Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. Januar 1995, das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 28. April 1993 und der Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. September 1991 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1991 bis zum 31. März 1995 die Geldleistung bei Schwerpflegebedürftigkeit zu gewähren.
Die Beklagte hat die Kosten des Klägers zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger die Voraussetzungen für die Geldleistung bei Schwerpflegebedürftigkeit (Pflegegeld) erfüllt.
Der am 10. Oktober 1987 geborene Kläger ist bei der beklagten Krankenkasse (KK) über seine Mutter familienversichert. Er leidet an einer Stoffwechselstörung (Mucoviscidose), ist im übrigen jedoch altersentsprechend entwickelt. Krankheitsbedingt benötigt er fremde Hilfe bei zwei der regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, nämlich bei der Körperreinigung infolge übermäßiger Salzausscheidung (Waschen/Duschen/Baden) und bei der Zusammenstellung der benötigten hochkalorischen Nahrung. Bei weiteren Verrichtungen sind krankheitsspezifische Maßnahmen erforderlich, die von den Eltern durchgeführt werden.
Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Gewährung der Geldleistung bei Schwerpflegebedürftigkeit nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ab (Bescheid vom 10. Juli 1991, Widerspruchsbescheid vom 25. September 1991).
Die Klage blieb in beiden Vorinstanzen erfolglos (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Karlsruhe vom 28. April 1993, Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Baden-Württemberg vom 20. Januar 1995). Das LSG hat seine Entscheidung damit begründet, daß der Kläger nur bei zwei Verrichtungen des Grundbedarfs, nämlich beim Waschen/Duschen/Baden und bei der Nahrungszubereitung, sowie bei den Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Versorgungsbedarfs, solche Hilfeleistungen benötige, wie sie bei der Beurteilung von Schwerpflegebedürftigkeit berücksichtigt werden könnten. Alle übrigen Verrichtungen des täglichen Lebens könne er alleine ausführen. Soweit ihn seine Mutter hierbei beaufsichtige, sei die Hilfe entweder nicht notwendig oder es handele sich um Maßnahmen der Behandlungspflege, die durch die besondere Art der Erkrankung des Klägers bedingt seien. Maßnahmen der Behandlungspflege reichten nicht aus, Schwerpflegebedürftigkeit zu begründen.
Hiergegen richtet sich die vom erkennenden Senat zugelassene Revision des Klägers. Der Kläger rügt eine Verletzung des § 53 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Beim Kläger bestehe ein Hilfebedarf in sehr hohem Maße, wie ihn § 53 Abs. 1 SGB V für den Anspruch auf häusliche Pflegehilfe voraussetze. Das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß die vom Kläger benötigten Pflegemaßnahmen, soweit sie durch seine Mucoviscidoseerkrankung bedingt seien, der Behandlungspflege zugeordnet werden und bei der Feststellung von Schwerpflegebedürftigkeit unberücksichtigt bleiben müßten.
Der Kläger erhält seit April 1995 auf der Grundlage des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XI) Pflegegeld nach der Pflegestufe II.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. Januar 1995, das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 28. April 1993 und den Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. September 1991 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1991 bis zum 31. März 1995 Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II.
1. Die Revision des Klägers ist begründet. Dem Kläger steht Pflegegeld nach § 57 SGB V (in der bis zum 31. März 1995 geltenden Fassung, vgl. Art 4 Nr. 4 i.V.m. Art 68 Abs. 2 Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit ≪PflegeVG≫, vom 26. Mai 1994, BGBl. I 1014) zu. Denn er ist, entgegen der Auffassung der Beklagten und der Vorinstanzen, schwerpflegebedürftig i.S. von § 53 SGB V aF. Die weiteren Voraussetzungen des Anspruchs auf Pflegegeld, insbesondere die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 54 SGB V aF) sind zwischen den Beteiligten unstreitig. Nach den Feststellungen des LSG liegen auch keine Anzeichen für eine Berechtigung der Beklagten vor, aufgrund des ihr nach § 57 Abs. 1 SGB V a.F. grundsätzlich zustehenden Ermessens (vgl. BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 6) anstelle des vom Kläger beantragten Pflegegeldes Pflegesachleistung (gemäß § 55 SGB V aF) zu gewähren.
2. Der Anspruch auf Pflegegeld nach § 57 SGB V a.F. setzt das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit i.S. von § 53 Abs. 1 SGB V voraus. Nach dieser Vorschrift ist als schwerpflegebedürftig anzusehen, wer nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in sehr hohem Maße der Hilfe bedarf.
Die insoweit bei Erwachsenen zu berücksichtigenden Tätigkeiten des täglichen Lebens hat das Bundessozialgericht (BSG), ausgehend von den Richtlinien der Spitzenverbände der KKn, in einem Katalog von insgesamt 18 Verrichtungen zusammengefaßt (vgl. hierzu die Urteile des erkennenden Senats in SozR 3-2500 § 53 Nrn 5 bis 8 und § 57 Nr. 3). Der Katalog setzt sich zusammen aus 14 Verrichtungen des Grundbedarfs aus den Bereichen Mobilität, Körperpflege, Ernährung und Kommunikation sowie vier Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Versorgungsbedarfs. Besteht bei vierzehn oder mehr Verrichtungen (ca 80 v.H. der Gesamtzahl) Hilfebedarf, so ist Schwerpflegebedürftigkeit anzunehmen, ohne daß es weiterer Ermittlungen zur Intensität der erforderlichen Hilfe bedarf, weil davon auszugehen ist, daß derat hilflose Personen, die sich in nahezu allen Bereichen nicht selbst versorgen können (BT-Drucks 11/2237, S. 183), die in § 53 Abs. 1 SGB V a.F. enthaltene Voraussetzung eines Hilfebedarfs „in sehr hohem Maße” in jedem Fall erfüllen. Bei einem Hilfebedarf bei weniger als 14, aber mindestens 9 Verrichtungen (50 v.H. der Gesamtzahl) kommt die Annahme von Schwerpflegebedürftigkeit nur in Betracht, wenn zusätzliche Umstände eine Gleichstellung des Hilfebedarfs mit demjenigen eines eindeutig Schwerpflegebedürftigen rechtfertigen. In diesen Fällen ist in einem zweiten Schritt zu ermitteln, ob der konkrete Hilfebedarf eine Gleichstellung mit einem eindeutig Schwerpflegebedürftigen rechtfertigt (BSGE 73, 146, 155f. = SozR 3-2500 § 53 Nr. 4).
Auf Kinder im Alter des Klägers, der zu Beginn der streitigen Bezugszeit das dritte Lebensjahr vollendet hatte und damit zu der Altersgruppe der Kinder von 3 bis zumindest 8 Jahren gehörte, sind die für Erwachsene entwickelten Grundsätze nur modifiziert anzuwenden (vgl. hierzu und zum Folgenden BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 8). Im Katalog sind und auf der ersten Stufe die Verrrichtungen des hauswirtschaftlichen Versorgungsbedarfs nicht zu berücksichtigen. Ein durch die Versorgung eines behinderten oder kranken Kindes verursachter Mehraufwand der Pflegepersonen im hauswirtschaftlichen Bereich ist also nicht bei den Katalogtätigkeiten zu berücksichtigen, sondern kann ggf auf der zweiten Stufe bei der Ermittlung des konkreten Hilfebedarfs berücksichtigt werden. Bei Kindern dieser Altersgruppe liegt Schwerpflegebedürftigkeit danach stets vor, wenn bei 11 oder mehr Verrichtungen (etwa 80 v.H. oder mehr der Gesamtzahl) ein meßbarer zusätzlicher Hilfebedarf gegenüber einem gleichaltrigen gesunden Kind besteht. Liegt ein Mehraufwand lediglich bei 7 bis 10 Verrichtungen (50 bis 80 vH) vor, so hängt die Annahme von Schwerpflegebedürftigkeit davon ab, ob Gleichstellungssachverhalte erfüllt sind.
