Entscheidungsstichwort (Thema)
Teilzeitarbeit. Rechtsprechung für Vollzeitarbeitskräfte nicht anwendbar. BU, EU, verschlossener Arbeitsmarkt
Leitsatz (redaktionell)
Bei einer Raumpflegerin, die zwar diese Tätigkeit nicht mehr verrichten kann, zumutbar ganztägig aber noch auf leichte Frauenarbeiten verweisbar ist, besteht weder Berufs- noch Erwerbsunfähigkeit.
Orientierungssatz
Es verstößt nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des GG Art 3 Abs 1, wenn die Rechtsprechung des Großen Senats des BSG vom 1976-12-10 GS 2/75 zu den Teilzeitarbeitskräften nicht auf solche Versicherte ausgedehnt wird, die noch in der Lage sind, vollschichtig zu arbeiten.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 24.05.1977; Aktenzeichen L 10 J 458/77) |
SG Braunschweig (Entscheidung vom 28.02.1977; Aktenzeichen S 5 J 228/75) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Mai 1977 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) oder wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 RVO zusteht.
Die Klägerin war bis 1974 als Hausgehilfin, Fabrikarbeiterin und Raumpflegerin versicherungspflichtig beschäftigt. Die Beklagte lehnte den im Februar 1975 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 24. Juni 1975 ab, weil die Klägerin noch leichte Arbeiten vollschichtig verrichten könne.
Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat ebenfalls angenommen, die Klägerin sei weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig. Sie könne zwar nicht mehr als Raumpflegerin arbeiten, aber noch ganztägig leichte Frauenarbeiten verrichten. Dafür sei ihr der Arbeitsmarkt nicht verschlossen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bedürfe es bei Vollzeitarbeitskräften keiner ausdrücklichen Feststellung, ob es Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl gibt. Das gelte nur dann nicht, wenn der Zugang zum Arbeitsmarkt wegen atypischer Einschränkungen des Leistungsvermögens stark erschwert sei. Das Leistungsvermögen der Klägerin genüge noch den in der Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit genannten Arbeitsplätzen, die sich dort fänden, wo neben einer Massen- und Serienfertigung Einzelanfertigungen, Reparaturen, Nacharbeiten, Musterarbeiten usw vorzunehmen seien. Bei diesen Tätigkeiten handele es sich um unqualifizierte Frauenarbeiten, die ohne Anlernung oder nach kurzer betrieblicher Einweisung verrichtet werden könnten.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie trägt vor, bei den festgestellten schweren körperlichen Beeinträchtigungen könne sie weder als Raumpflegerin noch sonst auf dem Arbeitsmarkt irgend eine Arbeit verrichten. Darüber hinaus fände sie bei ihrem hohen Alter und ihrem Leiden auch keine Möglichkeit, auf dem Arbeitsmarkt zu arbeiten. Es verstoße gegen Art 3 des Grundgesetzes (GG), wenn für Teilzeitarbeitskräfte, die auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr unterzubringen seien, Rentenansprüche anerkannt würden, während diese Grundsätze auf Vollzeitarbeitskräfte nicht angewendet würden.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen und das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit,
hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit vom 1. August 1975 an zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg.
Das LSG hat mit Recht das die Klage abweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) bestätigt. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit.
Obwohl die Klägerin ihre frühere Tätigkeit als Raumpflegerin nicht mehr verrichten kann, ist sie nicht berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs 2 RVO. Da sie keinen qualifizierten Beruf erlernt oder ausgeübt hat, ist ihr nach der ständigen Rechtsprechung des BSG jede andere - auch ungelernte - Berufstätigkeit nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbar. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist die Klägerin noch in der Lage, näher bezeichnete leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten. An diese Feststellung ist der erkennende Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden, denn die Klägerin hat sie nicht mit einer zulässigen und begründeten Verfahrensrüge angegriffen. Mit ihrem Vortrag, sie könne die genannten Tätigkeiten aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verrichten, hat die Klägerin sich zwar gegen die Tatsachenfeststellung des LSG gewandt. Darin liegt jedoch lediglich eine andere als die vom LSG vorgenommene Beweiswürdigung, nicht aber eine formgerechte Verfahrensrüge. Ist danach von der Fähigkeit der Klägerin auszugehen, die vom LSG näher bezeichneten Tätigkeiten zu verrichten, so ist sie nicht berufsunfähig nach § 1246 RVO und erst recht nicht erwerbsunfähig nach § 1247 RVO.
Das LSG ist auch zutreffend davon ausgegangen, daß der Klägerin der Arbeitsmarkt für die genannten Tätigkeiten nicht verschlossen ist. Der erkennende Senat hat bereits entschieden, daß auf Vollzeittätigkeiten die Rechtsprechung des Großen Senats des BSG zu der Frage, ob der Arbeitsmarkt für Teilzeitarbeitskräfte offen oder verschlossen ist, grundsätzlich nicht angewandt werden kann (vgl SozR 2200 Nr 19 zu § 1246; ebenso Urteil des 4. Senats vom 21. September 1977 - 4 RJ 131/76 -). Ausnahmen könnten allenfalls bei vereinzelt vorkommenden Tätigkeiten oder dann in Betracht kommen, wenn der Versicherte die Vollzeittätigkeiten nicht unter den üblichen Arbeitsbedingungen verrichten oder aus gesundheitlichen Gründen nicht die Arbeitsplätze von seiner Wohnung aus aufsuchen kann. Solche Einschränkungen liegen bei der Klägerin nicht vor. Es verstößt auch nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG, wenn die Rechtsprechung des Großen Senats des BSG zu den Teilzeitarbeitskräften nicht auf solche Versicherte ausgedehnt wird, die noch in der Lage sind, vollschichtig zu arbeiten. Ein wesentlicher Unterschied, der eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigt, liegt insbesondere darin, daß Vollzeitarbeitsplätze in erheblich größerem Umfang auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind, als Teilzeitarbeitsplätze (vgl hierzu BVerfG, Beschluß vom 7. Dezember 1977 - 1 BvR 762/77 -). Ob die Klägerin unter den vorhandenen Arbeitsplätzen einen freien Arbeitsplatz zu finden vermag, ist für die Beurteilung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit ohne Bedeutung.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Klägerin zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen