Entscheidungsstichwort (Thema)

Verjährung von Rentenansprüchen. Verjährungseinrede als Ermessensentscheidung

 

Orientierungssatz

1. Die Fälligkeit von Rentenleistungen iS des § 29 Abs 3 RVO tritt in der Regel mit der Entstehung des Rentenanspruchs ein, so daß auch die vierjährige Verjährungsfrist nach dieser Vorschrift mit der Entstehung des Anspruchs beginnt (vgl BSG 1971-12-21 GS 4/71 = BSGE 34, 1).

2. Ist der Versicherungsträger nicht aus vorangegangenem eigenen Tun an der Erhebung der Verjährungseinrede verhindert, so kann diese Ermessensentscheidung im Rechtswege nur darauf geprüft werden, ob die Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist.

 

Normenkette

RVO § 29 Abs. 3 Fassung: 1924-12-15

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 30.09.1970)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. September 1970 mit dem ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die Witwenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes auch für die Zeit vom 1. Januar 1959 bis zum 31. Januar 1964 zu gewähren oder ob sie berechtigt ist, die Rente für diese Zeit wegen Verjährung zu verweigern.

Die 1928 aus Danzig nach Argentinien ausgewanderte Klägerin ist die Witwe des am 7. Juni 1951 in Argentinien verstorbenen Versicherten H. Sch.. Auf ihren Rentenantrag vom Februar 1968 gewährte ihr die Beklagte die Witwenrente aus der Rentenversicherung des Versicherten für die Zeit ab 1. Februar 1964, lehnte die Leistung aber für die vorausgegangene Zeit ab, weil die Klägerin insoweit ihre Rentenansprüche verwirkt habe (Bescheid vom 17. April 1969).

Im Klageverfahren erhob die Beklagte die Einrede der Verjährung. Der Widerspruch gegen den Bescheid wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 24. März 1970). Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte, der Klägerin die Witwenrente auch für die Zeit vom 1. Januar 1959 bis zum 31. Januar 1964 zu gewähren; für die Zeit vom 1. Januar 1957 bis zum 31. Dezember 1958 hat es die Klage abgewiesen; es hat die Berufung zugelassen (Urteil vom 22. Mai 1970). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 30. September 1970). Es hat ua ausgeführt, der Anspruch auf Rentenleistungen für die streitige Zeit sei weder verjährt noch verwirkt; die Fälligkeit i.S. des § 29 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) beginne nicht vor der Antragstellung.

Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie rügt allein eine Verletzung des § 29 Abs. 3 RVO. Sie meint ua. ein Leistungsanspruch werde bereits dann "fällig", wenn der Anspruch entstanden sei. Bei der Erhebung der Einrede der Verjährung habe sie ihr Ermessen nicht fehlerhaft ausgeübt, da sie bei Rentenantragstellern im Ausland diese Einrede regelmäßig erst erhoben habe, wenn seit der Entstehung des Anspruchs bereits 10 Jahre verstrichen gewesen seien, um so den besonderen Schwierigkeiten der Rentenbewerber im Ausland hinreichend Rechnung zu tragen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. September 1970 aufzuheben und die Klage gegen ihren Bescheid vom 17. April 1969 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. März 1970 auch insoweit abzuweisen, als sie verurteilt worden sei, Witwenrente für die Zeit vom 1. Januar 1959 bis zum 31. Januar 1964 zu gewähren.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

II

Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Entgegen der vom Berufungsgericht in dem angefochtenen Urteil vertretenen Rechtsauffassung hat der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) durch Beschluß vom 21. Dezember 1971 (GS 4/71), der den Beteiligten bekannt gegeben wurde, entschieden, daß die Verjährungsfrist des § 29 Abs. 3 RVO bei Rentenansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung mit der Entstehung des Rentenanspruchs beginnt und demnach vier Jahre danach endet, es sei denn, daß der Antrag materiell-rechtliche Bedeutung hat. Ein Fall der letzteren Art liegt hier nicht vor. Da die Klägerin den Rentenantrag erst im Februar 1968 gestellt hat, ist ihr Anspruch auf Rente für die Zeit vor dem 1. Februar 1964 verjährt.

Ob ein Versicherungsträger sich auf die Verjährung berufen will, hat er nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden (BSG SozR Nr. 16 zu § 79 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind nur befugt, zu prüfen, ob der Versicherungsträger im Einzelfall das ihm zukommende Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat; es kommt ihnen aber nicht zu, ihr Ermessen an die Stelle des Ermessens des Versicherungsträgers zu setzen.

Die Klägerin hat ua geltend gemacht, die Beklagte habe ermessensfehlerhaft die Einrede der Verjährung erhoben. Das LSG hat von seinem, jetzt freilich nicht mehr haltbaren Rechtsstandpunkt aus ungeprüft gelassen und deshalb dazu keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, ob die Beklagte, als sie die Einrede der Verjährung erhoben hat, die Grenzen des ihr zustehenden Ermessens überschritten hat. In Ermangelung der in dieser Hinsicht erforderlichen Feststellungen kann das Revisionsgericht nicht selbst entscheiden. Das Berufungsgericht wird zu diesem Punkt eingehend Feststellungen zu treffen und alsdann zu entscheiden haben, ob sich die Beklagte im Rahmen des ihr zukommenden Ermessens zu Recht auf den Eintritt der Verjährung berufen hat. Um dem LSG dazu Gelegenheit zu geben, ist das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Bei der neuen Entscheidung zur Frage der Ermessensausübung der Beklagten wird das LSG die Grundsätze, die der Große Senat des BSG hierzu in seinem eingangs erwähnten Beschluß aufgestellt hat - der erkennende Senat billigt und übernimmt sie - (vgl. dort Abschnitt III S. 26 ff.), zu beachten haben.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648320

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