3. Der Kläger erfüllt zumindest die letztgenannten Voraussetzungen. Das LSG ist auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen zu Unrecht davon ausgegangen, daß der Kläger nur bei zwei Verrichtungen des Grundbedarfs, nämlich beim Waschen/Duschen/Baden und bei der Nahrungszubereitung, fremder Hilfe bedarf und daß bei den übrigen Verrichtungen des Grundbedarfs die zahlreichen Hilfestellungen, die er von seiner Mutter erhalte, Maßnahmen der Behandlungspflege seien, die bei der Beurteilung von Schwerpflegebedürftigkeit i.S. von § 53 Abs. 1 SGB V a.F. nicht berücksichtigt werden dürften, selbst wenn sie den Umfang wie bei einem Mucoviscidose-Kranken erreichten.
Das LSG geht in tatsächlicher Hinsicht davon aus, daß die von ihm als Behandlungspflege gewerteten Maßnahmen, wie sie sich aus den gutachtlichen Äußerungen und der Anhörung der Mutter des Klägers ergeben, kurz vor oder während der Katalogtätigkeit erforderlich werden und darauf ausgerichtet sind, Folgezustände der Erkrankung zu beseitigen oder zu mildern, um die Katalogtätigkeit zu ermöglichen, und daß diese Maßnahmen nicht die Fachkunde eines der Gesundheitsberufe voraussetzen.
Das LSG hat hierzu den Rechtssatz aufgestellt, daß Katalogtätigkeiten, bei denen ein solcher Hilfebedarf besteht, unter dem Gesichtspunkt der Behandlungspflege die Annahme von Schwerpflegebedürftigkeit nicht begründen. Dem vermag der erkennende Senat nicht zuzustimmen. Die Einschränkung, daß derartige krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen, wenn ihre Durchführung die Fachkunde eines der Gesundheitsberufe erfordert, in die Leistungspflicht der Krankenversicherung (KV) fällt, und deswegen unter dem Gesichtspunkt der Behandlungspflege im engeren Sinne bei der Prüfung der Schwerpflegebedürftigkeit nicht als Hilfebedarf zu berücksichtigen ist, gilt nicht für die hier betroffenen Maßnahmen, die eine solche Fachkunde nicht erfordern.
4. Die Ausführungen des LSG, diese Hilfestellungen seien „durch die besondere Art der Erkrankung bedingt”, kann für sich allein ein Ausscheiden aus dem Hilfebedarf nicht rechtfertigen, und zwar weder unter dem Gesichtspunkt der „besonderen Art der Erkrankung” noch unter dem der „Kausalität”. Daß der Hilfebedarf krankheitsbedingt ist, ist nach § 53 Abs. 1 SGB V, der eine Kausalität zwischen Krankheit (oder Behinderung) und dem Pflegebedarf fordert, Anspruchsvoraussetzung und nicht ein Anspruchshindernis. Auch wenn das LSG mit vorgenannter Formulierung nicht die Kausalität ansprechen wollte, sondern die finale Ausrichtung dieser Maßnahmen vorrangig auf die Behebung der krankheitsbedingten Funktionsausfälle und nur mittelbar auf die Ermöglichung der Katalogtätigkeit, kann dies ein Ausscheiden dieser Maßnahmen aus dem Pflegebedarf nicht begründen. § 53 Abs. 1 SGB V stellt bei der Beschreibung der Voraussetzungen für die Annahme von Schwerpflegebedürftigkeit – wie nunmehr auch die §§ 14, 15 SGB XI (idF des PflegeVG) – nur darauf ab, ob bei den Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens (nunmehr im einzelnen aufgeführt in § 14 Abs. 4 SGB XI) überhaupt Hilfebedarf besteht, ohne nach der Art der benötigten Hilfeleistungen und deren finaler Ausrichtung zu differenzieren.
Ein Pflegebedarf bei den Katalogtätigkeiten einerseits und ein Bedarf an Krankenbehandlung und Krankenpflege andererseits schließen sich nicht aus, sondern sind jeweils selbständig zu bewerten. Danach kann auch bei einer Akuterkrankung, die umfassende ärztliche Maßnahmen und gegebenenfalls Krankenhausbehandlung erforderlich macht, zugleich (Schwer) Pflegebedürftigkeit vorliegen. Dies verdeutlicht jetzt die Regelung in § 34 Abs. 2 Satz 1 SGB XI (idF des PflegeVG vom 26. Mai 1994, BGBl. I 1014).
5. Die krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen können bei der Prüfung der Schwerpflegebedürftigkeit auch nicht mit der Begründung ausgeklammert werden, daß diese in die Leistungspflicht der KV fallen und deswegen nicht zu dem in den §§ 53 bis 57 SGB V geregelten Pflegerisiko gehören. Das vom Kläger beanspruchte Pflegegeld ersetzt die an sich nach § 55 SGB V a.F. als Sachleistung von der KK zur Verfügung zu stellenden Pflegeleistungen. Von daher können zumindest im Grundsatz nur solche erforderlichen Pflegeleistungen Schwerpflegebedürftigkeit begründen, die zum Pflegerisiko gehören.
§ 55 SGB V begrenzt mit dem Begriff „Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung” die zu berücksichtigenden Pflegeleistungen bei den Katalogtätigkeiten nicht auf körperliche Pflegeleistungen, die in ihrer Ausführung von der Art der Erkrankung unabhängig sind, wie dies z.B. beim „Füttern” der Fall ist. Der Begriff umfaßt vielmehr insbesondere bei geistig Behinderten auch Anleitung und Überwachung, obgleich auch dieser Hilfebedarf durch die Art der Erkrankung bedingt ist, was zunächst zweifelhaft war, dann aber durch die Rechtsprechung geklärt (BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 6) und in § 14 SGB XI näher geregelt wurde und sich auch auf Maßnahmen zur Vermeidung von Fremd- und Eigengefährdung erstreckt (vgl. Udsching, SGB XI, § 36 RdNr 6 und § 14 RdNr 11).
Desgleichen wird in § 55 SGB V der Bereich der Behandlungspflege jedenfalls für die hier betroffenen Maßnahmen, die eine besondere Fachkunde nicht erfordern (einfache Behandlungspflege), auch bei zusätzlicher Heranziehung des § 37 SGB V nicht ausgeschlossen. Als Leistungen der KV erhalten Versicherte nach § 37 Abs. 2 SGB V gemäß dessen Satz 1 als häusliche Krankenpflege „Behandlungspflege”. Nach Satz 2 der Vorschrift kann die Satzung bestimmen, daß die KK zusätzlich zur Behandlungspflege als häusliche Krankenpflege auch „Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung” erbringt. Nach § 53 Abs. 2 SGB V a.F. entfiel der Anspruch auf häusliche Pflegehilfe, soweit ein Anspruch nach § 37 SGB V bestand. Hieraus folgt, daß die Leistungen bei Krankheit, zu denen die häusliche Krankenpflege und die Krankenhausbehandlung zählen (§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und 5 SGB V) gegenüber den Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit nach den §§ 53ff. SGB V a.F. bzw. jetzt gegenüber den im vierten Kapitel des SGB XI geregelten ambulanten Pflegeleistungen (lediglich) vorrangig sind. Die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung schließt somit die Annahme von (Schwer) Pflegebedürftigkeit nicht von vornherein aus. Die Leistungsansprüche nach den §§ 27ff. SGB V verdrängen lediglich den Anspruch auf häusliche Pflegehilfe nach Maßgabe des § 53 Abs. 2 SGB V a.F. bzw. § 34 Abs. 2 Satz 1 SGB XI.
Wenn § 55 Abs. 1 SGB V a.F. (wie nunmehr § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB XI) nur die beiden Leistungsarten „Grundpflege” und „hauswirtschaftliche Versorgung” nennt, so besagt das nicht, daß die „Behandlungspflege” nur als Leistung der KV in Betracht kommt. Die Behandlungspflege wurde schon zu § 185 Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F. als Teil der häuslichen Krankenpflege angesehen, die medizinische Hilfeleistungen erfaßte, z.B. Verabreichen von Medikamenten, Anlegen von Verbänden, Spülungen und Einreibungen (BSGE 50, 73, 76 = SozR 2200 § 185 Nr. 4). Die selbst beschaffte Krankenpflegeperson mußte die erforderliche Eignung besitzen, mußte aber nicht zum Kreis der in § 185 RVO a.F. aufgezählten „Krankenpflegefachkräfte” gehören. Ein Anspruch gegen die KV bestand nach § 185 RVO und besteht nach § 37 SGB V jedoch nur dann, wenn keine im Haushalt lebende Person den Kranken im erforderlichen Umfang pflegen und versorgen kann, also bei Behandlungspflege, die keine Fachkunde erfordert, in aller Regel nicht, insbesondere für Kinder.
Berücksichtigt man, daß damit die keine Fachkunde erfordernde Behandlungspflege in der Familie im Grundsatz nicht als Aufgabe der KV angesehen wurde, und daß die in den §§ 53 bis 57 SGB V zum Pflegerisiko getroffene Regelung darauf zielt, der Familie die Pflege zu erleichtern, dann ist § 55 SGB V dahin auszulegen, daß die Grundpflege auch solche im zeitlichen Zusammenhang mit den Katalogtätigkeiten erforderlichen Hilfeleistungen umfaßt, die die Verrichtung ermöglichen und die nicht die Fachkunde eines Gesundheitsberufs erfordern, also regelmäßig von Familienmitgliedern erbracht werden. Mit der Einführung der Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit verfolgte der Gesetzgeber vorrangig das Ziel, die Versorgung von Schwerpflegebedürftigen im häuslichen Bereich zu verbessern; und zwar auch dadurch, daß die pflegenden Angehörigen spürbar entlastet werden sollten, um ihre Pflegebereitschaft und Pflegefähigkeit auf Dauer zu erhalten (BT-Drucks 11/2237, S. 182).
Die Zielsetzung, durch Erleichterung der häuslichen Pflege sonst drohende Heimunterbringungen zu vermeiden, gilt auch für die (einfache) Behandlungspflege. Durch die Förderung der Bereitschaft zur häuslichen Pflege, deren Durchführung auch bei Inanspruchnahme von professioneller Pflegehilfe für einzelne Maßnahmen in erster Linie den Familienangehörigen obliegen sollte, wurde auch ein Zurückdrängen von Fehlbelegungen in Krankenhäusern angestrebt (BT-Drucks 11/2237, S. 148 und 182). Zugleich sollte damit, wie bei Einführung der Pflegeversicherung im SGB XI deutlicher herausgestellt wurde (BT-Drucks 12/5262, S. 61ff.), die Inanspruchnahme stationärer Pflege zurückgedrängt werden. Ein Ausbleiben der von der Mutter des Klägers erbrachten Pflegemaßnahmen hat insbesondere nach deren Einschätzung zudem zwangsläufig stationäre Behandlungsbedürftigkeit zur Folge. Ein Ausschluß der hier betroffenen Hilfeleistungen, die der Ermöglichung bzw. Sicherstellung der elementaren Lebensführung dienen, verstieße zudem angesichts der Tatsache, daß die Pflegeleistungen der Grundpflege ohne weiteres eine Vielzahl eher unbedeutender Hilfeleistungen umfassen (z.B. Mund- und Haarpflege), gegen den Gleichheitssatz.
Hingegen ist die Zuordnung zur KV geboten, wenn die Behandlungspflege von fachlich qualifizierten Krankenpflegekräften zu erbringen ist (vgl. zur Abgrenzung von Krankenhaus und Pflegeheim: BSG, Urteil vom 21. Oktober 1980, 3 RK 33/79 = USK 80211; Igl/Welti, VSSR 1995, 117, 135), und zwar als Bestandteil einer laufenden ärztlichen Behandlung und in diese eingebunden (vgl. Gerlach, in Hauck/Haines, SGB V, K § 37 RdNr 8; Igl/Welti, VSSR 1995, 117, 137). Die Rechtsprechung hat auch in bezug auf die § 37 Abs. 1 SGB V entsprechende Regelung in § 185 Abs. 1 RVO betont, daß die Behandlungspflege Bestandteil der ärztlichen Heilbehandlung ist (BSGE 50, 73, 76 = SozR 2200 § 185 Nr. 4; Urteil vom 11. Oktober 1979, 3 RK 72/78 = USK 79162; Urteil vom 21. Oktober 1980, 3 RK 33/79 = USK 80211; BSGE 63, 140, 142). Um einen solchen Fall handelt es sich hier indes nicht.
Die beiden Entscheidungen, in denen der 9. Senat des BSG in Mucoviscidosefällen einen Anspruch auf den Nachteilsausgleich „H” wegen fehlender Hilflosigkeit verneint hat (BSGE 67, 204, 205f. = SozR 3-3870 § 4 Nr. 1; BSG SozR 3-1300 § 32 Nr. 3), geben zu keiner anderen Beurteilung Anlaß und nötigen nicht zur Anrufung des Großen Senats (§ 41 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Die Entscheidung, daß für die Beurteilung der Hilflosigkeit nur die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung, nicht aber die Behandlungspflege zu berücksichtigen sei, wird wesentlich mit steuerrechtlichen Erwägungen begründet, die hier nicht einschlägig sind. Nach den Entscheidungen begründet die einfache, im Haushalt mögliche Behandlungspflege, die Eltern ihren erkrankten Kindern zuwenden, weder eine Leistungspflicht in der KV noch löst sie steuerliche Vergünstigungen aus. Das folge aus der Grundnorm des § 33 Einkommensteuergesetz (EStG), der Krankheitsmehrkosten anerkennt, aber nur soweit Aufwendungen entstehen (vgl. u.a. BFHE 132, 545). Die Belastung durch die Pflegearbeit – soweit sie keine Kosten verursacht – werde steuerlich nicht berücksichtigt. Für den Pauschbetrag nach § 33b EStG gelte grundsätzlich dasselbe. Erst der neugeschaffene § 33b Abs. 6 EStG i.d.F. des Steuerreformgesetzes 1990 erkenne die außergewöhnliche Belastung an, die einem Steuerpflichtigen durch die Pflege einer Person erwachse.
6. Bei der damit gebotenen Berücksichtigung auch der Pflegemaßnahmen zur Behandlungspflege erweist sich die Klage aufgrund der übrigen Feststellungen als begründet. Der Kläger ist hiernach zumindest bei insgesamt neun Verrichtungen des Grundbedarfs auf Hilfe angewiesen und die Voraussetzungen eines Gleichstellungssachverhalts liegen vor.
Es ist den Feststellungen des LSG mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, daß der Kläger bei den nachfolgenden Verrichtungen fremder Hilfe bedarf: 1. Waschen/Duschen/Baden, 2. Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, 3. Gehen, 4. Treppensteigen, 5. Haarpflege, 6. An- und Auskleiden, 7. Verrichten der Notdurft, 8. Nahrungsaufnahme, 9. Nahrungszubereitung.
Soweit im angefochtenen Urteil ausgeführt wird, der Kläger könne allein aufstehen und zu Bett gehen, gehen und Treppen steigen; er könne sich auch allein die Zähne putzen, die Haare kämmen, sich allein an- und auskleiden, essen und die Toilette benutzen, bezieht sich diese Wertung nach dem Gesamtzusammenhang allein auf die Fähigkeit, die genannten Verrichtungen motorisch auszuführen.
Eine krankheitsbedingte Unfähigkeit zur eigenständigen Durchführung von Verrichtungen ist auch dann gegeben, wenn die Grunderkrankung Störungen von Vitalfunktionen, wie hier die des Atmens, verursacht und die Hilfeleistung primär der Aufrechterhaltung der Vitalfunktion dient. Zwar ist das Atmen selbst nicht im Katalog der Verrichtungen enthalten. Dies hat seinen Grund, ähnlich wie beim Umlagern (vgl. BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 5) darin, daß es sich um eine Grundfunktion handelt, die bei Ausfällen oder erheblichen Störungen einen breit gefächerten Hilfebedarf auslöst. Entscheidungserheblich ist hier jedoch allein, daß der Kläger bestimmte Katalog-Verrichtungen nur durchführen kann, wenn er Hilfeleistungen erhält. Dies gilt etwa für das Aufstehen und Zu-Bett-Gehen. Beide Verrichtungen erfordern zeitaufwendige Maßnahmen der Pflegeperson wie Abklopfen, Massieren und Schleimentsorgung. Beim Gehen und Treppensteigen ist stets eine Hilfeperson erforderlich, um bei einer jederzeit drohenden Atemnotattacke eingreifen zu können. Beim Verrichten der Notdurft macht die Grunderkrankung eine Kontrolle des Stuhlgangs sowie des Afters und gegebenenfalls dessen Pflege erforderlich. Der Kläger ist entwicklungsbedingt nicht zu einer der Mucoviscidoseerkrankung angepaßten Nahrungsaufnahme in der Lage; die Pflegeperson muß die Nahrungsaufnahme kontrollieren und gegebenenfalls Zusätze verabreichen. Hinzu kommt ein Aufsichts- und Hilfebedarf beim An- und Auskleiden, da der Kläger wegen krankheitsbedingter übermäßiger Salzausscheidung und Schwitzen häufig die Kleidung wechseln muß, wobei er die Erforderlichkeit dieser Maßnahme entwicklungsbedingt nicht allein einschätzen kann. Aus den gleichen Gründen ist der Kläger auch nicht in der Lage, die erforderliche, das übliche Maß übersteigende Haarpflege eigenständig durchzuführen. Ob ein Hilfebedarf auch beim Sehen besteht, kann auch unter Berücksichtigung der gutachtlichen Äußerungen sowie der Einlassung der Mutter des Klägers, auf die sich das LSG bezogen hat, nicht festgestellt werden. Die Notwendigkeit einer Sehhilfe oder des Besuchs einer Sehschule reicht hierfür allein nicht aus.
Den Feststellungen des LSG kann mit hinreichender Sicherheit entnommen werden, daß der Hilfebedarf des Klägers dem Pflegebedarf entspricht, der bei einem eindeutig Pflegebedürftigen (Hilfebedarf bei 80 v.H. der Verrichtungen) regelmäßig auftritt. Zwar steht der zeitliche Pflegeaufwand pro Tag nicht eindeutig fest. In jedem Fall liegen jedoch Umstände vor, die im Urteil des BSG vom 30. September 1993 (4 RK 1/92 = BSGE 73, 146, 156 = SozR 3-2500 § 53 Nr. 4) als Gleichstellungssachverhalte beschrieben worden sind. Zum einen ist die Versorgung des Klägers, was auch das LSG eingeräumt hat, für die ihn pflegende Mutter, mit einer erheblichen psychischen Belastung verbunden. Zum anderen wäre bei Nichtgewährung der häuslichen Pflege eine stationäre Versorgung des Klägers unausweichlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
PflR 1997, 55 |
Breith. 1997, 581 |
SozSi 1997, 313 |