bei Beachtung dieser Vorschriften stehe keine Rente zu, da der Ehemann - würde er noch leben - nach den gesamten Einkommensverhältnissen nicht zum Unterhalt verpflichtet wäre. Nach erfolglos verlaufenem Widerspruchsverfahren (Bescheid vom 28.2.1955) hat die Klägerin beim Sozialgericht (SG.) Hamburg Klage erhoben und beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihr über den 31. August 1954 hinaus Witwenrente zu gewähren. Die Beklagte hat neben dem Antrag auf Klageabweisung hilfsweise Widerklage mit dem Antrag erhoben, festzustellen, daß ein Versorgungsrechtsverhältnis nicht bestanden habe und nicht bestehe. Das SG. hat daraufhin am 4. Dezember 1956 folgendes Urteil erlassen: 1. Auf die Klage werden der Bescheid vom 7. Juli 1954 und der Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 1955 aufgehoben. 2. Im übrigen wird die Klage abgewiesen. 3. Auf die Widerklage wird unter Aufhebung des Bescheides vom 10. April 1952 festgestellt, daß zwischen den Beteiligten ein Versorgungsrechtsverhältnis ab 1. Oktober 1950 nach dem BVG nicht bestanden hat: Zwar sei der Berichtigungsbescheid ohne gesetzliche Grundlage und daher aufzuheben. Trotzdem könne die Klägerin aus dem Bescheid vom 10. April 1952 keine Rechte herleiten, da dieser unter Berücksichtigung des § 42 BVG in Verbindung mit den §§ 58 ff. des EheG zweifellos unrichtig gewesen und die Widerklage daher begründet sei.
Gegen diese Entscheidung haben die Klägerin Berufung und die Beklagte Anschlußberufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG.) Hamburg hat die Beklagte durch Urteil vom 19. Februar 1958 unter entsprechender Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung verurteilt, der Klägerin Witwenrente über den 31. August 1954 hinaus zu gewähren. Die Widerklage und die Anschlußberufung der Beklagten hat es ab- bzw. zurückgewiesen: Der Berichtigungsbescheid habe keine gesetzliche Grundlage, da im Zeitpunkt seines Erlasses Ziffer 26 der Sozialversicherungsanordnung (SVA) Nr. 11 nicht mehr und § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) noch nicht gegolten habe. Die Widerklage sei zulässig. Zwar sei sie nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG.) unzulässig, soweit und solange eine Verwaltungsbehörde einen Sachverhalt durch Erlaß eines Bescheides selbst regeln könne. Das gelte aber dann nicht, wenn ein Berichtigungsbescheid bereits erlassen sei, über seine Wirksamkeit jedoch gestritten werde. Die Widerklage sei aber nicht begründet, denn der Bescheid vom 10. April 1952 sei nach den Feststellungen des Gerichts im Zeitpunkt seines Erlasses auch bei Beachtung des § 42 BVG in Verbindung mit den §§ 58 ff. des EheG nicht zweifellos unrichtig gewesen. Nach den §§ 58 ff. des EheG bestehe eine Unterhaltspflicht des aus Verschulden geschiedenen Ehemannes, wenn die Lebensverhältnisse der geschiedenen Ehefrau ungünstiger seien als diejenigen während des Bestehens der Ehe, und wenn der geschiedene Ehemann unter Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen ohne Gefährdung seines angemessenen Lebensunterhalts in der Lage sei, zur Angleichung der Lebensverhältnisse einen entsprechenden Unterhalt zu gewähren. Ein Vergleich zwischen den tatsächlichen Verhältnissen der Ehegatten während der Ehe und den Lebensverhältnissen der Klägerin seit Antragstellung ergebe, daß die Lebensverhältnisse der Klägerin ungünstiger seien. Es lasse sich auch nicht ohne alle Zweifel ausschließen, daß der Verstorbene bei Berücksichtigung seiner Verpflichtungen aus der zweiten Ehe den notwendigen finanziellen Ausgleich zu leisten imstande gewesen wäre. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses am 11. März 1958 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit einem am 5. April 1958 beim BSG. eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Ziff. 1) des Urteils des SG. Hamburg vom 4. Dezember 1956 die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
dem Antrage der Widerklage zu entsprechen.
In der am 10. Juni 1958 beim BSG. eingegangenen Revisionsbegründung rügt die Beklagte die Verletzung der Ziff. 26 SVA Nr. 11, des § 42 BVG in Verbindung mit den §§ 58 ff. des EheG, des § 62 BVG sowie des § 41 VerwVG, ferner die Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften (§§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Der Berichtigungsbescheid habe auf Grund der Ziff. 26 der SVA Nr. 11 ergehen können, da diese Vorschrift auch nach dem 31. Dezember 1952 gegolten habe. Er sei auch gerechtfertigt, denn der Bescheid vom 10. April 1952 sei schon bei seiner Erteilung unzweifelhaft unrichtig gewesen. Die Auffassung des LSG., daß die Klägerin sich im Vergleich zu den Lebensverhältnissen während der Ehe jetzt ungünstiger stehe, treffe nicht zu. Ferner sei der Schluß, daß der Ehemann in der Lage gewesen wäre, einen gegebenenfalls erforderlichen Unterhalt auch zu gewähren, falsch. Das LSG. habe im übrigen gegen seine Pflicht zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts verstoßen und die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen, überschritten. Schließlich hätte das LSG. auch noch die Frage, ob der Berichtigungsbescheid nicht in einen Bescheid nach § 62 BVG umgedeutet werden könne, prüfen müssen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Dem angefochtenen Urteil sei im Ergebnis zuzustimmen, obwohl das LSG. der Prüfung des Berichtigungsbescheides die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts habe zugrundelegen müssen und die Widerklage nicht als unbegründet, sondern schon als unzulässig abzuweisen gewesen sei.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG); sie ist daher zulässig.
Die Revision ist aber nicht begründet, da die Entscheidung des Berufungsgerichts im Ergebnis richtig ist.
Die Aufhebung des Berichtigungsbescheides vom 7. Juli 1954 läßt sich allerdings nicht - wie es das LSG. getan hat - damit begründen, daß es zu dieser Zeit keine rechtliche Grundlage für eine Berichtigung gegeben habe. Zwar war die Ziffer 26 der SVA Nr. 11, auf die die Versorgungsverwaltung den angefochtenen Bescheid gestützt hat, seit dem 31. Dezember 1952 außer Kraft getreten und damit als Rechtsgrundlage für eine Berichtigung ausgeschieden. In der Zeit vom 1. Januar 1953 an bis zum Inkrafttreten des VerwVG (1.4.1955) konnte aber eine Rücknahme begünstigender, fehlerhafter Verwaltungsakte nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts erfolgen (vgl. BSG. 10 S. 72 ff. mit weiteren Hinweisen sowie das Urteil des erkennenden Senats vom 18.2.1960 - 8 RV 1181/57 -). Nach diesen Grundsätzen, gegen deren "Nachschieben" als rechtliche Begründung keine Bedenken bestehen (vgl. BSG. 7 S. 8 (12)), können begünstigende Verwaltungsakte in der Regel dann zurückgenommen werden, wenn sie schon bei ihrem Erlaß fehlerhaft gewesen sind und die Fehlerhaftigkeit, d. h. ihre Rechtswidrigkeit, durch Umstände verursacht worden ist, die in den Verantwortungsbereich des Begünstigten - hier also der Klägerin - fallen (vgl. BSG. 10 S. 72 ff.) Die Frage, ob der Bescheid vom 10. April 1952 schon bei seiner Erteilung objektiv fehlerhaft war, ob also der Klägerin bei Anwendung des § 42 BVG in Verbindung mit den §§ 58 ff. des EheG vom 20. Februar 1946 Witwenrente nicht zustand, konnte hier dahingestellt bleiben, denn die Berichtigung hätte auch dann nicht erfolgen können. Die Gründe für die etwaige Fehlerhaftigkeit fallen nämlich ausschließlich in den Verantwortungsbereich der Beklagten, die es in dem erteilten Bescheid unterlassen hat, die nach § 42 BVG für die Gewährung der Rente entscheidende Frage zu prüfen, ob der verstorbene geschiedene Ehemann, wenn er noch leben würde, nach den eherechtlichen Vorschriften Unterhalt zu gewähren hätte.
Die Rechtsprechung des BSG. und auch des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG.), daß ein begünstigender, fehlerhafter Verwaltungsakt nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts dann zurückgenommen werden kann, wenn die Ursache für die Fehlerhaftigkeit in den Verantwortungsbereich des Begünstigten fällt, braucht allerdings nicht dazu zu führen, im umgekehrten Falle, wenn also die Ursache in den Verantwortungsbereich der Verwaltung fällt, stets die Rücknahme für unzulässig zu halten. Die Frage, ob ein fehlerhafter, begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen werden kann, ist vielmehr im Einzelfall unter Abwägung des öffentlichen Interesses an der Rücknahme und des Interesses des Betroffenen an dem Bestand des Verwaltungsakts zu beurteilen, und der oben angeführte Grundsatz ist lediglich im Rahmen dieser Interessenabwägung als Regel aufgestellt worden (vgl. insbesondere BVerwG. in NJW 1958 S. 154 ff.) Der vorliegende Fall bietet aber keinen Anlaß, von dieser Regel abzuweichen, zumal die Klägerin die Rente über zwei Jahre lang bezogen und sich darauf eingestellt hat, bei einem bestimmten Einkommen auf diese Weise einen weiteren Beitrag zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts zu erhalten.
Der Bescheid kann auch nicht - wie die Revision meint - auf § 62 Abs. 1 BVG gestützt werden. Er erweist sich der angeführten Rechtsnorm und seinem Inhalt nach eindeutig als ein Berichtigungsbescheid, mit dem der Bescheid vom 10. April 1952 mit Wirkung "ex tunc" zurückgenommen werden soll. Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, daß die Beklagte auch mit der Widerklage die Feststellung begehrt hat, ein Versorgungsrechtsverhältnis bestehe nicht und habe auch nicht bestanden. § 62 BVG kann aber stets nur eine Rücknahme "ex nunc" rechtfertigen. Die Beklagte hätte daher zumindest während des Berufungsverfahrens zum Ausdruck bringen müssen, daß sie sich nunmehr auf § 62 BVG stützen und sich mit einer Aufhebung "ex nunc" zufrieden geben wolle. Im Revisionsverfahren kann dies jedoch nicht mehr berücksichtigt werden. Das LSG. hat den Berichtigungsbescheid vom 7. Juli 1954 daher - wenn auch mit unzutreffender Begründung - im Ergebnis zu Recht aufgehoben.
Bei dieser Rechtslage bedurfte es keiner Entscheidung, ob die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen in rechter Form erhoben und ob sie begründet sind.
Ebenso hat das LSG. über die Widerklage im Ergebnis zutreffend entschieden. Allerdings hätte das Berufungsgericht schon ihre Zulässigkeit verneinen müssen. Wie das BSG. bereits an anderer Stelle entschieden hat (vgl. BSG. 6 S. 97 ff.), besteht für eine Widerklage, mit der die Versorgungsverwaltung die Berichtigung eines von ihr erlassenen Bescheides begehrt, kein Rechtsschutzbedürfnis, wenn die Verwaltung das mit der Widerklage erstrebte Ziel auch durch einen Verwaltungsakt, für dessen Erledigung sie zuständig ist, erreichen kann. Das LSG. meint nun, da ein Berichtigungsbescheid schon erlassen sei, aber um seine Wirksamkeit gestritten werde, handele es sich um einen besonders gelagerten Fall, in dem der oben angeführte Grundsatz keine Anwendung finden könne, es vielmehr sachdienlich sei, den Streit über die sachlichen Voraussetzungen der Berichtigung in Form einer hilfsweise erhobenen Feststellungsklage in das Verfahren einzuführen und nicht durch einen neuen Bescheid. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Auch im vorliegenden Fall hatte die Verwaltung die Möglichkeit, mit einem nach § 41 VerwVG erteilten Berichtigungsbescheid denselben Erfolg wie mit einer Widerklage zu erreichen, da das VerwVG schon vor Erhebung der Widerklage (4.4.1956) in Kraft getreten war und damit unzweifelhaft eine gesetzliche Möglichkeit bestand, die Berichtigung durchzuführen. Die Beklagte hat dies auch später mit Bescheid vom 8. Januar 1959, der aber nicht Gegenstand des Verfahrens ist (§ 172 Abs. 2 SGG), getan.
Aus den dargelegten Gründen hat das LSG. auch die Anschlußberufung der Beklagten zu Recht zurückgewiesen.
Da die Entscheidung des LSG. somit im Ergebnis zutreffend ist, ist die Revision unbegründet; sie war daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen