Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der Berufsunfähigkeit eines Versicherten, der zwar noch ganztägig leichte Arbeiten im Sitzen verrichten kann, aber aus gesundheitlichen Gründen am Zurücklegen des Weges zu einer Arbeitsstätte behindert ist.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. Januar 1971 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Es ist umstritten, ob der Kläger berufsunfähig ist und deshalb Rente beanspruchen kann, obwohl er ganztägig leichte Arbeiten im Sitzen verrichten kann, aber am Zurücklegen von Wegen zu einer Arbeitsstätte behindert ist.
Der 1928 geborene Kläger legte 1944 die Gesellenprüfung als Schreiner ab, war jedoch später überwiegend als Presser und Lagerist, Beifahrer, Weinbauarbeiter und Bauhelfer beschäftigt. Seit 1965 war er bis auf einige Arbeitsversuche ohne Arbeit. Im August 1963 und im Juli 1965 erlitt er Verkehrsunfälle. Dabei zog er sich im wesentlichen erhebliche Beinverletzungen und eine Verletzung der linken Hand zu. Er bezieht Unfallrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H. von der Bauberufsgenossenschaft. Bis Juli 1966 wurde ihm Rente auf Zeit wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt.
Im April 1967 beantragte der Kläger wieder Versichertenrente. Die Beklagte lehnte den Antrag ab. Das Sozialgericht (SG) Koblenz hat die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit von April 1967 an verurteilt (Urteil vom 27.2.1969). Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 8.1.1971). Es hat den Kläger auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen. Es hat festgestellt, der Kläger könne ganztägig noch leichte Tätigkeiten im Sitzen bewältigen, sei aber nicht zu Anmarschwegen von mehr als fünf Minuten oder Anreisezeiten von mehr als zwanzig Minuten in der Lage. Er gehöre nach Art und Ausmaß seiner Beeinträchtigungen zu der Gruppe von Versicherten, denen der allgemeine Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei und die grundsätzlich als berufsunfähig anzuerkennen seien, weil ihre Wettbewerbschancen durch qualitäts- oder quantitätsmäßig erheblich eingeschränkte Leistungsfähigkeit zusätzlich beeinträchtigt seien. Zur Beschränkung auf Arbeiten im Sitzen und zu der eingeschränkten Verwendbarkeit der Hand komme die Beschränkung der Anmarschwege. Der Kläger sei vorzugsweise für Heimarbeiten zu verwenden. Eine Wohnung dürfe nicht weiter als fünf Minuten von einer Haltestelle öffentlicher Verkehrsmittel entfernt sein. Bei der wechselseitigen Abhängigkeit von Standort des Betriebs und Lage der Wohnung wäre es nur ein Glücksfall, wenn der Kläger im Umkreis seines Heimatortes oder sonstwo im Bundesgebiet einen geeigneten Arbeitsplatz fände. Hätte er einen entsprechenden Arbeitsplatz gefunden, so könne er seinen Dienstantritt nicht zusagen, ehe er eine nahegelegene Wohnung gefunden habe. Umgekehrt könne er nicht eine freie Wohnung nehmen, ehe er wüßte, ob er einen nahegelegenen Arbeitsplatz erhalten werde.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie bringt sinngemäß vor, der Beschluß des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 - (BSG 30, 167) beziehe sich nur auf Versicherte, die nicht mehr vollschichtig tätig sein könnten. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) in SozR Nr. 86 zu § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vom 28. Juli 1970, wonach die Anhaltspunkte in Abschnitt C V 2 a) aa des Beschlusses GS 4/69 auch auf Vollzeitarbeitskräfte anzuwenden seien, treffe hier nicht zu, weil der Kläger nicht zu den Versicherten gehöre, die nur noch qualitäts- oder quantitätsmäßig erheblich eingeschränkte Leistungen erbringen könnten oder einen Arbeitsplatz nur unter Bedingungen ausfüllen könnten, die erheblich von den betriebsüblichen Bedingungen abwichen. Dem Kläger sei zuzumuten, Arbeitsplätze durch Wochenendpendeln oder Wohnortwechsel zu erreichen. Die Annahme des LSG von der wechselseitigen Abhängigkeit vom Standort des Betriebs und Lage der Wohnung könne nicht aufrechterhalten werden. Eine solche Auslegung des § 1246 Abs. 2 RVO sei im Hinblick auf die dargelegten Rechtsprechungsgrundsätze des BSG nicht zulässig. Das LSG verkenne, daß Maßnahmen nach § 1236 Abs. 1, § 1237 Abs. 1 und 3 RVO, wie Hilfe zur Erlangung einer Arbeitsstelle, Darlehen zur Beschaffung eines Kraftfahrzeuges, der Gewährung von Rente vorgingen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er weist darauf hin, daß die Stadt K., wo er wohne, eine Schiffer- und Winzerstadt sei, wo Gewerbebetriebe nicht vorhanden seien.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet; der Entscheidung des LSG ist im Ergebnis zuzustimmen. Seinen Ausführungen zur Zumutbarkeit eines Umzugs und zur wechselseitigen Abhängigkeit von Wohnung und Betriebsstätte kann allerdings in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden; denn solche sich im Kreise bewegenden Überlegungen und Abwägungen würden dazu führen, daß dem Rentenversicherungsträger zum Risiko der gesundheitlichen Behinderung eines Versicherten und des Vorhandenseins geeigneter Arbeitsplätze am Arbeitsmarkt auch noch das Risiko der mehr oder weniger günstigen Lage des Wohnortes oder der Wohnung des Versicherten auferlegt würde. In einem solchen Sinn kann, wie die Beklagte zu Recht ausgeführt hat, § 1246 Abs. 2 RVO nicht ausgelegt werden. Im Ergebnis erweist sich aber das angefochtene Urteil als richtig.
Der Kläger kann nach den Feststellungen des LSG noch ganztägig leichte Arbeiten im Sitzen verrichten. Bei Vollzeitarbeitskräften kann allgemein davon ausgegangen werden, daß es entsprechende Arbeitsplätze in ausreichender Zahl gibt. Eine andere Betrachtung ist aber im Einzelfall dann geboten, wenn dem Versicherten aus gesundheitlichen Gründen die Leistung einer nach Menge und Güte ausreichenden Arbeit oder der Zugang zu den Arbeitsplätzen besonders stark erschwert ist. In diesen Fällen ist dem Versicherten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen (SozR Nr. 86, 89 zu § 1246 RVO). Es kann hier dahinstehen, ob dem Kläger allein schon wegen seiner schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung der Arbeitsmarkt im Hinblick auf die Beschaffenheit der Arbeitsplätze praktisch verschlossen wäre; denn die starke gesundheitliche Behinderung am Aufsuchen einer Betriebsstätte tritt hier in den Vordergrund.
Nach dem Beschluß des Großen Senats muß sich ein Versicherter, der halbschichtig und länger tätig sein kann, regelmäßig auf das Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebietes verweisen lassen. Er kann sich nicht auf ungünstige Arbeitsmarktverhältnisse in seinem Wohnbereich berufen. In solchen Fällen ist im allgemeinen ein Aufsuchen auswärtiger Arbeitsplätze durch Pendeln oder ein Umzug zuzumuten (BSG 21, 257). Es genügt daher nicht, wenn der Kläger meint, sein Wohnort K. sei eine Schiffer- und Winzerstadt ohne Gewerbebetriebe und er finde dort aus diesem Grund keine Arbeit. Indes kann eine besondere gesundheitliche Behinderung am Aufsuchen betrieblicher Arbeitsstätten einen Umzug oder ein Pendeln unzumutbar erscheinen lassen und Berufsunfähigkeit begründen (s. GS 4/69, Abschn. C III). Zur Erwerbsfähigkeit gehört - abgesehen von der Möglichkeit, durch Heimarbeit die gesetzliche Lohnhälfte zu erwerben - auch die Fähigkeit, eine Arbeitsstätte aufzusuchen; denn die Beschäftigung als Arbeitnehmer gegen Entgelt wird im allgemeinen in Betriebsstätten außerhalb der Wohnung des Arbeitnehmers verrichtet. Nach statistischen Erhebungen verlassen über 90% der rund 26 Millionen Erwerbstätigen täglich ihre Wohnung, um zu ihrer Arbeitsstätte zu gelangen (aus "Wirtschaft und Statistik" 1970, 179, 183 unter 5), Pendelwanderung).
Ist die Fähigkeit zum Zurücklegen eines Weges zur Arbeitsstätte durch die gesundheitlichen Verhältnisse des Versicherten eingeschränkt, so ist dies für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit nach § 1246 Abs. 2 RVO dann rechtserheblich, wenn die gesundheitliche Behinderung so stark ist, daß auch bei einem Umzug, etwa in ein industrielles Ballungsgebiet, erfahrungsgemäß keine zu verwirklichende Aussicht besteht, daß der Versicherte einen Arbeitsplatz findet, bei dem er den Weg zwischen Wohnung und Betriebsstätte im Rahmen des ihm gesundheitlich Möglichen zurücklegen kann. Eine solche rechtserhebliche Behinderung ist beim Kläger gegeben, weil er nur 5 Minuten zu Fuß gehen kann. Erfahrungsgemäß erfordert auch in Industriegebieten der Weg zwischen Wohnung und Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels oder zwischen der Endhaltestelle und dem Arbeitsplatz im Betrieb meist mehr als 5 Minuten Gehzeit, vollends für einen im Gehen Behinderten, der Entfernungen ohnehin nur langsamer als nicht gehbehinderte Personen zurücklegen kann. Fehlt es - wie beim Kläger - an dieser Fähigkeit, so besteht im allgemeinen Berufsunfähigkeit, es sei denn, der Versicherte hat einen Arbeitsplatz unter entsprechenden günstigen Wegebedingungen inne oder es wird ihm ein solcher Arbeitsplatz angeboten.
Allerdings ist vor Bejahung von Berufsunfähigkeit noch zu prüfen, ob Heimarbeit möglich ist und in einem Umfang verrichtet werden kann, daß der Versicherte damit die gesetzliche Lohnhälfte verdient. Wird diese Erwerbsmöglichkeit festgestellt, ist unter Umständen auch ein Umzug an einen anderen Wohnort zuzumuten. Aus den Ausführungen im angefochtenen Urteil geht aber hervor, daß das LSG für den Kläger Heimarbeit mit ausreichendem Entgelt aus gesundheitlichen Gründen (Gebrauchsbehinderung der linken Hand) nicht als möglich festgestellt hat.
Der Kläger ist somit wegen seiner Unfähigkeit, einen Weg von mehr als 5 Minuten Dauer zurückzulegen und wegen der Unmöglichkeit, Heimarbeit in ausreichendem Umfange zu verrichten, berufsunfähig. Er ist dies jedenfalls so lange, als nicht etwa durch geeignete Maßnahmen im Sinne der §§ 1236, 1237 RVO eine Änderung in seinen Verhältnissen eintritt. Die Revision der Beklagten ist deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen