Orientierungssatz
1. Zur Frage der BU bzw EU einer Versicherten, die keinen qualifizierten Beruf erlernt oder ausgeübt hat.
2. Auf Vollzeittätigkeiten kann die Rechtsprechung des Großen Senats des BSG zu der Frage, ob der Arbeitsmarkt für Teilzeitarbeitskräfte offen oder verschlossen ist, grundsätzlich nicht angewendet werden (vgl BSG 1977-09-21 4 RJ 131/76). Ausnahmen könnten allenfalls bei nur vereinzelt vorkommenden Tätigkeiten oder dann in Betracht kommen, wenn der Versicherte die Vollzeittätigkeiten nicht unter den üblichen Arbeitsbedingungen verrichten oder aus gesundheitlichen Gründen nicht die Arbeitsplätze von seiner Wohnung aus aufsuchen kann.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 15.04.1977; Aktenzeichen L 10 J 404/77) |
SG Aurich (Entscheidung vom 09.12.1976; Aktenzeichen S 1 J 36/76) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. April 1977 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) oder Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 RVO zusteht.
Die Klägerin ist als Telefonistin, Packerin und Hausgehilfin tätig gewesen. Die Beklagte lehnte den im September 1975 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 13. Februar 1976 ab, weil die Klägerin weder berufsunfähig noch erwerbsunfähig sei.
Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, die Klägerin könne noch leichte Arbeiten vollschichtig verrichten. In Betracht kämen Tätigkeiten als Sortiererin, Verwiegerin oder Telefonistin. Da diese von Tarifverträgen erfaßt seien, müsse nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der Arbeitsmarkt als offen betrachtet werden.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie trägt vor, das LSG sei auf ihre Behauptung nicht eingegangen, daß sie wegen ständiger Schmerzen im Rücken und im Bauchbereich nicht in der Lage sei, ein Arbeitsverhältnis einzugehen. Auch das medizinische Gutachten des Dr D lasse darauf schließen, daß die gesundheitlichen Mängel die Ausübung einer Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr zuließen.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil und den Bescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Januar 1976 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen;
hilfsweise,
den Rechtsstreit an einen anderen Senat des Landessozialgerichts zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das LSG hat mit Recht das die Klage abweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) bestätigt. Die Klägerin ist nicht berufsunfähig nach § 1246 RVO und erst recht nicht erwerbsunfähig nach § 1247 RVO.
Da die Klägerin keinen qualifizierten Beruf erlernt oder ausgeübt hat, ist ihr jede andere - auch ungelernte - Berufstätigkeit im Sinne des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbar. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist sie trotz der bestehenden Gesundheitsstörungen noch in der Lage, leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten, zB als Sortiererin, Verwiegerin oder Telefonistin. An diese Feststellung ist der erkennende Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden, denn die Klägerin hat sie nicht mit einer zulässigen und begründeten Verfahrensrüge angegriffen. Mit ihrem Vortrag, sie könne die genannten Tätigkeiten aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verrichten, hat die Klägerin sich zwar gegen die Tatsachenfeststellung des LSG gewandt. Darin liegt jedoch lediglich eine andere als die vom LSG vorgenommene Beweiswürdigung. Selbst wenn man darin die Rüge sehen wollte, das LSG habe den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG verletzt, könnte das die Bindung an die Tatsachenfeststellung nicht beseitigen. Die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts hält sich innerhalb der Grenzen, die den Tatsachengerichten durch Rechtsnormen, Denkgesetze oder Erfahrungssätze gezogen sind. Das LSG hat auch den Vortrag der Klägerin, sie leide unter Schmerzen im Rücken und im Bauchbereich, nicht unberücksichtigt gelassen, sondern ausdrücklich dahin gewürdigt, daß diese Beschwerden die Klägerin an der Verrichtung der genannten Tätigkeiten nicht hindern. Ist danach von der Fähigkeit der Klägerin auszugehen, leichte Arbeiten insbesondere als Sortiererin, Verwiegerin oder Telefonistin in der betriebsüblichen Arbeitszeit zu verrichten, so ist sie weder berufsunfähig noch erwerbsunfähig.
Das LSG hat auch zutreffend angenommen, daß der Klägerin der Arbeitsmarkt für die genannten Tätigkeiten nicht verschlossen ist. Der erkennende Senat hat bereits entschieden, daß auf Vollzeittätigkeiten die Rechtsprechung des Großen Senats des BSG zu der Frage, ob der Arbeitsmarkt für Teilzeitarbeitskräfte offen oder verschlossen ist, grundsätzlich nicht angewendet werden kann (vgl Sozialrecht 2200 Nr 19 zu § 1246; ebenso Urteil des 4. Senats vom 21. September 1977 - 4 RJ 131/76 -). Ausnahmen könnten allenfalls bei nur vereinzelt vorkommenden Tätigkeiten oder dann in Betracht kommen, wenn der Versicherte die Vollzeittätigkeiten nicht unter den üblichen Arbeitsbedingungen verrichten oder aus gesundheitlichen Gründen nicht die Arbeitsplätze von seiner Wohnung aus aufsuchen kann. Solche Einschränkungen liegen bei der Klägerin nicht vor.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Klägerin zurückgewiesen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen